1.

Was in der Abschrift der Luise von Göchhausen als Urfaust daherkommt, eine lose Folge von Szenen, hingewühlt in dieser merkwürdigen Dramensprache, wie sie zwischen 1770 und 1780 in Deutschland von einigen jungen Schriftstellern geschrieben wurde (einer Mixtur aus Vers und Prosa, die man aus Shakespeare und eigentlich aus Wielands gelegentlich nur skizzierender Shakespeare-Übersetzung kannte): das wird, wie nicht ohne Grund gesagt wurde, seine Fortsetzung erst Jahrzehnte später in Büchners Woyzeck finden. Zwischen beiden Stücken liegt das Welttheater des mittleren und späten Goethe: Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil. Von ihm soll hier ausnahmsweise nicht die Rede sein.

Der Urfaust kennt von der Welt nur das Nötigste: Studierzimmer, Studentenkneipe, Straße, Zimmer, Haus und Garten, Brunnen, Dom und Kerker, dazwischen, wie billig, das in der endgültigen Fassung getilgte Kreuz am Wege:

Faust: Was gibt’s Mephisto, hast du Eil?
                 Was schlägst vorm Kreuz die Augen nieder?
Mephistopheles: Ich weiß es wohl, es ist ein Vorurteil,
                 Allein genung, mir ist’s einmal zuwider.

Eine aktuelle Szene, möchte man nach diversen Rechtsstreitigkeiten um Kruzifixe in staatlichen Erziehungsanstalten meinen. Was den Gelehrten nicht anficht, offenbart des Teufels abhängige Natur. Der Diabolos (›Durcheinanderwerfer‹), als der Mephisto in der Gelehrtenszene erscheint, gehorcht dem Vorurteil, in dem der Volksmund ihn situiert. Ein Verhalten, das verständlich erscheint: Wo, wenn nicht dort, lägen die Wurzeln seiner Macht? Fundamentalist, der er ist, fühlt er sich vom Anblick der religiösen Symbole gepeinigt, während der Aufgeklärte in ihrer Betrachtung verharrt.

 

2.

Durch die spätere Tilgung verliert die Szene Nacht. Offen Feld, in der Mephisto und Faust auf Zauberpferden daherbrausen, um Margrete aus dem Kerker zu befreien, ihr Widerlager. Auch in ihr ist Faust derjenige, der hinsieht – Mephistopheles weiß wie meistens Bescheid, zieht es aber vor, sein Wissen in die rhetorische Form des Nichtwissens zu kleiden und so jenen Dialog ›unter Männern‹ aufblitzen zu lassen, in dem für einen Moment die geschäftige Macht der anderen Seite zu Wort kommt, bevor sich im Kerker ihre Ohnmacht offenbart.

Faust: Was weben die dort um den Rabenstein?
Mephistopheles: Weiß nicht, was sie kochen und schaffen.
Faust: Schweben auf und ab. Neigen sich, beugen sich.
Mephistopheles: Eine Hexenzunft!
Faust: Sie streuen und weihen!
Mephistopheles: Vorbei! Vorbei!

Fausts Scheu wird vom Partner energisch zerstreut: Eine Hexenzunft! und: Vorbei, vorbei! Was den Dualismus der Geschlechter angeht, ist der Teufel Realist. Als solcher steht er, darin liegt die Parallele zur Kruzifix-Szene, mit der anderen Seite im Bunde. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn in einer aufgeklärten Welt repräsentiert der Teufel die Ordnung der Dinge wie kein anderer.

 

3.

Auch der Aufklärer ist ein Diabolos, aber ein naiver und darum keineswegs harmloser. Auf dem Weg, auf dem er fortschreitet, stellt sich die Ordnung der Dinge durch Katastrophen wieder her. Diese uns so geläufige Kritik an der Moderne ist auch die älteste: Wenn Casanova Voltaire besucht, um sich mit ihm im Ideenstreit zu messen, dann attestiert er ihm, bei allem Gedankenreichtum, Erfahrungsarmut. Die Realität gehört denen, die in ihr, nicht über sie Bescheid wissen. In dieser Hinsicht ist Faust ein Zwitter – kein einfacher Aufklärer, sondern ein aufgeklärter. Der Primat der Praxis, wie er ihn versteht, hat, jedenfalls im Urfaust, nicht die Menschheit im Blick, sondern die Verwirklichung des werten Selbst. Darin besteht der Teufelspakt, der in dieser Szenenfolge gar nicht explizit vorkommt. Man möchte meinen, gerade weil er nicht vorkommt, ist er in jedem Auftritt, in jedem Wortwechsel und natürlich in der Tragödie der Kindsmörderin gegenwärtig. Fausts (Bühnen-)Welt ist die des Teufelspaktes. Im Grunde genügt der Eingangsmonolog, um sie erstehen zu lassen. Von der späteren Wette findet sich keine Spur: das ist ein Motiv, mit dessen Hilfe Goethe sich im Lauf der Zeit das Theaterstück in ein Instrument zur Deutung jener neuen Welt umschafft, die sich zu seinen Lebzeiten an die Stelle Alteuropas setzt.

 

4.

Wie bekannt, ist Goethe nach der Französischen Revolution ein Anhänger des Ancien Régime geblieben. Auch seine Napoleon-Verehrung hat den Revolutionsverächter nicht umstimmen können. Umso wichtiger wurde für ihn die zweifache Wette anstelle des Paktes und umso wichtiger ist für den heutigen Leser des Urfaust die Einsicht, dass vor dem bedingten Ausgang des faustischen Abenteuers der unbedingte stand: Teufel bleibt Teufel und Mensch Mensch. Keine Dynamik historischer Um- oder Neubesetzungen ändert daran etwas. Margrete wird sterben und kein »Ist gerettet« spricht sie frei. Der Realismus des Teufels regiert das Stück. Was er sieht, ist nicht schön, aber, kein Zweifel, es ist was dran. Der Dialektiker entzieht sich der Dialektik. Es ist der Puppenspiel-Teufel, der das Drama um Faust und Margrete im Raum des Puppenspiels hält. Was immer Goethe zur Zeit der Entstehung dieser Szenen gedacht haben mag – unter der lackierten Oberfläche sind die dramatis personae aus ein und demselben Holz.

Was das bedeutet, ist nicht leicht zu bestimmen. Der einfache Weg ist der, aus den ›Zeugnissen‹, also den überlieferten Berichten aus der Frankfurter und frühen Weimarer Zeit und späteren Äußerungen Goethes wenn schon nicht den ursprünglichen, so doch wenigstens den dem jeweiligen Stand der Ausarbeitung zugrundeliegenden Plan zu erschließen. Wenn es Goethes anfänglichen Absichten entsprach, dass Faust am Ende gewinnt oder zumindest ›gerettet‹ wird - wogegen wenig spricht, da es dem eigentümlichen Zeitinteresse an diesem Stoff entgegenkommt –, dann rückt die Frage nach der ›Natur‹ des Teufelspakts zwangsläufig in den Vordergrund, während er im Text gerade Hintergrund bleibt. Der Teufel subordiniert sich, versteht sich aber in seinen Reden als Freund. Das ist nicht anders im fertiggestellten Faust, auch die Charakterisierung als Hund und abscheuliches Untier, die er sich nach Margretes Festsetzung aus Fausts Mund zuzieht, bleibt in allen Fassungen die gleiche. Es liegt in der Rhetorik des Stücks, dass die kynische – zuzeiten zynische – Zwischenrede, die ebenso zur Ein- wie zur Ausrede taugt, die Handlung voranbringt, ohne dass sie die treibende Instanz wäre. Ohne Mephistopheles geht nichts. Aber er bleibt der Diener der Wünsche des Herrn, der sich durch diese Wünsche und sonst nichts zu seinem Herrn aufschwingt.

Das Verhältnis Faust – Mephistopheles folgt der Mechanik der Wunscherfüllung, die aus dem Märchen bekannt ist und in dem von Karl Kraus bearbeiteten Nestroy-Stück Die beiden Nachtwandler in die Worte mündet: Reißen Sie den armen Menschen aus seiner verzweifelten Lage, jetzt erst müsste ihm seine Armut unerträglich sein. Der Wunsch zuviel, der das Gebäude der Erfüllungen zum Einsturz bringt, ist gerade der, dessen Erfüllung dem Wünschenden unabdingbar erscheint. Das Überflüssigste ist das Notwendige: bei Nestroy der Haarzopfen des Anderen, der herunter muss, bei Goethe, nun, ist es die Unschuld selbst in ihrer überzeugendsten Gestalt, als sinnlich-übersinnliche Verführung. Jung sein und sich verführen lassen – darin liegt die Quintessenz eines Teufelspakts, zu dessen Geltung es keiner Feder und keines Blutstropfens bedarf. Das einzige, dessen es bedarf, ist der faustische Drang, der nach Vervielfachung der eigenen Kräfte ruft. In dieser Hinsicht bleibt die magische Welt, in der sich die Wünsche erfüllen, kaum dass sie ausgesprochen sind, ambivalent. Die scheinbare Stärkung enthält aber eine Schwächung. Sie ist gut genug, um Katastrophen auszulösen, die stärker sind als die Kräfte, die sie ins Spiel bringt, stärker auch als die mentalen Einstellungen, die das Spiel mit dem Feuer in Gang setzen. Man kann darin die Tragödie der modernen Welt sehen, man kann es auch lassen.

 

5.

Wäre Faust das geblieben, was der Urfaust zeigt, so wäre sein Protagonist in die lange Reihe literarischer Figuren eingegangen, die sich überheben und darüber andere ins Verderben stürzen. Was ihn unterschiede, wäre die Erscheinung des alten Mannes, dessen unbändiger Wunsch nach Verjüngung den Götzen Jugend erschafft, der pünktlich von ihm Besitz ergreift. Nicht die ewige Jugend der Götter wäre hier gemeint, sondern das wahnhafte Handeln unter dem Diktat des Als-ob. Der Gedanke Was täte ich, wenn ich jung wäre! ist kein besonders jugendlicher Gedanke und kein besonders redlicher dazu. Alles in allem ist es die Unredlichkeit selbst, die so denkt: Selbsttäuschung und der Wille zur Täuschung sind hier unauflöslich verquickt. In einer alternden Gesellschaft, die sich den Horizont mit Phantombildern immerwährender Jugendlichkeit zustellt, wäre das, immerhin, ein merkwürdiger Text. Merkwürdig genug vielleicht, um eine andere Gedankenreihe in Gang zu setzen: Warum, so könnte man fragen, bleiben die per Strafrechtsreform, Gesinnungswandel, zivilisatorischen Fortschritt aus dem Leben verbannten Tragödien in den Gemütern so ausnahmslos präsent, dass es nur der leichten Berührung durch eine Lektüre bedarf, um ohne weiteres den aristotelischen Reigen aus Empathie, Schrecken und emotionaler Entlastung auszulösen? Das Leben ist ärmlich, das die Dramen nicht kennt, denen es sich verdankt.