1.

Berührungen mit vergessenen oder von der Kritik vernachlässigten Werken erinnern manchmal an etwas, das niemals war, an ein Damals, das in der Berührung entsteht und in ihr dauert. Legitim oder nicht: Erfahrungen dieser Art sind es, die unserer musealen Kultur das eine oder andere Schnippchen schlagen – beiläufig, wie es sich versteht. Die Realität ist ein gefräßiger Konsument ihrer Deutungen. Manche scheidet sie als unverdaulich wieder aus, andere gehen auf Dauer in sie ein. Einige lässt sie jahrelang unbeachtet, bevor die Stunde kommt, in der sie verschlungen werden, nur eine, gewiss, aber was besagt das. In manchen Bildern erkennt sich eine Gesellschaft nur flüchtig, nicht anders als ein Individuum, das zwischen Wachen und Schlafen bemerkenswerte Ansichten findet und wieder verliert. Sei es, dass Übergänge die Wahrnehmung schärfen: Überall, wo Leitbilder gezimmert werden, drängeln sich Schattenbilder – vergessen, verdrängt, verraten, verräterisch selbst.

 

2.

In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde die westliche Industriegesellschaft, stets auf der Suche nach neuen Leitbildern – neuen alten und alten neuen – ein weiteres Mal fündig. Damals gingen die großen Konzerne dazu über, kleinere Entwicklungsvorhaben systematisch auszugliedern. Sie förderten Risikoexistenzen, die Vorhut einer neuen Elite. Der technisch-soziale Prozess entwarf eine Existenzform neu, die gerade noch als unwiderruflich passé gegolten hatte. Aus dem Schatten übermächtiger Institutionen und unübersehbarer Hierarchien trat der gesellschaftliche Typus des flexiblen, innovationssüchtigen, kreativitätsgläubigen, hochspezialisierten Selbständigen und Kleinstunternehmers; ihm, so lautete eine der Botschaften, werde das kommende Jahrzehnt gehören. Mit dem Leitbild des Selbständigen kehrte eine Grundfigur menschlicher Selbstauslegung wieder, die in den zurückliegenden Zeiten allseitiger Eingliederung poetisch verblasst war: der Hochstapler. Er ist der ältere Zwillingsbruder des Selbständigen, sein alter ego. Wie dieser operiert er auf eigene Rechnung. Die Differenz liegt darin, dass es dessen eigene Produkte sind, die der Hochstapler ihm verkaufen möchte. Der Gesellschaft zu dem zu verhelfen, was sie hervorbringt – dieses hehre Ziel distributärer Menschheitsbeglückung ist auch das seine. Wer möchte es ihm da neiden, dass er sich vorab mit den Accessoires des Erfolgs bedenkt, der darin besteht, im Spiel zu sein, wenn er doch weiß, dass das Spiel bald aus sein wird? In diesem Punkt beweist er eine Klarheit des Blicks, die seinem seriösen Widerpart nicht fremd ist, obgleich er sie im beruflichen Alltag verdrängt. Wedekinds Marquis nähert sich dem Sachverhalt mit der Geste des großen Verlierers: »Unglück kann jeder Esel haben, die Kunst besteht darin, dass man es richtig auszubeuten versteht!«

 

3.

Der Marquis von Keith, dieses Gründerzeitmuster des Hochstaplers unter den Bedingungen einer prosperierenden Ökonomie, treibt die Kreativität des einzelnen, der in die eigene Tasche wirtschaftet, auf ihren archimedischen Punkt. Seinen Geschäftspartnern ist er immer einen, den entscheidenden Schritt voraus: Er handelt mit Ideen. Zwar macht die industrielle Arbeitsteilung auch Ideen zur Ware; diese Entwicklung lässt den Marquis jedoch kalt. Für ihn ist das Projekt identisch mit dem Produkt. Folgerichtig geht das Spiel für ihn zu Ende, sobald die Realisierung des Projekts beginnt. Erster Akt, erste Szene: auf tritt der Gründer und künftige Geschäftsführer einer Feenpalast-Gesellschaft, die – nomen est omen – die Phantasie mit dem Versprechen märchenhafter Gewinne reizt. In der letzten Szene des Stücks bedeutet ihm sein ehrenwerter Nachfolger, es sei besser, die Stadt binnen vierundzwanzig Stunden zu verlassen: »Im Interesse einer gedeihlichen Entwicklung unseres Unternehmens«. Die Kleinigkeit, über die Keith stolpert, wäre, unter Gentlemen, nicht der Rede wert, enthielte sie nicht zufällig die Herausforderung schlechthin an die Welt des Geldes – er führt keine Geschäftsbücher. In dieser Welt, in der alle Türen, die zum Zuchthaus inbegriffen, offenstehen, und das Risiko eine träge Katze ist, die jeden unvermutet anfallen kann, weigert sich der Traumtänzer des ›non olet‹ mit selbstmörderischer Konsequenz, Spuren zu hinterlassen. Der Egoist aus Prinzip entäußert sich restlos und selbstgefällig in seinen Projekten. Angesichts der Solidität des durch ihn Erreichten verflüchtigt sich seine Existenz, als habe es sie nie gegeben. Umso energischer sein Vorgriff auf das, was er nie erreichen wird. Der Hochstapler kommt aus dem gesellschaftlichen Nichts, er hat zuviel Ehrfurcht vor dem gewachsenen Besitz, als dass er ihm ernsthaft Konkurrenz machen wollte. Er kennt die Mächtigen, die seine Geschäfte zu Ende bringen; er ist bereits auf der Flucht.

 

4.

Der Hochstapler bedarf beträchtlicher Geistesgaben, um mit dem Einfachen mitzuhalten, dem Alltag der anderen, die die Redlichkeit in Erbpacht halten, weil sie aus Trägheit des Geistes die kollektive Niedertracht der individuellen vorziehen. »Anderen Menschen fällt ihr Lebensberuf zu leicht, sie brauchen mit keinem Gedanken daran zu denken.« Das ist naiv gesagt, aber kompliziert gedacht. Im Munde Mollys, der haushälterischen Gefährtin des falschen Marquis, enthält es die Summe ihrer Erfahrungen. Sie wägt die Kosten einer Existenz, für die das Selbstverständliche nicht selbstverständlich sein darf, und kapituliert. Den Lebensstil des Hochstaplers bestimmt die Mühsal der Rekonstruktion fremder Lebensverhältnisse, und er weiß recht gut, dass ihre singuläre Simplizität ihn für immer von ihnen ausschließt. Die ungedeckten Wechsel bilden gewissermaßen das logische Rüstzeug einer abstrakt bleibenden Recherche. Daher enthält seine Gier nach gesellschaftlichem Erfolg einen Kern gewitzter Resignation. Die ebenso vulgäre wie kapriziöse Geliebte ist sein Geschöpf, an dem er ganz allein die Generationenarbeit von Besitz und Bildung zu vollbringen gedenkt. Schließlich soll sie märchenhaft Einzug in jene andere Welt halten, begafft und bewundert von allen, nach deren Anerkennung er in persona vergeblich hechelt. Der Glaube an die wundersame Verwandlung der Geliebten ist die Hinterlist eines Glücksverlangens, das mit seinen Illusionen auf völlig vertrautem Fuß steht. Vielleicht hat der reiche und skrupellose Jugendfreund Scholz doch nicht so unrecht, wenn er, absurd genug, hinter dem großspurigen Aktionismus Keiths den tätigen Lebensgenuss wittert, vielleicht ist der Hedonismus des Scheiterns, in dem sich das Lebensgefühl des Hochstaplers artikuliert, der einzig mögliche Hedonismus in einer Epoche, die sich aus der Dynamisierung aller Lebensverhältnisse den großen Wurf verspricht. Und wäre er es nicht: Er bliebe ihnen doch erhalten als Gegenfigur des Glücks, das sich in mediterraner Erholung bräunt.

 

5.

Die Fähigkeit des Hochstaplers, seine eigentliche Spezialität, besteht darin, durch Reden Realität zu erschaffen. Eine wundersame Realitätsvermehrung setzt ein, wann immer er seine Karten ordnet (er benützt Karten, Stempel etc. für viele Gelegenheiten), sobald er, gesammelte Verhaltung im Blick, eine Plauderecke ansteuert, gutmütig-verschwörerisch ein Vier-Augen-Gespräch beginnt oder allgemein geläufige Weltverhältnisse vor einem widerwillig gebannten Publikum in eine diffuse Matrix aus persönlichen Kontakten und daraus fließenden Unter-der-Hand-Versicherungen transponiert. Er redet genießerisch, mit Aufwärtsbewegungen beider Hände. Keiner versteht es wie er, im Flug erhaschte Information strategisch bedeutsam ins Gespräch zurückfließen zu lassen, und ihnen den Charakter von langer Hand vorbereiteter Offenbarungen zu geben, ohne allzusehr ins Prahlerische zu verfallen. Die Unterredungen, von denen die anderen zu ihrer Arbeit zurückkehren, sind seine Arbeit, auf sie bereitet er sich umsichtig vor, sie sind die Droge, nach deren Genuss er in die Wesenlosigkeit zurückkehrt, diese Pause zwischen zwei Auftritten. Den äußersten Charme realisiert er in Gesprächen mit Vertretern des Geistes, denen er gelegentlich begegnet, und die er insgeheim – ihre geringere Weltläufigkeit abgerechnet – für seinesgleichen hält, obgleich er aus Erfahrung weiß, dass er gerade bei ihnen auf eine Reserve stößt, mit der zu leben er gelernt hat und die er mit einem Achselzucken abtut. Der Intellektuelle, erfahren in den Techniken der Konstituierung von Realität im Medium der Sprache und wissend um das schwierige Unterfangen, durch ein Verschieben der sprachlichen Kennmarken die Welt zu verändern, blickt mit einer Mischung aus Unsicherheit und Grauen auf den Hochstapler, dessen freihändig erzeugte Wirklichkeit hinter ihm spurlos vergeht, als habe es sie nie gegeben. Der Hochstapler ist für den Intellektuellen dasselbe wie der Clochard für den Bürger: Sie wissen im Grunde sehr genau, wie wenig sie von diesen da trennt – eine marginale Einbuße an Wahrnehmungsfähigkeit, eine leichte Instabilität, die der Selbstkontrolle entgleitet, ein charakteristischer Tick –: der Intellektuelle weiß es und hat dieses Wissen in die Überzeugung geflüchtet, die ihn inwendig leitet, seine Kollegen seien allesamt Scharlatane.

 

6.

Das Paradoxon des Zenon von Elea über den Wettlauf zwischen Achill und der Schildkröte, als Gleichnis genommen, verleiht der Figur des Hochstaplers ein Maximum an ästhetischer Anschaulichkeit: So sehr gleicht er dem Athleten, dessen geballter Einsatz gerade hinreicht, um immer aufs neue die Distanz zwischen ihm und einem als unwürdig empfundenen Gegner zu durchmessen, ohne sie zu überwinden. Ein Grund liegt darin, dass wohl er mit ihnen, nicht aber sie mit ihm konkurrieren. Ihr gelassenes Vorankommen ist der Maßstab seines Irrsinns. Die Bewegung, die sie mitnimmt – für ihn uneinholbar –, der Gang der Dinge oder des großen Ganzen, sie lässt ihn aus, ganz als wäre er nicht vorhanden. Der heraklitische Satz, niemand steige zweimal in denselben Fluss, hat für ihn keine Gültigkeit – er durchquert den Fluss trockenen Fußes. Allzu leicht vergisst er, dass der Erfolg, ohne den er nicht existieren kann, seinen Preis hat, oder er vertraut darauf, nicht zahlen zu können, wenn es soweit ist, und darum ungeschoren davonzukommen, und er merkt keineswegs, dass der Neid der Zeitgenossen, in dem er gelegentlich badet, wenn er ihnen weit voraus zu sein scheint, nichts weiter bedeutet als ein modifiziertes Achselzucken vor dem Vergessen; man hat seinesgleichen öfters gesehen. Und das ist gut so. Denn sollte er es auch merken – die Spannung, unter der er sein Leben hinbringt, ließe sich keineswegs steigern, die Erkenntnis könnte ihm nichts weiter hinzufügen als den Entschluss zur Selbstvernichtung. Doch der Hochstapler hängt am Leben in eben dem Maß, in dem es sich ihm entzieht; er überlässt es anderen, seine Kartenhäuser zusammenzuwerfen. Wenn es denn geschieht, reagiert er in Wahrheit erleichtert, vermutlich umso erleichterter, je kräftezehrender und langwieriger der Versuch geriet. Den Mut des Selbstmörders stellt er unter Beweis, solange das Spiel dauert. Nachdem es aus ist, kostet es ihn ein Grinsen, den Schauplatz zu wechseln – mit einer angemessenen Abfindung in der Tasche, versteht sich. Keith ist mit den Usancen vertraut. Dieser Zug rechtfertigt schließlich auch das Vertrauen, das die Geschäftswelt immer schon in ihn gesetzt hat. Der erinnerungslose Blick nach vorn, der unzerstörbare Sinn für die Realitäten, damit lässt sich auskommen.