Michael hat angerufen, zweimal sogar, das zweite Mal bereits kühler, kürzer angebunden, mehr auf meiner Seite, wenn du verstehst; fremder. Das erste Mal kam ich gerade zur Tür herein, nahm den Hörer zu hastig ab, ein Fehler, den jeder begeht, in diesem Fall lässlich, denn in seiner Aufregung verhaspelte er sich gleich und schien sogar unsicher, ob er mich am Apparat hatte – so schnell geht das, so schnell. Oder auch nicht, die äußere Zeit geht die innere nichts an, manchmal stecken die Aufwände in ein paar Tagen, mag sein Sekunden, man liest dergleichen. Offenbar glaubte er, er könne mich umstimmen, beim zweiten Mal ging es ihm mehr um Verteidigung, aber im Gespräch sprang dann ohnehin alles durcheinander. Ich weiß nicht warum, aber ich wollte ihn ein bisschen auf die Probe stellen, gab mich nachdenklich, war es vielleicht auch, wenngleich anders, als er sich das vorstellte: Denken und Handeln scheinen bei einem Mann in einem solchen Fall eins zu sein. Jedenfalls glaubte er, mich bereden zu können, dabei gab er schon auf, ehe ich mich in Bewegung hätte setzen können – innerlich wie äußerlich. Doch davon war ich weit entfernt, insofern konnte er seine Bemühungen auch lassen. Von seiner Mutter hatte er den Tipp bekommen, ich sei schwanger – sieh an, dachte ich mir –, und ›um keinen Preis‹ wolle er unser Kind im Stich lassen – was ich erst nicht verstand, ich brauchte sogar ziemlich lange, um dahinter zu kommen, was er damit meinte, aber dann, als ich begriffen hatte, musste ich herzhaft lachen: offenbar war er aus der Rolle des Verlassenen in die des Verlassenden geschlüpft, der es sich noch einmal überlegt, weil er nun über die entscheidende Information verfügt, die ihm vorher fehlte. Mein Lachen hatte zur Folge, dass er, wütend geworden, etwas sagte, was er früher niemals niemals über die Lippen gebracht hätte. Es brach aber ganz geläufig aus ihm heraus. Ich stutzte ein wenig und sagte dann ohne rechte Überlegung, er sei ein dreckiger Idiot und solle sich zum Teufel scheren, womit das Gespräch endlich auch äußerlich dort angekommen war, wo es sich ›in der Sache‹ bereits bewegte. Das Ordinäre ist der Stempel, den die Vergangenheit der Gegenwart ins Gesicht drückt, wenn man ihr Zugang gewährt. Ich habe seither oft darüber nachgedacht und bin immer wieder an diesem Punkt hängen geblieben: der Ritt über den Bodensee, den man Beziehung nennt, endet nicht am rettenden Ufer, sondern zwischen brechenden Eisplatten, jeder Schritt eine Katastrophe, wer weiß, was einen am Ende birgt.

Wie es so geht, brachte einer dieser Tage Post von Peter. Er hatte sich, wie er schrieb, von seinem Partner getrennt (sieh an, dachte ich) und ein neues Geschäft begonnen, über das er sich aber nicht weiter ausließ. Stattdessen berichtete er mit verhaltenem Stolz, dass er neuerdings wieder viel lese und ihm dabei aufgegangen sei, wie viel uns nach wie vor miteinander verbinde – er schrieb wirklich ›nach wie vor‹, ich versuchte mir das bildlich vorzustellen, verhedderte mich aber in all den Wegen, die von Nach bis Vor und wieder zurück, dann aber doch mehr vor nach oder hinter nach vor durcheinander liegen, ein Labyrinth, aus dem kein Entkommen möglich schien und das mit einem Schritt durchmessen und abgetan war. Dieser Schritt bestand darin, dass ich den Brief zerriss und die Schnipsel hinter dem Haus auf der ausgestreckten Hand dem Wind überließ, der sie kreiselnd aufnahm und dann in einem Anfall von manischem Hochgefühl verschlang, so dass ich von einem Moment zum anderen nicht wusste, wo sie hingekommen waren. Nein, dachte ich, so entkommst du mir nicht, drehte mich auf dem Absatz um und ging ins Haus zurück.

Der Osten! Wir haben uns ihm genähert wie einer Frau – seltsam, dachte ich, wie einfach sich so ein Gedanke denkt, ein Schema, überaus leicht verfügbar –, mit einem Blumenstrauß in der Hand und einem törichten Grinsen im Gesicht, wir wussten zwar nicht genau, warum er uns lieben sollte, aber wir waren davon überzeugt, dass er es täte und inspizierten schon einmal die Landschaften, die über kurz oder lang in unsere Hände... fallen..., sagte ich ›fallen‹? Hallo Wände, rührt euch. Sagte ich ›fallen‹? Ein Lapsus, linguae. Aber irgendwie entspricht es ja doch der Wahrheit, nur dass gelegentlich das, was fällt, ein Eigengewicht entfaltet, das den Fänger gelegentlich mit in die Tiefe reißt, falls es ihn nicht einfach erschlägt.

Peter hat keine Eltern. Er ist der Zögling eines Systems, das hundertarmig die Hände nach ihm ausstreckte: Frauen- und Männerhände, zart und grob, liebevoll, bärbeißig und verhalten, ein Ungeheuer mit menschlichen Zügen, auch unmenschlichen, aber die waren nicht für ihn bestimmt, die blieben abstrakt, und der da heranwuchs, war kein Herkules, auch kein Perseus, ein Jüngelchen erst, dann ein Foto im Poesiealbum, schließlich ein Macho, ein ausrangierter Macho mit Flecken von ausgedrückten Pickeln in seiner Unterwäsche, dem die Verhältnisse über den Kopf fuhren und Floskeln hinterließen, Floskeln, ja Floskeln, durcheinanderwirbelnd wie die Schneeflocken bei meiner Ankunft in Berlin und doch immer wieder dieselben Figuren bildend, wie Ketten von Molekülen, wie die Buchstaben eines Textes, die in jedem Wort ewig neue und ewig gleiche Verbindungen eingehen. Ich weiß, nichts währt ewig, ich nicht, die ich dies schreibe, Peter nicht und die Buchstaben nicht, die Wörter nicht und nicht die Gedanken, der Planet und das Universum samt seinen patenten Molekülen – von dieser Art Ewigkeit rede ich nicht. Wovon ich rede, das ist das Ungeduld schürende Wesen, das Männer zu Männern und diese zu Männern und Frauen zu Frauen und Frauen et cetera et vice versa formt und die damit unlösbar verbundenen, entsetzlich unterbelichteten Spiele zur Aufführung bringt, als wäre das Leben eine Jahrmarktbude, wo jeder, der sich nicht lumpen lassen will, vom Partner sich ein verbogenes Schießeisen in die Hand drücken lässt und die verblüffende Kaltblütigkeit der Inhaberin ignoriert, die kaum einen Schritt zur Seite weicht, obwohl sie den irren Blick des Abdrückenden sieht und die zielverfehlende Tücke dessen kennt, was er für eine Waffe hält.

Ich schreibe das nicht aus Überdruss – eher aus Unterdruss, wenn es so etwas gibt, nicht, weil mich die Immergleichheit des Immergleichen stört, sondern weil da die begleitende Empfindung sich einmischt, dass das Gleiche nicht das Gleiche ist, dass es die Differenz braucht, um sich zu inszenieren, und dass es diese Differenz nicht beherrscht. Was ich in meinem vielleicht noch nicht allzu fortgeschrittenen Leben erfahren habe, ist, dass alle Einzelne sind, aber kopflose Einzelne, wie jenes Huhn, das ich in meiner Kindheit in einer letzten reflexhaften Anstrengung über das Hausdach fliegen sah, nachdem ihm mein Vater mit einem Axthieb den Kopf abgetrennt hatte. Solchen Hühner bin ich in meinem Leben begegnet, nicht hin und wieder, sondern wieder und wieder, sie füllen das Tableau, während ich schreibe, ich nehme an, ich gehöre auch dazu, obwohl ich eher das Gefühl habe, der liegengebliebene Kopf zu sein, der denkt und denkt, während der Rest von mir auf und davon ist, auf und davon, und wahrscheinlich in der Regenrinne auf der anderen Seite des Daches klemmt. Kein schönes Gefühl, das nicht, aber ein Rest Gefühl: Wenn nicht das Gleiche das Wesentliche ist, sondern die Differenz, und wenn in der Differenz das Verfehlen liegt, nun, dann nimmt man entweder ein Schlafmittel oder man betäubt sich mit Klatschmohn oder man beginnt mit der nächste Fortbildung oder – man bekommt eine Kolumne. Zählt eigentlich jemand mit, wie viele Frauen heute von den Arbeitsämtern von Fortbildung zu Fortbildung geschickt werden, fort, nur fort, hartnäckige Bewohnerinnen von Vor- und Wartezimmern, glücklich, ›etwas tun‹ zu dürfen, abgerichtet zur Idiotie des nicht Aufgeben-Dürfens, die Perspektive im wohlsortierten Schmink-Necessaire: es geht ihnen wie vorher dem Sozialismus, sie sind schon gescheitert, doch die Parole, sie weist den Weg, sie hält durch. Wenn also die Differenz das Wesentliche ist und der Trend allein Gewalt hat, zu binden und zu lösen, dann ist der Trend, er allein, verantwortlich für das, was nicht eintritt, obwohl es jederzeit eintreten müsste und wirklich eintritt, aber in einer durchgestrichenen, in einer zum Scheitern vorherbestimmten Gestalt.

Das klingt, du verzeihst, etwas hochgestochen, vielleicht klappert es auch, aber ich finde meinen Gedankengang schlüssig. Ich bin sogar ein wenig erregt, denn ich glaube, etwas herausgefunden zu haben, ich weiß nur noch nicht, wie es sich auseinanderlegt, ich sehe die Teile nicht, aber das Ganze: das immer Gleiche in diesen Spielen – wir empfinden es, mal stärker, mal schwächer, aber wir empfinden es – bleibt ungreifbar, jedenfalls reagiere ich mit resignativ gestufter Empörung, wenn eine dieser teuren Wissenschaftstussis, die das Billige so sehr lieben, zum xten Mal einer offenbar unentwegt mauloffenen Öffentlichkeit erklärt, warum Männer auf Busen starren und Frauen auf den Charakter und wie das alles mit der Fortpflanzungsfunktion zusammenhängt. Es bleibt ungreifbar, das ist der Preis, den wir für die Trennung von Sex und Fortpflanzung zahlen. Wir haben keine Wahl, wir müssen ihn zahlen, es ist unser Tribut an die Art von Person-Sein, die wir ›Leben‹ nennen. Unter den Müttern in meinem Berliner Kindergarten gab es einige, die die Trennung zurückgenommen hatten, man merkte es ihnen an, bevor sie den Mund aufmachten, ich musste schlucken, wenn ich sie sah. Sie waren verschwunden, einfach verschwunden in der Mutter-Funktion, mag sein, sie tauchten nach Jahren einmal wieder auf, aber dann lag das Leben hinter ihnen. Was blieb, war das Bereden des anderen Zustandes, die auf Dauer gestellte Zugabe zu den Kindheiten, die aus ihrem Bauch gekrochen waren, die Sorge, mit der sie die längst erwachsen Gewordenen traktierten. Leben war das nicht, auch keine Flucht, mehr ein Schwellendasein, vom An- und Abschwellen des eigenen Körpers intoniert. Aber wenn wir trennen, dann bleibt dieses unbestimmte Frau-Sein, das sich gegen den plötzlich als ›männlich‹ empfundenen Sex auflehnt – gegen die Abhängigkeit, die aus ihm hervorkriecht, eine Abhängigkeit ohne Sinn und Halt, da ja der biologische ›Sinn‹ durchgestrichen ist und nicht zur Verfügung steht, außer man richtet gerade das Häuschen ein und keine Schwiegermutter hält die Krallen in ihr Bübchen versenkt... was nicht viel bedeutet, nicht sehr viel, wie das Leben der Beglückten allenthalben lehrt.

An dieser Stelle sind wir verwundbar, jede, einzeln, und hier beginnen die verlogenen Gender-Ideologien ihren Flug: die Reise durch eine lange Nacht, immer mit der Angst im Nacken vor der Ankunft in einem patentierten Nirgendwo, ein Irrflug, erzwungen von einer Bande maskierter Hijacker, die wissen, dass sie am Drücker sind, solange diese Aktion dauert. Und sie dauert. Die Töchter des Feminismus sind seine Mütter. Aber der Feminismus ist zu vielgestaltig, als dass man ihn diesem grotesken Gerede einfach überlassen dürfte, er hat, wo er wirklich auftritt, mit Tapferkeit zu tun, mit einer Hochachtung vor dem eigenen Geschlecht, die Frauen so gern einfordern, ohne sie zu besitzen, mit dem Mut zur Einsamkeit, denn er befremdet Männer und Frauen gleichermaßen, nein, nicht gleichermaßen, er befremdet Frauen stärker als Männer, so habe ich es erfahren. Sobald dieses Töchter-Mütter-Gerede einsetzt, weiß ich, die Weberinnen des Weiblichen haben das Boot geentert und der Feminismus geht von Bord, er ist schon gegangen, es beginnt das Gerede über die Geschlechterschranke, ein Summen und Schwirren und Verständigtsein, ein Vornehmtun mit unsichtbaren Geschlechtsteilen, das unmittelbar die Frage nach den Kosten aufwirft und danach, wer sie trägt. Es sind aber alles Unkosten, ungenannt und scheinbar auf alle umgelegt, was nicht stimmen kann, denn nichts trennt so zuverlässig wie das persönliche Unglück und wer in ihm das Glück der Unterstützung durchs Kollektiv erfährt, der ist entweder keine Person oder das, was er für Unglück hielt, war das verkappte Glück, mitrennen zu dürfen. Mitrennen zu dürfen – darauf läuft es am Ende hinaus.

Ich habe keine Mutter, seltsames Los inmitten von PseudoMüttern und Pseudotöchtern. Gestern sah ich eine im Park – es schneit schon wieder, der Ring schließt sich –, ein schlaksiger Hund zerrte vor Ungeduld an der Leine, ein alter, wahrscheinlich das Muttertier, trottete versetzt hinterdrein, die Menschenfrau zwischendrin, verteilte die Rollen, das lag ihr. »Geh da lang«, rief sie dem jungen zu, der vorauslief, »nicht aufs Eis, sonst rutscht Mutti aus« - sie sagte das allen Ernstes, eine junge Frau, Anfang Zwanzig, sie lächelte nicht dabei und machte kein komisches Gesicht, sie war im Dienst. Eine Tochter des Feminismus, sans doubt. ›La femina integrale‹, was ist das, die ganze Frau? Die Frau ganz? Die Frau, die nicht aufhören kann? Michaels Mutter, von keiner Macht gebremst, es sei denn, man nimmt das Sich-Entziehen dafür? Aber wer entzieht sich? Ich habe mich entzogen, ich habe mein schlichtes Glück nicht angetreten, sie hat zwar keine älteren Rechte, aber sie übt sie aus, souverän bis an die Grenzen ihres Weltalls, sie hetzt ihre Hunde auf alles, was sich im Umkreis des Sohnes bewegt, sie will nicht, dass er aufs Eis geht, weil Mutti sonst ausrutscht, das wäre furchtbar.

Also noch einmal. Ich hatte ein Kind, eine Tochter vielleicht, aber man hat sie mir genommen. Unsinn, so ein Kind gab es nicht, hat es nie gegeben. Aber was heißt ›so ein‹ –? Ich hatte ein Kind, denn ich habe es jemandem angetragen, nicht nur einem Mann, sondern zweien: ein bisschen viel vielleicht, aber so sehe ich klarer. Was ich erfahren habe, ist einfach: weder mit dem einen noch mit dem anderen hätte ich ein Kind haben können. Seltsamer: ich hätte keins haben dürfen – was sich ›Beziehung‹ nannte, verflüchtigte sich, sobald man es von dieser Seite her ansah, und mit dem Ansehen allein, befürchte ich, wäre es nicht getan gewesen. So war es vielleicht besser, dass sich am Ende auch das Kind verflüchtigte – mein Kind, meine Tochter, warum komme ich gerade auf diesen Einfall immer wieder zurück? Aber vorher hatten sich die Beziehungen verflüchtigt – entwirklicht angesichts der Unmöglichkeit der Wahl, die zu treffen scheinbar so leicht fiel, sogar zwingend, angesichts der Person, angesichts der Situation, der Umstände, der Vor- und Hintergedanken, angesichts dessen, was vorausgegangen war und was bevorstand.

Ich hatte nicht leichtfertig gehandelt, wie ich mir bequemerweise vorwerfen könnte. Es lag auch nicht an den Männern. Mit jedem von ihnen hätte ich leben können, auch wenn der Gedanke, so schutzlos geäußert, verschreckt. Bei Licht besehen, lag es an gar nichts, außer an dieser Schwangerschaft, die ich so nicht geplant hatte. Keiner von uns, da bin ich sicher, hätte sie ›so‹ geplant, auch nicht anders, ganz sicher bin ich da. Es war geschehen und ich musste mich dazu verhalten. Also verhielt ich mich indifferent, lebte indifferent, verlegte das, was mit mir vorging, ins Wissen um das, was geschehen würde, und dachte darüber nach, wie die Beziehung, in der ich lebte, es aufnehmen würde. Vielleicht liegt darin das Wesen einer Beziehung, dass man über sie nachdenkt, im Glauben, dass man sie dadurch positiv gestaltet. Mein Nachdenken drehte sich um den einen Punkt: Was wird passieren, wenn ich die drei Worte ›Ich bin schwanger‹ ausspreche, und was, wenn dieses Kind einmal ›da‹ sein wird, wie man das nennt, da und dort, einfach überall? Was heißt, von dem einen wie von dem anderen Zeitpunkt an – ich sage nicht ›noch‹, denn das enthielte bereits ein Urteil, eines nach der Art derer, bei denen das Denunzieren vor dem Leben kommt –, Beziehung? Dass ich es nicht über mich brachte, die drei Wörter auszusprechen – bei dem einen nicht und bei dem anderen auch nicht –, darin bestand mein Urteil und auch darüber muss ich nachdenken, heute, morgen, wie lange es auch dauert, denn ich habe Zeit. Solange das nicht geklärt ist, habe ich Zeit.

Peter? Ich habe Peter nicht verlassen, weil er ein Verhältnis mit einer Nachbarin anfing, was mich anekelte, gewiss, aber wie viele ekelt es an, was der andere treibt, und sie bleiben trotzdem. Auch das liegt in der Beziehung, es macht sie ein Stück weit aus, es macht sie zu ›etwas Festem‹. Was darin fest liegt, außer den Ritualen des Alltags – einem robusten Chitin-Panzer, der die Eingeweide schützt und über die Abwesenheit einer Wirbelsäule hinwegtäuscht –, ist nicht die Person des anderen, denn die liegt, wie ich sehen konnte, hauptsächlich außerhalb, nur deswegen sieht man sie doch. Es sind Verbindungen aus Gefühlen, Gedanken, Tun, Erinnerungen, nicht ausgeführten Handlungsimpulsen, die sich im Umgang mit dieser Person ergeben und verfestigen und die eher selten aktiviert werden – sie sind aber vorhanden, sie wachsen und mehren sich im Schatten der Aufmerksamkeit und treten zutage im Schmerz, den es bereitet, wenn eine von ihnen aufgetrennt oder neu gruppiert werden muss, denn dann leidet das ganze Geflecht, so dass man von einer Beschwerde zur anderen fortgerissen wird, bis nichts mehr stimmt. Bis nichts mehr stimmt außer der Klage, leer, ungerecht, verletzend und ›unproduktiv‹, vor allem letzteres angesichts der Allerweltsmaßstäbe, die eines an seine Beziehungen anlegt, was auch nicht stimmt, denn es sind die Beziehungen – die Maßstäbe sind die Beziehungen, es ernüchtert, es so zu sehen, aber sie sind es wirklich. Beziehungen sind produktiv oder man muss sich entscheiden, ob es lohnt, sie zu sanieren, ›noch einmal‹ in sie zu investieren, die Kreditgeber sehen dir streng auf die Finger, du wärest besser beraten, ihnen nichts vorzuflunkern und die Bilanz zu fälschen. Aufhübschen, das geht, so machen’s alle, aber es gibt eine Grenze, jenseits derer du dich vergehst. Nichts da. Für so eine Beziehung war Peter nicht reif, sein Staat hatte ihn verwöhnt, er brauchte Zufuhr, für das, was danach geschah, hatte er kein Konzept. Wie soll man da investieren?

Ich hatte es gut, ich wollte nicht investieren. Das war schlecht, denn er suchte einen Investor. Er suchte die Westfrau, die ich nicht war, die ich war, die ich nicht abschütteln, die ich nicht sein konnte. Seine marode Firma brauchte die eiserne Hand, aber unsichtbar, gut verborgen in der liberalen Hülle, die er als Promiskuität buchstabierte, gelernt ist gelernt. Unter investiven Gesichtspunkten konnte man seine Gefühle zum Fenster hinausschütten, es kam auf dasselbe heraus. Seine und meine. Und wer spricht von Gefühlen. Die Zeit lief mir davon. Es war, einfach betrachtet, in Ordnung, dass Peter und ich wieder zusammengefunden hatten, nachdem der Weg einmal frei und das, was uns trennte, verschwunden war. Dass ich ihn im Westen nicht vermisst hatte, hätte mir merkwürdig vorkommen sollen, aber daran wollte ich nicht rühren. Woran ich rühren konnte und musste, war, dass er bei alledem unberührt blieb – in der Beziehung, von der Beziehung, ja, so muss ich es sagen. Er ließ sie sich gefallen, als wäre er in einen Vergnügungspark geraten. Einer der undurchschaubaren Glücksfälle des Lebens, auf die ein Mann wie er einen verbrieften Anspruch besitzt, hatte ihm das Ticket zugespielt, ein Extra-Ticket, nachdem die Kasse schon geschlossen hatte: ›Na dann wollen wir doch mal!‹ Und so wollte er dann.

Eine seitenverkehrte Beziehung, ich hätte ihn aushalten sollen mit meinen West-Millionen, jedenfalls verwöhnen für all die erlittene Unbill, als die er inzwischen sein bisheriges Leben empfand. Damit folgte er einem Trend, dem ich nichts zu bieten und nichts entgegen zu setzen hatte. Ich hätte Peter wie eine Geliebte halten und wie den kleinen Bruder frei lassen sollen, etwas viel verlangt, wenn ich es bedenke, etwas viel. Bei der Gelegenheit fiel mir sein Partner ein, der Mann mit dem ›Schutzraum‹. Peter brauchte so etwas nicht, bei ihm ging das viel direkter, er stürmte davon und fand sich wieder ein, der Gedanke an einen kleinen Bruder war nicht so abwegig, aber in welcher Beziehung? In meiner wohl, aber was war daran meins? Und davon abgesehen: man hat mit dem kleinen Bruder kein Kind, ich nicht, mit dem großen auch nicht, damit wäre ich bei Michael. Aber nicht ganz: auch Peter besaß diese weibliche Fähigkeit, sich in der Beziehung aus ihr zu lösen, bei mehr als einer Gelegenheit fühlte ich diese Panik in mir aufsteigen und wunderte mich über mich selbst: war das nicht ein selbstverständliches Recht, das er da für sich in Anspruch nahm? Warum dann Panik? Aus welchem Winkel meiner Weiblichkeit zuckte diese Regung? Ich erregte mich, zog ein ›Er‹ aus anonymen Zonen ans Licht, das ich dort niemals vermutet hätte, ein Er, auf das ich mit stummen Sätzen einzuprügeln begann wie ein Fischweib, und manchmal blieben die Sätze nicht stumm, überhaupt nicht stumm.

Du bist wahnsinnig, Peter, wenn du so weiter machst, kommt der Gerichtsvollzieher und dann ist es aus, aber das schreckt dich nicht, denn dann ziehst du in den Westen und lebst in Saus und Braus wie die anderen, du machst es nur jetzt noch nicht, weil du deinen Stolz hast und die verachtest, die wegziehen, den Pöbel, wie ihn dein Lieblingsschriftsteller nennt, Alt-Heimkehrer aus einem Niemandsland, in dem sich die Menschen spontan organisieren und ohne weiteres das Paradies ›herbeiführen‹ – nur woher dann der Hass auf den Pöbel? Das habe ich nie verstanden. Ich sage dir: er ist ein alter Mann, der die Welt nicht mehr versteht und bald abtreten wird, die Welt amüsiert sich und fabriziert Abziehbildchen von ihm, er ist unser sozialistischer Einstein, der allen die Zunge herausstreckt, aber seine Relativitätstheorie, die kennen wir längst, die hat uns schon in der Kindheit begleitet, und wenn ich nicht aufpasse, kommt das, was sich als mein weibliches Wesen anstellt, auf dasselbe heraus. ›Stell dich nicht an!‹ - und du stellst dich nicht an, natürlich nicht, während du dich anstellst und Umstände machst, um nicht unter zu gehen und den Kopf oben zu halten, wie es im Liede heißt. Aber ein Kopf, in dem die Gedanken flaumig zergehen, ist ein seltsam archaischer Teil, ein Stumpf, unblutig, aber ein Stumpf, gut für Phantomschmerzen und allerlei namenlose Zustände, über die ein Arzt milde lächelnd hinwegsieht. Ich zum Beispiel, mit meinem Phantomkind, hätte gut in das Land gepasst, das sich anschickt, von den Landkarten zu verschwinden, auch das ein Gedanke, der schwindeln macht. Ich will aber nicht schwindlig durchs Leben gehen, ich will leben, ich finde diesen sehr weiblichen Schrei schamlos und komme nicht von ihm los. Wirklich, hier endet jede Scham – nicht wahr, Christa, es wird wirklich: ich kenne deine Zustände, diese ewigen Zustände, nur dein Hochmut, dein durch nichts gedeckter Hochmut, der kommt mir, ehrlich gesagt, dumpf vor, ein Maulwurfs-Hochmut, mit dem Boden, auf dem unsereins herumläuft, als festem Deckel über dem Kopf. Ich kann nicht in der Erde leben, ich lebe auf ihr, deine Seiten entfallen mir, eine nach der anderen, da lässt sich nichts machen. Und doch hast du mich ›gemacht‹: an den Haaren hineingezogen in deine Art zu denken, als ich in den Westen schlüpfte, was, alles in allem, nicht so lange her ist und doch, wie mir scheint, ein Menschenalter: in der Nussschale, in der Nussschale.

Ich liebe meine Tochter, das ist der Punkt. Ich weiß nicht genau, wer sie mir entzogen hat, aber ich werde es herausfinden. Vielleicht war ich nicht schwanger, aber ich hätte es sein können. Das genügt. Es genügt, um herauszufinden, mit wem es sich leben lässt. Der schwule Dostojewski-Sohn wusste mehr davon als meine Bekannten, die an ihren Beziehungen herumbasteln, als befänden sie sich in einem Strickwettbewerb. Wahrlich, ich sage dir: Christa, die Frau am Kreuz, ihr stellvertretendes Leiden, es muss aufgebrochen werden, wie man ein Idol aufbricht, um zu demonstrieren, dass nichts drin ist außer dem Staub von vermoderten Knochen. Auch ich habe die Bilder erstickter und verbrannter Frauen gesehen, sie haben meine Seele geschwärzt, es ist ein gefährlicher Irrglaube zu sagen, sie hätten nichts damit zu tun gehabt und ihre Seele sei rein wie am ersten Tag. Sie haben mitgehetzt vom ersten Tag an, ich selbst, das Kind der Siebziger, habe ihre Reden mit anhören müssen, abends, im Dunkeln, halblaut, oder tagsüber, beiseite, eine Frau findet immer Gelegenheit, zu sagen, was sie denkt oder was ihr gerade durchs Gehirn schießt. Man darf sich Eva nicht stumm vorstellen. Von Anfang an dabei: das ist doch was, liebe Schwestern, wars nicht das, was ihr immer wolltet? Habe ich da etwas missverstanden? Christa ist ein Idol. Christa den Frauen, den Herren die Schiffer. Fort damit. Das schafft Platz auf meinem Fußboden.

Auf diesem Fußboden liegt noch so manches, das ich einmal aufräumen sollte, doch darum geht es im Moment nicht. Im Moment geht es um... Ich stocke, suche das Wort, es fällt mir nicht ein. Es fällt mir nicht ein. Also: die Suche geht weiter. Welche Suche? Ich sollte Briefe schreiben, das würde manches in einem anderen Licht erscheinen lassen. In einem anderen Licht. Warum auch nicht? ›Deine Angelika‹. Ich habe meinen Namen nie gemocht, das hat etwas zu bedeuten. Nur was? Ein Dutzendname, hausbacken schon damals, als man mich damit ausstattete fürs Leben, ausgesprochen hausbacken angesichts all der aufregenden Brittas und Tanjas und Marjoschkas: Warum Angelika? ›Ein Engel war ich nie‹ - stammt das von meiner Mutter? Sollte ich etwas korrigieren? Wenn ja, was? Aber ich kenne meine Mutter nicht. Man kann nur korrigieren, was man kennt. Diese riesigen leeren Augen geben es nicht her. Geben nichts her. Meine Mutter ist eine Leiche, mein Leben gibt sie nicht her. Bin ich ihr jemals begegnet? Ich müsste es wissen, aber ich weiß es nicht. Meine Mutter ist ein Sprengsatz, der in meinem frühen Dasein explodierte und mich in etwas hineinschleuderte, das vielleicht das Vakuum ist, anders wäre es gar nicht vorstellbar, dass ich noch immer... noch immer... Dieses Misstrauen gegen mein Geschlecht, woraus bezieht es seine Kraft? Immer habe ich bei den Männern etwas gesucht, was mein Geschlecht mir verweigert. Es ist nicht die Anerkennung. So brav bin ich nie gewesen. Es ist der ruhende Blick. Der Blick, der sagt, du bist eine von uns und das ist gut so. Sie starren mich an, mit offenen Augen, oder ihr Blick huscht an mir vorbei, ist schon auf der Treppe, obwohl sich die Tür für sie erst nach mir öffnete, oder sie mustern mich von der Seite, abschätzig, das versteht sich fast von selbst. Vielleicht suche ich bei den Männern, was ich bei ihnen nicht finden kann? Nicht, weil sie es nicht besitzen, sondern weil sie, egal, ob sie es besitzen oder nicht, nicht gemeint sind? Weil ich bei ihnen suche, um nicht zu finden? Gibt es so etwas? Und wenn ja, warum macht man es?

Ich kam nach Berlin, es war meine Mutterstadt. Es gab da einen Mann, sie gab ihn mir zurück. Kein Wieder, ein Zurück. Darin lag die Volte. Die, auf die ich stieß, wollten nicht zurück, sie wollten wieder. Das war nicht erlaubt, die dreimal übermalten Schilder geben den Grundtext nicht frei. Berlin ist heute vielleicht der jämmerlichste Vergnügungspark der Welt. Die ihn bevölkern, sie fürchten sich vor dem Grundtext, weil er sich ›unauslöschlich‹ mit dem Schrecken verbunden hat, so wie mein Bild der Mutter nicht über die leeren Augen und den ausgehungerten Körper in einem Krankenhausnachthemd hinausgeht. Aber das Unbenannte, in das sie hinausschwirren, trägt einen Namen. Es heißt ›Exodus‹ und führt in die Wüste. Dreißig Jahre sind eine lange Zeit, sie werden sich wundern, denn die Zeit läuft ihnen davon. Wunderliches Zusammentreffen. Wie das ausgeht? Keine Ahnung, dazu sind wir zu global. Oder zu wenig.

Meine Tochter, meine einzige Tochter. Ich werde keine andere haben, das weiß ich. Wir sind im Krieg. Er verläuft zwischen den Geschlechtern, das ist ein Fortschritt. Ein regionaler Konflikt gerät in den Fokus der Mächte. Technologisch avanciert. Schwäche bedeutet Macht. Die Amerikaner, liest man, sind schon ein Stück weiter, sie können wieder Krieg gegen Schwächere. Die Frauen sind es zufrieden: diesmal sind sie dabei. Aber ewig über den Atlantik starren verdirbt die Wahrnehmung. Wir sind nicht schlecht, alles in allem, denn wir haben das Kind als Waffe. Eine Selbstmordwaffe, gewiss. Keine Sorge, wir setzen sie ein. Wir schreiben auch darüber, aber das endet nichts. Der Kampf geht weiter. Der Krieg der Generationen hat letztlich nicht viel gebracht, aber wir haben das Kind. Während ›der Russe‹, der ›Engländer‹, ›das Kapital‹ in den Gehirnen der Weltkriegsgenerationen vermodern – dazwischen, nicht zu vergessen, ›der Jude‹ –, bläht sich ›das Kind‹ wie ein Brahmsegel über dem Land ohne Kinder: in hoc signo vinces. Eine Frau hat nicht ein Kind, sie hat das Kind. Ich habe keines, umso lebhafter kann ich es denken. Oder es denkt mich, der Wahn hat mich erfasst und lässt mich nichts anderes denken. Die Welt sub specie des Kindes, das ich nicht habe. Dass ich keins habe, weiß ich, weil man es mir gesagt hat. Das lässt tief blicken, tiefer als das Gefühl es erlaubt. Das ist nichts Besonderes, denn das Gefühl geht nicht sehr tief. Es gibt Schichten, in denen es stockt. Man müsste für Abflüsse sorgen, Sickerzonen, das bekäme ihm gut, doch niemand ist dafür zuständig. So bleibt alles, wie es ist. Man müsste den Frauen die Kinder wegnehmen, damit sie wieder zu fühlen beginnen; die eingebildeten und die wirklichen: vor allem die letzteren. Ich lasse mich nicht bestehlen. Meine Tochter gehört mir. Sie wird vielleicht nie das Licht der Welt erblicken, aber sie gehört mir. Die Welt kann mir gestohlen bleiben, ohnehin liegt sie mir zu Füßen. Ich werde nicht aufhören, auf ihr herumzutrampeln, bis ans Ende meiner Tage. Das versteht sich von selbst, darüber braucht man nicht reden. Niemand sollte darüber reden, denn es verdirbt das Gespräch. Gespräche liegen mir, so war ich schon immer. Ich bin neugierig, das ist mein Glück. Kein großes Glück, eher ein Faustpfand. Wofür? Ich öffne die Hand, aber es fliegt nicht davon. Es bleibt. Ich bleibe.

Es ist kalt. Ich lüfte; die Nachtluft wälzt sich herein, ein körniger Brei, besetzt Sessel und Stühle. Über dem Tisch würde ich sie gern entfernen, dem Kaffee bekommt sie nicht, da, gerade da, hält sie sich auf. Den Kaffee nähme ich am liebsten mit ins Bett, aber da kann ich nicht schreiben. In dieser Nacht ist jemand gestorben, ich vergesse die Namen, ein naher Verwandter von mir. Manchmal glaube ich, er stirbt jede Nacht, ich schließe das aus der Unruhe, in der ich aufwache. Die Wackersteine im Bauch, die ewigen Toten. Wer schneidet mich auf, wer tut mir das an? Der Brunnen ist tief, ich muss elend verenden. Das wüsste ich, daran ist gar nicht zu denken. Ich sehe an mir herunter, mein Bauch ist glatt. Glatt ist auch meine Stirn, ich kräusle sie manchmal, nur zum Anschaun. Was, wenn das ein Gedanke... und noch einer! Ein dritter! Und was für Gedanken. Kapitale Hechte im Gedankenteich. Ich lasse sie los und sie gleiten dahin, sind schon verschwunden. Aber ich kenne die dunklen Stellen, an denen sie stehen. Niemand wird mich bereden, es ihnen gleichzutun. So haben Menschen immer gestarrt, bevor der Hunger sich meldet. Nichts Besonderes also, nichts Besonderes. Nichts, was es nötig machte, sich abzusondern. Das geschieht ganz von allein. Von allein. In Viehwaggons verschickt werden ist auch kein Genuss. Man muss den Menschen was in die Hand geben. Kelle und Löffel. Was sie damit machen, ist ihre Sache, aber wer nichts in der Hand hat, der macht sich Gedanken. ›Mach was draus!‹ Leicht gesagt, mit einem Satz ist da nichts zu machen. Die Tigerin schweigt, sie hat schlechtgeschlafen. So einfach geht das. Ein wenig verstört bin ich schon, wer zieht da die Grenze? Ich könnte was tun, aber das hieße davonlaufen. Dafür bin ich nicht geschaffen. Ich bin kein Hase, man kann mich stellen. Überhaupt bin ich nicht so selten, wie manche glauben. Und wenn schon, machte es einen Unterschied? Ich fühle mich schlecht aufgehoben in euren Konzepten, meine Damen und Herren, meine Damen Herren und Herren Damen, e la nave va. Das kurze Leben ist ein demütigender Gang, und das ewige Gekreisch und Gezwitscher derer, die wissen, wo’s langgeht, weil sie den Überblick haben oder die Besoldung oder beides oder weil sie auf einen Redakteursposten scharf sind, ist nicht sonderlich amüsant. Die weiblichen dropouts sind noch gar nicht erfunden, denen ich mich verwandt fühle. Sie sind nur wirklich, das lockt keine Hündin hinter der Zentralheizung vor. Sie sind aber kein Problem der Gesellschaft. Die Gesellschaft ist das Problem. Wer mag sich ihrer annehmen? Zu welchem Tagessatz? Im Moment wird wieder gesiegt. Das wirft sie um zehn, fünfzehn Jahre zurück.

Die Gesellschaft ist ewig. Was für ein Gedanke. Die Menschheit stirbt, aber die Gesellschaft ist ewig. Das macht, niemand kann sie denken. Sie blickt dir ins Gesicht und sagt: Du wirst sterben. Sie sagt das mit leiser Stimme, ihr Gesicht verzieht sich dabei nicht sehr, nur um das bisschen, das weiter zieht. Die Gesellschaft, das ist der Blick auf dich, der weiter zieht, kein Blick zurück, nur ein leichtes Haften, ein Magneteffekt, sehr schwach, ein kurzer Zeigerausschlag. Deshalb wird es Theorien der Gesellschaft geben, solange ein Herz schlägt – matte Versuche, ihr ein Schnippchen zu schlagen, ihr eine geheime Wunde zuzufügen, an der sie eines Tages krepiert. Alle diese Versuche stammen von Männern, sieht man genau hin, so merkt man: sie sollen Antwort geben auf die eine Frage ›Wie ist Frau möglich?‹ Primitive Gesellschaften gleichen Verwahrsystemen: Frauen sind Eigentum, das weggeschlossen werden muss, um nicht abhanden zu kommen oder in allgemeinen Gebrauch überzugehen. In differenzierten Gesellschaften haben die Frauen frei, mehr oder weniger; sie diffundieren in die Gesellschaft und erscheinen als ihre Substanz, als das, was bleibt, wenn der männliche Ehrgeiz erliegt. Die erotische Versuchung. Der unbegreifliche Widerstand. Das noch unbegreiflichere Funktionieren. Lauter Phantasien von Ausgeschlossenen. Oder Eingeschlossenen, was auf dasselbe hinausläuft. Was sie Vereinigung nennen, ist eine Strafe. Purgatorium, auf Jahre hinaus. Die wirklichen Schrecken kehren als imaginäre wieder. Nicht zu jedermanns Strafe. Jeder Weltzustand hat seine Feschen. Sie sprechen die Sprache. Nicht nur mit dem Mund, das kann jeder. Sie sprechen sie ganz. Die Sprache rauscht durch sie hindurch, sie sind die Brunnen, aus denen es den anderen zuströmt, egal, welche Gesichter sie dazu schneiden: jämmerlich sind sie ohnehin.

 

15. Januar

Ich weiß nicht, was du von mir denkst, es ist falsch. Nicht wirklich falsch, du verstehst mich, aber verstellt, seitenverkehrt, was du für meine Innenansicht hältst, ist der Teil, den ich dir zuwende. Vielleicht der am sorgfältigsten bedachte Teil meiner Person. Was das bei einer Frau bedeutet, kannst du dir vorstellen. Bitte stelle dir nichts vor: so rücken wir einander näher. Rücken an Rücken.

 

15. Januar, abends

Ich weiß nicht, warum mich jetzt die Lust überkommt, dir zu schreiben. Eigentlich warst du ganz aus meinem Denken entwichen. Aber heute bist du da. Ob diese Briefe dich erreichen oder nicht, tut nichts zur Sache. Du bist da und es hat die richtige Distanz. Als ich Michael verließ, wollte ich nichts als schreien oder schweigen. Vor allem letzteres. Vor allem ersteres. Nicht hintereinander, nicht durcheinander, nicht gleichzeitig, nein: ineins. Bis ich merkte, dass es vielen so geht, musste diese Zeit verstreichen, die Zeit des ausgeschalteten Gehörs. Du verstehst das, denn du hast kein Gehör. Oder doch? Ich wollte, du hättest keines und ich könnte dir alles auf diesem Papier servieren. Vielleicht hast du eine Frau und fünf Kinder, aber ich halte das für unwahrscheinlich, eher unwahrscheinlich. Wahrscheinlich wäre das Gegenteil, aber was ist... das Gegenteil? Ein Mann ohne Frau und fünf Kinder ist etwas Unwahrscheinliches. Du bist, aller Wahrscheinlichkeit nach, etwas Unwahrscheinliches. So habe ich mir das vorgestellt. So stelle ich mir das vor. So stellt sich mir das vor. Sie nimmt vor mir Aufstellung, ich bin beeindruckt und lasse sie abtreten. Aber sie rührt sich nicht von der Stelle. So unwahrscheinlich wahrscheinlich geht es auch auf der Straße zu, wo ich kaum dazu komme, meine Brötchen zu kaufen, weil die Verkäuferin Amok läuft. Sie ist eine reizende Person, ein bisschen verwirrt vielleicht, gerade heute, warum läuft sie Amok? Andere Frage: warum sieht niemand ihr auf die Finger? Sie ist eine Verkäuferin, das schließt Verpflichtungen ein. Aber der Automat, der sie ist, kreischt, die Räder haben sich aus den Halterungen gelöst und machen Anstalten wegzurollen, eines direkt auf mich zu... ich schreibe das, damit du siehst, dass ich wirklich in Schwierigkeiten bin, nicht wirklich, aber du wirst das verstehen.

 

16. Januar

Ein krauses Zeug war das gestern, ich hoffe, du hast das nicht ernst genommen. Schlaftrunken wie ich bin, weiß ich nur, dass es im Traum so weiter ging. Ich hatte mir vorgenommen, von meiner Tochter zu träumen, die sich wirklich prachtvoll entwickelt, aber daraus ist nichts geworden. Ich träumte von einer faden Politik, einer Zimmerflucht voller verzweifelter Blumen und den Trompeten von Jericho, frage mich nicht. Diese Trompeten haben mich öfter beschäftigt, einstürzende Neubauten sind mein engeres Fach, ich habe mich früh darauf spezialisiert. Eigentlich nichts Spektakuläres; sobald man diese Sachen studiert, nehmen sie ein ganz gewöhnliches Äußeres an und innen ist ohnehin nichts. Die Kunst besteht darin, die Mauern niederzulegen, so dass niemand etwas bemerkt. Die Leute gehen weiterhin um sie herum, sie treten ein und gehen hinaus, sie suchen und finden Schutz, das ist zweckmäßig und niemand sollte sie in der Ausübung so nützlicher Tätigkeiten behindern. Die Trompeten von Jericho sind in allen meinen Träumen. Manchmal gehe ich sie suchen, ich hätte auch gern eine geblasen, aber daraus kann wohl nichts werden.

 

18. Januar

Dieses Kind in meinem Gehirn, du verstehst, ich bin nicht verrückt oder wie man so etwas nennt. Ich liebe meine Tochter, aber das tut nichts zur Sache. Ich hätte sie auch abgetrieben, wenn man Wert darauf gelegt hätte, ich hätte den Wert eingesehen, aber sicher. Das war, nach Lage der Dinge, nicht notwendig, und nun sehe ich, ehrlich gesagt, schon weniger ein. Das Einsehen, glaube ich, ist eine reine Freude für den, der einsieht, gleich daneben beginnen dann die Bedenken. Ich bin nicht allein mit meinen Bedenken, so nicht, wenn ich die Zeitung aufschlage, fallen sie mir entgegen und ich habe alle Mühe, sie in meinen Schoß zu sammeln, ich fühle mich reich beglückt, ich bin mit Bedenken geschwängert, das ist ein Zustand. Es war sicher nicht der richtige Weg, für ein Kind, das nicht existierte, einen Vater zu suchen, aber so war es ja auch nicht, nicht ganz jedenfalls, den Vater im Mann habe ich jedenfalls nicht gefunden, ich weiß nicht, wie es anderen dabei geht. O diese Suchenden. Ich sehe sie in langen Schlangen die Hauptstraße heraufkommen, nein, es ist schöner, sie blockieren den KuDamm, fast hätte ich geschrieben: wie in alten Zeiten, das ist natürlich ein Unsinn, und wenn ich näher hinsehe, tragen sie alle das Kopftuch, sie haben ein Anliegen. Berlin ist ein Hopfengarten. Du erinnerst dich? Warum bist du nicht dageblieben – wir hätten zusammen zurückfahren können, hättest du etwas versäumt? Ich hätte auch gleich mitfahren können, da hast du Recht. Aber dann? Wahrscheinlich wäre ich heute mit Michael verheiratet und hätte einen Job beim Ess-Weh-Eff, wahrscheinlich als Freie – wer wollte so leben? Du schon, denn du hast gar nichts? Aber gar nichts, das gibt es nicht, das ist Märchenstoff, purer Märchenstoff, du bist ein Prinz. Hat dir das keine gesagt? Dann bist du einer.

 

21. Januar

Das Beste ist, man stellt sich neben die Trompete und konzentriert sich; wenn man die Backen dabei ein klein wenig aufbläst, dann ist das auch in Ordnung und hilft sogar, nur wer dabei übertreibt, gerät ins Schleudern. Es ist nicht so, dass man der Trompete dann hilft, und es wäre ein Irrsinn zu glauben, man bliese sie, aber man kann, wenn man gut ist und Glück hat – das heißt, wenn man von Beidem so verlassen ist, dass es auf dasselbe hinauskommt –, dann nimmt man einen Teil des Mauerwerks in sich auf, während es zusammenstürzt, es fällt in dich zusammen, ohne dich zu begraben, man fürchtet sich weniger vor den herumfliegenden Trümmern, und wenn einen eines aus Versehen erschlägt, dann geschieht es, bevor man sich dessen versieht, denn das ist das einzige Versehen, das dann noch bleibt.

 

28. Januar

Ich habe es mir überlegt: wenn alles existiert, und zwar nebeneinander, im Raum, dann bin ich nur eines, unter anderen, und ebenso gleichgültig wie alles andere auch. Und zwar für mich: das habe ich bisher nicht bedacht. Ich habe es gelesen, damals, im Studium, aber das waren Sätze von alten Männern, sie kamen nicht wirklich an mich heran. Alles, was ich dir geschrieben habe, bezeugt das Gegenteil. Ich bin also das Gegenteil dessen, was ich schreibe, auch jetzt, in diesem Augenblick, denn Schreiben heißt ja: Herausheben aus der Gleichgültigkeit. Aber wenn es damit nichts ist, wenn dieses beschriebene Blatt oder Speicherstück oder wie man es nennen soll, keinen Unterschied ausmacht, wenn der Unterschied im Schreiben entweicht, weil das Schreiben eine Art Zurückfallen an die Gleichgültigkeit ist, wenn all diese Zustände, organisch oder nicht, keinerlei Fragen aufwerfen, die nicht an alles gestellt werden können, buchstäblich alles, wenn der Unterschied nur ein Zeiger ist, eine Art Verweistafel auf das Ununterscheidbare, dann, ja dann...

 

29. Januar, morgens

Der größte und umfassendste Krieg, den die Menschheit seit Anbeginn geführt hat, ist der Krieg gegen den Staub, und er wurde weitgehend von Frauen geführt. Typisch: wenn die Anforderungen an Staubfreiheit steigen, wenn Schutzanzüge und Atemmasken am Horizont der greifbaren Dinge auftauchen, schalten sich Männer ein. Davor, daneben, danach sind es Frauen, die mit Besen hantieren, Staubtücher schwingen, mit einer Bewegung ihrer Schürze oder eines zufällig bereit liegenden Tuches ein Fundstück reiben oder einer Scherbe ein Stück Glanz erstatten oder einem Lampenschirm zu erneuter Transluzenz verhelfen. Diese kleine gefegte, gewischte, geriebene Fläche, mehr oder weniger glücklich behauptet gegen das Spiel der Partikel, ihre stete Ankunft, ihre lautlose Art, sich festzusetzen, ihre unvermuteten Einfälle und ihr plötzliches Überhandnehmen, das nichts Gutes verheißt: eine Errungenschaft, ohne Zweifel, reflexhaft und unnachsichtig verteidigt bis zum letzten Atemzug, manchmal erbittert, manchmal erbost, manchmal in reinem Überschwang, ursprünglicher als die Erfindung des Rades, endgültiger als die Schrift, Zeichen des Menschen, wo immer er auftaucht und sein Dasein markiert, eines der großen Ausdrucksmittel, selten prämiert, nur die Hersteller von Reinigungsmitteln wissen Bescheid. Ich kenne Frauen, die gleich rigoros gegen ihre Männer vorgehen und sie Stäubchen für Stäubchen aus ihrem Lebensbereich entfernen, ohne den Anspruch auf sie einen Augenblick lang aufzugeben, was heißt, dass der Ausdruckszwang stärker ist als das Begehren, auch elementarer, was immer das heißen mag. Alle Unterscheidung verdankt sich dem Kampf gegen den Staub, dem Kampf gegen das, was kommt, das Anlandende. Das ist seltsam, denn das, was kommt, das bin doch ich, ich selbst, etwas, von dem ich kaum den Eingangslaut aussprechen kann, ohne ins Futur auszubrechen.

 

2. Februar

Man darf sich Eva nicht stumm vorstellen. Niemand hat diesen Satz jemals eingesehen, wirklich, mit allem, was zu ihm gehört. Er ist immer nur interpretiert worden, weginterpretiert, um das Wesentliche beraubt. Wäre es anders, so hätte ich davon gehört. Oder gelesen. Obwohl das nicht viel bedeutet. Das Begreifen lässt die Menschen verstummen. Eva, jedenfalls, meine Nachbarin, weiß nichts davon. Sie ist nicht meine wirkliche Nachbarin, wir begegnen uns nur manchmal im Spiegel. Ich sehe ihr zu, sie hat immer zu tun, aber wir verstehen uns. Sie liebt die kleinen Verrichtungen, sie erweckt den Eindruck, sie sei genügsam, aber ich lese die Zeichen der Maßlosigkeit und nicke unmerklich, denn ich bin einverstanden. Der Ausdruckszwang, unter dem Eva steht, ist groß. Das liegt an den Augen, teilweise, aber nicht ganz. Es liegt in den Augen, die Rede, sie folgt dem Augen-Blick, das ist kein Zwang, kein Gleiten, es ist eine Art Gang, etwas, das nicht erfunden wird, etwas, das man besitzt. Eva erfindet nicht, sie lässt sich höchstens erfinden, das erstaunt sie nicht. Darin, nicht erstaunt zu sein, drückt sie sich aus. Sie ist mir darin auch über, ich ertappe mich dabei, dass ich sie bewundere – eine kleine Brandstiftung, die ich ihr nicht übel nehme, aber rasch unterdrücke. Manchmal habe ich den Eindruck, ich bin die erste Frau, die ihr zusieht: konzentriert und in einer Art Teilnahmslosigkeit, die ihre übertrifft. Denn auch darin macht sie mir nichts vor: sie, die an allem teilnimmt, lebhaft, mit einem Hauch von Überschwang, der ihre Stimme Girlanden werfen lässt, ist irgendwie teilnahmslos; darin, in diesem ›irgendwie‹, drückt sie sich aus. Sie ist dabei: was immer das heißen mag. Mich überrascht das nicht. Ich habe es seit jeher gewusst, ich habe es seit jeher gesehen, und ich frage mich, woher diejenigen, die nichts sehen, die nichts gesehen haben, die nichts sehen werden, ihr ach so weibliches Wissen beziehen. Die Frau entwerfen: die strammen Reihen der Models schneien über den Laufsteg und in den Blicken der Kundschaft knistern die Scheine. Draußen, auf der Straße, möchte man schreien, so wenig passt alles zusammen. Doch man schreit nicht, man unterscheidet sich, was auf dasselbe hinausläuft, aber weniger Aufsehen erregt. Nur der Preis ermittelt sich so, manch eine kommt sich teuer zu stehen. Und, seltsam, auch damit kommt sie zurecht.

 

28. Februar

Ich möchte in ein Land gehen, in dem die Sonne scheint. Ich möchte in ein Land gehen, in dem es regnet. Ich möchte in ein Land gehen, in dem die Dinge auf ihrem Platz sind. Ich möchte in ein Land gehen, in dem die Sonne untergeht, bevor sie aufgeht. Ich möchte in ein Land gehen, in dem sich das Menschsein erübrigt. Ich möchte in ein Land gehen, wo alle tun, was sich ergibt. Ich möchte in ein Land gehen, das keinen Rest kennt. Ich möchte in ein Land gehen, in dem ein simpler Stoff sagt, wie ich mich fühle. Ich möchte dort sein, wo das Gefühl von mir abfließt, so dass ich am wenigsten davon weiß. Wo ich vereinigt bin, ohne mich zu vereinigen. Niemand wird mich daran hindern zu gehen, darum zögere ich. Das Land, der Gang, das Gegangensein: das alles überholt mich, ist schneller am Ziel, es grinst schon von den Plakaten, während ich noch grüble. Ich möchte aber grübeln, ich bin noch nicht fertig.

 

Im März

Ich bin noch nicht fertig. Nicht ganz jedenfalls, daran lässt sich nichts ändern. Vielleicht hätte ich als Kind gehen sollen, da war jemand, der zog. Nicht, dass es jetzt zu spät wäre, die Welt steht offen. Tausende fliehen hinaus, die Flüge sind ausgebucht, ein Tor zum Glück findet sich immer. Törichter nie: so etwas gilt alle Tage. Ich bleibe auch nicht, das war nicht gemeint. Ich bleibe zurück, das ist anders. Ich brauche etwas Zeit; die Zeit, die ich habe, vergeht, und es scheint, dass sich daran nichts ändert. Auch ist es nicht die Zeit, die mir fehlt, es ist etwas anderes. Ich hätte es gern kennen gelernt, aber da ist wohl nichts zu machen. Gerade das lässt sich nicht machen. Ich glaube fast, es liegt darin, dass es fehlt. Dass etwas fehlt, ist vielleicht kein Mangel, es ist... vielleicht... etwas anderes. Ich werde es herausfinden, darin bin ich gut. Andere finden sich besser hinein, vielleicht finde ich heraus.