Man muss mit allem rechnen, auch damit, dass ein Mitglied des PEN Dostojewskis Raskolnikow gegen die Gegner der Corona-Maßnahmen auffährt. Warum nicht? Seit den Tagen der sogenannten Euro-Rettung werden hierzulande stets dieselben Verdammungsfloskeln gegen Regierungskritiker aufgefahren, gleichgültig, worum es im Einzelfall geht. Die einzigen, die das nicht stutzig macht, sind die Propagandisten selbst: Ihr Rausch scheint echt zu sein. Da kommt ein Extra-Tequila zur Abwechslung ganz gelegen.

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In Deutschland ist, wie auch sonst in Europa, viel Volk auf den Beinen, das seine verfassungsmäßig verbrieften Freiheiten reklamiert. Und schon sehen einige 89er Graubärte ihr Monopol aufs Volksein in Gefahr. »Leipzig braucht keine Querdenker« schrieb sich ein Nachtwächter der Friedlichen Revolution aufs Facebook, das klingt wie: Unsere Stadt bleibt sauber. Er schrieb es just an dem Tag, an dem ein pseudolinker Mob dort, rabiat wie gewohnt, gegenüber den Verfassungspatrioten sein Recht auf die Straße in Szene setzte.

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Er hätte auch schreiben können: Leipzig grüßt seine Staatsratsvorsitzende. Die Deutschen verlaufen sich in der Zeit wie in einem Irrgarten. Das liegt einerseits an den mit Eifer gepflegten ideologischen Hecken, die eine ungesunde Höhe erreicht haben, andererseits an der Tradition des Hackenzusammenknallens, dass es bis ins ferne Afghanistan zu hören ist, vor allem, seit die Amerikaner sich dort auf dem Rückzug befinden. Man reiche ihnen ein Virus und sie wissen schon, dass zu viel Freiheit ungesund ist.

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›Querdenken‹ war die jahrzehntelange Formel der Westdeutschen gegen das besinnungslose ›Weiter so!‹, das die Nation zweimal in den Abgrund gezogen hatte. Es war die Formel, die Denkgewohnheiten ›aufbrechen‹ helfen sollte, das Denken nach Vorschrift, das sich von Tag zu Tag weiter vom Ziel entfernt, gleichgültig, wieviel Kraft und Ressourcen es an sich bindet. Wenn man so will, war es die handlichste Formel für das, was man ziviles Bewusstsein nennen könnte: das Geltenlassen des Arguments, den Verzicht auf Freund-Feind-Verhärtungen, das Wagnis, den Tunnelblick abzulegen und für alle gangbare Wege zu finden.

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Es verdient festgehalten zu werden, dass das deutsche Parlament an seinem Schwarzen Mittwoch im eigenen Fußvolk, das ihm ein wenig Mut einblasen wollte, nur Störenfriede und Aufrührer zu erkennen wünschte. ›… die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.‹ Das fürchten die Vertreter der kupierten ersten Gewalt, soweit sie, wenn nichts sonst, ihren Marx in petto haben, und sie geben vor, weder Massen noch Anliegen zu erkennen, stattdessen: Verschwörungstheorie. Das heißt, der Angst eine Gasse in den ahnungsgespickten Abgrund des Autoritarismus zu bahnen. ›Hier gibt es nichts zu sehen!‹ lautet der Leib- und Magenspruch der neuen deutschen Politik, er kommt gleich hinter dem ›Nie wieder wegsehen!‹ und ein paar fixe Köpfe haben zwischen beiden eine feste Verbindung hergestellt, so dass sie nach Belieben zwischen beiden hin- und herschalten können.

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Das Komische an den Leuten ist, dass man ihnen alles fünfmal erklären muss, ehe sie, um des lieben Friedens willen, so tun, als hätten sie schon verstanden und seien nur anderer Ansicht, und dann, wenn diese andere Ansicht gefragt ist, stellt sich heraus, dass sie wenig oder gar nicht belastbar ist. Mit dieser Schwierigkeit kämpft Propaganda, seit es sie gibt, doch noch niemals hat sie versucht, das Problem mit einem Stück Stoff vor dem Mund zu beheben. Das wirft die Frage auf, ob man sie zu ihrem Erfolg beglückwünschen soll.

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Ein Land von Sicherheitsleuten, die nichts mehr fürchten als die Freiheit, von der sie behaupten, sie sei in Gefahr, seit sich ihre Verteidiger melden – das war mit Sicherheit nicht die Vision, die der Verfassung dieses Landes zugrunde liegt. Rückblickend muss man sagen: In der alten Bundesrepublik gingen, wann immer sich krisenhafte Entwicklungen zeigten, die richtigen Leute nach vorn. Dieses historische Glück hat sich nach der ›Einheit‹ ins Gegenteil verkehrt. Seit Jahrzehnten lebt das Land von seiner demokratischen Substanz. Man muss nicht die Fragwürdigkeiten der Ökonomie bemühen, um zu erkennen, wohin die Reise geht.