1.

›Reformgesellschaft‹ ist ein oft gebrauchter, aber keineswegs fest umrissener Begriff. Das mag erstaunen, wenn man die jahrzehntelange Präsenz des Reformthemas in Politik und Gesellschaft bedenkt. Vielleicht liegt darin auch bereits eine Art Begründung: benannt wird, was man projektiert oder was man hinter sich lässt. Projektiert wurde einst im Westen die ›Bürgergesellschaft‹, der die heutige Zivilgesellschaft gleicht wie ein Exportapfel einem gemalten. Zurückgelassen wurden, um deutsche Wegmarken aufzuzählen, die ›sozialliberale Ära‹, der ›Reformkonservatismus der Ära Kohl‹, das ›rot-grüne Projekt‹, aber nicht die auf den Begriff ›Reform‹ gestellte Gesellschaft. Erst angesichts eines auf administrative Durchsetzung leicht durchschaubarer Interessen gestellten, inhaltsarmen und ambivalenten Reformbegriffs wächst die Sehnsucht nach einer Gesellschaft, die den Begriff der Reform nicht kennt, sei es, dass sie ihn nicht mehr nötig hat, um ihre Ziele zu benennen, sei es, dass sie verabscheuen gelernt hat, was aus ihr unter diesem Etikett einen Suchtpatienten gemacht hat. Es könnte daher sein, dass die Reformgesellschaft sich allmählich als ein historisches Ganzes abzuzeichnen beginnt – fast zwanzig Jahre nach dem Ende des Revolutionsmythos, dem sie sich einst entgegenstellte, ein überfällig scheinendes, beinahe notwendiges Ereignis.

Rückblickend lassen sich drei Stadien der Reformgesellschaft unterscheiden: ein ethisch-humanitäres (1), ein ethisch-ökonomistisches (2), ein neo- oder libertär-ökonomistisches (3). Ein Missverständnis sollte vermieden werden: gemeint sind nicht Phasen sozialdemokratischer Regierungspolitik, auch wenn, jedenfalls in den Anfängen, es sich um ihr Projekt handelt. Die Reformgesellschaft stellt aber mehr dar als ein Projekt. Einmal etabliert, erzeugt sie eine Parteien und Politik übergreifende Wirklichkeit sui generis. Als solche ruft sie Interpretationen hervor, in denen sich die Gesellschaft als ganze oder jedenfalls in ihrer überwältigenden Mehrheit erkennt. Diese Wirklichkeit kennt viele Facetten und Übergänge. Die vorgeschlagene, an politischen Entscheidungen orientierte Periodisierung könnte daher leicht als willkürlich angesehen werden. Aber sie ist plausibel, wenn man den jeweiligen Wechsel der Hauptakteure und die Schwierigkeiten ins Auge fasst, in welche die Interpretation des Reformprojekts an den Übergängen von einem Stadium ins nächste gerät. Was die Politik rituell mit der navalen Metapher des ›Umsteuerns‹ bezeichnet, zeigt mehr an als eine Episode. Es liegt ein ›Abfall‹ darin, ein – wie die schrillere Vokabel lautet – ›Verrat‹, der allerdings mehr über die aufgebaute Spannung zwischen Projekt und Realität verrät als über die jeweiligen Loyalitätsverhältnisse. In Bezug auf das dritte Stadium deutet das Präfix ›neo‹ – öffentlich präsent in den Bezeichnungen ›Neoliberalismus‹ und ›Neokonservatismus‹ – schon verbal an, dass die Neuerung auf Erneuerung zielt, also auf eine Wiedergewinnung (nicht Wiederholung): in diesem Fall des ökonomisch gedachten Sinns von Gesellschaft.

 

2.

Aufbruch, Korrektur, Wende – die populären Ausdrücke geben erste Aufschlüsse über das jeweils Gemeinte. In ihnen verbinden sich Politikinhalte mit Politikstilen. Ihre Symbole sind jedermann in der Gesellschaft geläufig, so wie ihre Repräsentanten selbst zu Symbolen wurden. Europa, das sein politisches Imaginarium gern mit US-amerikanischem Personal bereichert, hat sich die ungleichen Präsidentenpaare Kennedy/Reagan  und Clinton/Bush erwählt, um an ihnen das Drama von Reform und Konterreform in Stein zu meißeln. Die Namen Olof Palme, Willy Brandt, Helmut Schmidt stehen für sozialdemokratische Perspektiven, die zwar Vergangenheit, aber nicht vergangen sind. Es scheint, als habe die jüngste ›Reformära‹ in Deutschland bisher keine haltbare Symbolik hervorgebracht, jedenfalls keine, die über die tagespolitisch übliche Karikaturenbildung hinausginge. Was daran liegen könnte, dass die neoliberale Wende, anders als in den angelsächsischen Ländern oder in den Reformländern Mittel- und Osteuropas der Fall, noch immer von großen Teilen der deutschen Bevölkerung eher durch inter- und transnationale Entwicklungen oktroyiert und nicht als freies Ergreifen gestalterischer Möglichkeiten gesehen wird. Mag sein, dass dem eine perspektivische Verkennung zugrunde liegt. Verwunderlich ist es nicht, da sich während der als erfolgreich empfundenen Phasen (1) und (2) feste Loyalitäten aufbauen konnten, die nicht so leicht preisgegeben werden. Veränderungen in der Altersstruktur, die bestimmten Jahrgängen ein Übermaß an öffentlicher Präsenz beschert, und die speziellen Reformvorstellungen, die sich an die Auflösung der DDR knüpften, wirken in ähnliche Richtungen. Der Neoökonomismus steht bei vielen für enttäuschte Erwartungen und soziale Misere.

 

3.

Darin liegt auch der Ansatz zu einer ersten Differenzierung von Wahrnehmungslinien. Liebhaber des Marktes, die gern den ›ursprünglich ökonomischen‹ Sinn von Gesellschaft reklamieren, finden für ihre Sicht der Dinge, sofern sie es noch für nötig halten, Belege in der philosophischen Tradition: »Die Schöpfung der bürgerlichen Gesellschaft gehört übrigens der modernen Welt an ... In der bürgerlichen Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles andere ist ihm nichts. Aber ohne Beziehung auf andere kann er den Umfang seiner Zwecke nicht erreichen; diese anderen sind daher Mittel zum Zweck des Besonderen. Aber der besondere Zweck gibt sich durch die Beziehung auf andere die Form der Allgemeinheit und befriedigt sich, indem er zugleich das Wohl der anderen mit befriedigt...« So Hegel in § 182 der Vorlesungen zur Philosophie des Rechts. Näher am Betrachter liegt Bill Clintons Wahlkampfslogan von 1992, »It's the economy, stupid!« mitsamt zugehöriger und, in mehrfach modifizierter Form, anhaltender Praxis. Diese Rede – wenn es denn überhaupt sinnvoll ist, in Ursprungsgeschichten zu reden – unterscheidet sich mehr oder weniger strikt von jener, die einen ursprünglichen ökonomischen Sinn von Gesellschaft kennt oder zu kennen vorgibt und der Vorstellung von einer anderen Ökonomie das Wort erteilt. Der alteuropäisch interpretierte ›ursprüngliche‹ Sinn von Ökonomie wurde bekanntlich vor mehr als einem halben Jahrhundert von Otto Brunner auf den suggestiven Begriff des ›ganzen Hauses‹ (griech. oikos) gebracht. Die darin vorausgesetzte Sozialität entspricht allerdings so wenig der unserer ›Gesellschaft‹, dass man besser beraten ist, dafür den Distanz schaffenden aristotelischen Ausdruck politikē koinonia zu verwenden – ein Terminus, der meist mit ›Gemeinschaft‹ wiedergegeben wird, ungeachtet der historischen Konnotationen, die vor dem Gebrauch des Wortes zurückschrecken lassen können. Das ›gemeinsame Wirtschaften‹ entspricht – Globalisierungskritikern nicht immer gegenwärtig – einem Herrschaftsmodell, das, in den Anfängen ausdrücklich kosmologisch gedacht, die Elemente einer ›natürlichen‹ Sozialordnung enthält. Wie jede Natur bleibt auch diese interpretierbar – von Fall zu Fall, von Herrschenden zu Herrschenden. So markiert es in der Theorie eher das eine Ende einer Skala, an deren anderem Ende das liberale und neoliberale Wirtschaften steht. In ihm setzen diejenigen, die da wirtschaften, auf den wohltuenden Effekt der Bereicherung – mit einer gewissen hintersinnigen Naivität, die einem in der gegenwärtigen Klimadebatte einmal mehr den Atem verschlägt. Dennoch scheint es bei alledem, dass der theoretische Kern des Neoökonomismus weniger in der Differenzierung der Gesellschaft entlang der Reichtumsskala zu finden ist als in der funktionalen Autonomie des ökonomischen Handelns, das keine ›sachfremden‹ Eingriffe hinnehmen will.

 

4.

Stellt man den ›ursprünglich politischen‹ Sinn des ökonomischen Handelns gegen den ›ursprünglich ökonomischen‹ Sinn des politischen Handelns – aristotelisch gesprochen: die politikē koinonia gegen den oikos, dann trennt man damit, was Aristoteles zufolge zusammen gehört. Aber wenn darin ein Abfall liegt, dann eher ein Abfall der Wirklichkeit – einer sehr alten Wirklichkeit – von der Theorie. Das Motiv des Abfalls ist dem des Ursprungs seit alters inhärent, insofern kann die Gesellschaft gut mit ihm leben. Noch besser die Geschichtsschreibung, die in Zerfall und Streit zwischen ursprünglich zusammengehörigen Parteien ihr primäres Erzählmuster erkennt. Solche Ursprünge sind verschieb- und erneuerbar, es sind wandernde Bezugspunkte des berichtenden Erzählens, das darlegen soll, wie alles gekommen ist. Insofern existieren sie nur im Plural. Aber natürlich ist das nur die halbe Wahrheit. Es gibt eine Gleichheit in den Ursprüngen, die es denen, die sich auf sie berufen, erst möglich macht, sie als solche heranzuziehen. Sie alle besitzen die Eigenschaft, mit dem Endzustand der Entwicklung zu kommunizieren, für die sie in Anspruch genommen werden, also irgendeine Art von Kontinuität zu bezeugen – eine höchst allgemeine Eigenschaft, die jedoch so stark gedacht sein muss, dass sie die markierten Passagen aus der gleichgültigen Reihe historischer Abläufe – dem allgemeinen nexus dessen, ›was sich begibt‹ – heraushebt und ihnen eine Art normativer Auszeichnung verleiht. Ursprungsgeschichten werden als faktisch verstanden und als primär prägend: einen Sachverhalt als ursprünglich zu bezeichnen heißt, ihn mit einer Bedeutung auszustatten, die sowohl erklärt, warum es zu dem als final oder aktuell beschriebenen Zustand kommen konnte, als auch, wie seine Defizite behoben werden können. Die Ursprungsgeschichte des aktuellen Neo-Ökonomismus ist verhältnismäßig kurz. Sie lebt von der Annahme, dass die ökonomische Doktrin der mittleren Reformphase, der Keynesianismus, den Grundcharakter des kapitalistischen Wirtschaftens zumindest in Teilen verkennt. Damit geht sie ein Stückweit konform mit der marxistischen Doktrin, die sie in den sogenannten Reformländern so eindrucksvoll ersetzt. Was sie gegen letztere setzt, ist die Überzeugung, eine Realität zu beherrschen, an der jene gescheitert ist.

 

5.

Die erfolgreicheren unter den Ursprungsgeschichten, denen sich der überwiegende Teil der Menschheit seit längerem ausgesetzt sieht, arbeiten mit dem Begriff der Moderne. Lässt man die Erzählungen beiseite, in denen vom Abenteuer oder vom Verhängnis der Moderne gesprochen wird, als handle es sich um den permanenten Aufbruch in ein unbekanntes Universum oder um eine antike Tragödie von den inneren Dimensionen des Peloponnesischen Krieges, so bleiben andere, in denen die Moderne sich auf ein Gewebe von Zwangsläufigkeiten und ein Menschheitsversprechen reduziert. Letzteres, nach Kants wirksamer Formel der »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«, ist der Maßstab, an dem sich die Verhältnisse der Gegenwart und der Vergangenheit messen lassen müssen. Als Prozess der Emanzipation ist die Moderne an jenen Fortgang der Künste und Wissenschaften gefesselt, von dem bereits in Rousseaus erstem Discours die Rede ist, also all das, was die geläufige Rhetorik als wissenschaftlich-technologischen Fortschritt bezeichnet. Sie ist an ihn gefesselt – merkwürdig genug für einen Befreiungsprozess –, aber sie fällt nicht mit ihm zusammen. Im Gegenteil, könnte man sagen: die mit den Zuwächsen in den Bereichen des Wissens und der Naturbeherrschung – auch im sozialen Bereich –  verbundenen Ambivalenzen provozieren regelmäßig erhebliche und keineswegs unnötige Steuerungsdiskussionen, gleichgültig, wie man zu deren Resultaten im einzelnen stehen mag.

 

6.

›Modernisierung‹ lautet das Schlüsselwort, das die Selbstverpflichtung der Reformgesellschaft umschreibt, an bestimmten Ursprungsgeschichten der Moderne festzuhalten und bei Bedarf weitere zu ersinnen. Darin liegt – was sonst? – eine Entscheidung. In der Ethologie, in Gen- oder Gehirnforschung stehen einflussreiche theoretische Instanzen bereit, die sich dem Modernediktat ganz oder teilweise entziehen. Wesentliche Fragestellungen und Fortschritte dieser Disziplinen verdanken sich explizit oder implizit dem im Lauf der Jahrzehnte immens gewachsenen Bedarf der Reformgesellschaft, Aufschluss über elementare Bedingungen der Veränderbarkeit des Menschen in der Gesellschaft und durch die Gesellschaft zu gewinnen. Zwischen Bedingungen und Grenzen verläuft dabei eine zarte theoretische Linie, an der entlang einige bemerkenswerte Schlachten geschlagen wurden. Während Grenzen – jedenfalls dann, wenn es sich um natürliche, sprich: unverrückbare handelt – eingehalten werden müssen (bei Strafe irgendwelcher unvorstellbarer oder auch voraussagbarer Katastrophen), sollten Bedingungen beachtet werden, jedenfalls dann, wenn man bestimmte Ziele erreichen will. Bei Nichtbeachtung drohen Effekte, die den angestrebten Ertrag reduzieren oder zunichte machen oder um ungewollte Erträge anreichern könnten.

Es leuchtet ein, dass die aktive Reformfraktion der Gesellschaft eher der Rede von Bedingungen als der von Grenzen gewogen ist. Doch wäre es falsch, hier eine strikte ›Grenze‹ zu setzen. Ein Beispiel böte die Gewaltdiskussion der Sechziger und Siebziger Jahre (im Kern eine Auseinandersetzung darüber, ob Gewalt als Mittel, bestimmte gesellschaftspolitische oder ganz allgemein emanzipatorische Ziele zu erreichen, gerechtfertigt sei), in der die Formel der Gewaltlosigkeit sich in beiderlei Gestalt präsentierte: als absolute Grenze, die zu überschreiten automatisch (aus Gründen einer vorgängigen Moral) zum Ausschluss aus der liberal und demokratisch verfassten Gesellschaft führt, und als kalkuliertes Verhalten, das der nüchternen Analyse des aktuellen und akuten Handlungsrahmens innerhalb des am Ende doch zu modifizierenden Systems entspringt. Dieser ›grundlegende Dissens‹ schien in der jüngsten Begnadigungsdiskussion um die noch einsitzenden RAF-Veteranen hintergründig wieder aufzuflammen – bei deutlicher Unlust aller Teilnehmer, sich erneut mit ihm zu befassen.

 

7.

Die Grenzen des eigenen Handelns immer wieder in den Horizont verschieben – dieses Wort eines ehemaligen Kanzlers ist geeignet, den imaginativen Kern eines Denkens aus- oder zumindest anzuleuchten, das vermutlich nicht zu den Initiatoren des Reformprojekts – jedenfalls in seiner ersten Phase – zählt, aber rückblickend diese Ära charakterisiert: angefangen bei frühen, linksutopistisch geprägten Parolen wie ›Seid realistisch, versucht das Unmögliche‹, bis hin zur vollmundigen Versicherung der dritten Phase, es gelte den Kapitalismus neu zu erfinden, um das unverrückbar festgehaltene Emanzipationsziel mit den Lebensbedingungen auf dem Planeten in Übereinstimmung zu bringen. Man kann also vielleicht sagen: Dort, wo die Denkfigur der Politisierung aller Lebensbereiche, also die Überzeugung, jeder Aspekt der Gesellschaft (und der persönlichen Lebensgestaltung) lasse sich in den Bereich politischen Handelns und damit der Veränderbarkeit verschieben, die traditionellen Grenzziehungen zwischen einem progressiven und einem konservativen Lager überwindet und weitgehend gegenstandslos macht, ist die Reformgesellschaft ›in den Köpfen‹ angekommen.

Offenkundig wirkte das nicht auf eine Partei beschränkte ›grüne‹ Projekt, das seit seinen Anfängen konservative und progressivistische Tendenzen miteinander verbindet, in dieser Hinsicht als Katalysator. Stärker als seine klassischen Konkurrenten  und in direktem Gegensatz zum Wirtschaftsliberalismus alter Schule setzt es auf Veränderungen im Bereich des privaten Verhaltens – soll heißen, auf den sanften und zugleich, um das Weber-Wort einmal mehr zu zitieren, ›stahlharten‹ Zwang eines durch Gesinnung gesteuerten, gesetzlich abgesicherten und und ökonomisch prämierten Wohlverhaltens seitens der Einzelnen. In der durchgebildeten Reformgesellschaft steuert ein medial reproduziertes, in Öffentlichkeitsinseln und Gruppenstilen über die Gesellschaft verbreitetes, in seinen Motiven und Ausfächerungen schwer durchschaubares Wohlmeinen, also eine Moral der Menschheitsziele, das individuelle Leben ebenso effektiv wie die Politik der ökonomischen Anreize. Es steuert auch die Politik bis hin zu bürokratisch verordneten oder dem journalistischen Gesinnungsdesign unterworfenen Sprachregelungen, deren Verletzung empfindliche Konsequenzen für den Einzelnen nach sich ziehen kann. Es scheint, als markiere das auf Dauer gestellte Gezänk um political correctness die überaus bewegliche Grenze, die das zur beherrschenden gesellschaftlichen Realität gewordene Reformparadigma von im Ansatz kollektivistischen, über das Revolutionsparadigma definierten Gesellschaftstypen trennt.

 

8.

Beschreibungsversuche wie dieser bedürfen einer methodischen Ergänzung. Der übergangslose Wechsel zwischen dem einfachen Ausschreiben allseits bekannter Motive und einer nicht weiter explizierten Rhetorik des Vorbehalts charakterisiert sie als polemisch. Sie arbeiten mit der starken Annahme, dass die Gesellschaft das gemeinsame Unhintergehbare darstellt, über das man nur genügend in Erfahrung zu bringen brauche, um es ›vernünftig‹ zu transformieren. Die Gesellschaft, das ist der empirische Mensch. Der Gedanke der ›vernünftigen Transformation‹ aller Lebensbereiche siedelt hingegen in einer offenen Meinungszone, in der differente Beiträge willkommen sind, solange und soweit sie dem Reformdenken verpflichtet bleiben. Willkommen ist jeder Beitrag, sofern er hier und jetzt dem Motiv des Aufbruchs aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit symbolische Präsenz verschafft.

Unter dem Reformparadigma, so lautet offensichtlich die zugrundeliegende Überzeugung, vereint sich das empirische Wissen um die Menschheit ebenso selbstverständlich wie effektiv mit dem Wissen um die richtigen Menschheitsziele und die angemessenen Strategien, sie zu erreichen. »Was können wir tun?« fragt die Moderatorin ihre Studiogäste, gleich, ob die nächste Nahost-Verhandlungsrunde angesagt wurde oder die neuesten Berechnungen der Klimaforschung auf dem Tisch liegen. Das ist in die Gesellschaft hineingesprochen. Es bezieht jeden Einzelnen ein, es hält ihn gegebenenfalls an, sein Verhalten zu ändern (»Wir müssen uns ändern«), und leitet wie von selbst zur Diskussion der zu ergreifenden gesetzlichen und administrativen Maßnahmen über. Kein Gast wirkt befremdet, alle beziehen Position. Das Publikum beklatscht zu gleichen Teilen den Freiheitsvorbehalt und die Rhetorik des administrativen Durchgreifens.  Mit Leichtigkeit und Vehemenz scheint die unsichtbare Hand der proporzgestärkten Vernunft den Hiatus zwischen dem Glück der Vielen und dem sich fortschreibenden, weltumspannenden Reformwillen der Organisationen und Institutionen zu minimieren.

 

9.

Dass die Leute gelernt haben, die rhetorischen Grundlagen des Reformparadigmas im Großen und Ganzen widerspruchslos zu akzeptieren und die entsprechende, in ihren Grundzügen durch jahrzehntelange Praxis bekannte Politik mit den üblichen Zustimmungsquoten zu versehen, kann im Prinzip zwei Gründe haben: überbordende Zufriedenheit oder ein eingespieltes Wissen darum, wie man mit ihnen ›im Alltag zurechtkommt‹. Dass Zonen öffentlichkeitswirksamer Unzufriedenheit vor allem in den spät und unter besonderen Bedingungen gestarteten postsozialistischen Ländern anzutreffen sind, spricht für einen gesunden Mix aus beiden Annahmen. Man könnte auch sagen, die Zufriedenheit rührt daher, dass sich die Menschen im Reformparadigma eingerichtet haben. Es ist eine Art Heim für sie geworden, mit einer ausgebildeten Binnenpraxis und einem Fundus aus Rechtfertigungs- und Motivationsgeschichten, ausreichend groß und durchgebildet, um jede Art denkbarer Lebensläufe zu tragen und gedanklich abzusichern. Daher verwundert es nicht, dass der Begriff der Wissensgesellschaft, der tendenziell etwas anderes meint, so elektrisierend auf seine Repräsentanten wirkt. Die möglichst ›barrierefreie Bereitstellung‹ und der durch institutionelle Anreize beschleunigte ›Umsatz‹ von Wissen, die ›unsere Gesellschaft fit machen für das 21. Jahrhundert‹ oder wie die Phrasen heißen, gelten vordergründig einer grenzenlos gedachten (und ähnlich grenzenlos kritisierten) Ökonomie. Als Innovationsmotor der Gesellschaft wirken sie wie ein Perpetuum mobile der Reform, die in diesem Licht mehr und mehr als reine Umsetzung von Wissen unter den Bedingungen weltweiter Konkurrenz erscheint. Die ethisch-existenziellen Grundlagen von Entscheidungen treten demgegenüber in den Hintergrund. Und das scheint gut so. Es legt Zeugnis ab vom Erreichten.

 

10.

Das Thema der gescheiterten Reform beginnt nicht, wie vielleicht zu erwarten wäre, beim Scheitern von Gesetzesvorlagen oder -iniativen, es beginnt nicht dort, wo die Umsetzung beschlossener Reformen unerwünschte Nebenwirkungen zeitigt, die den gewollten Ertrag in Frage stellen, es beginnt auch nicht bei der retrospektiven Betrachtung ›reformunwilliger‹ oder ›reformunfähiger‹ Gesellschaften. Vielmehr ist das Motiv des Scheiterns dem Reformparadigma inhärent – ähnlich wie dem der Revolution, aber auf andere Weise und in anderen Dimensionen. Beispiele gelungener Reformen sind das Schmiermittel der Reformgesellschaft, sie besitzen den Rang mythischer Parabeln, ausgestattet mit symbolischem Mehrwert und ikonographischer Omnipräsenz. Beispiele misslungener Reformen erfüllen ihren gesellschaftlichen Zweck in den Auseinandersetzungen zwischen politischen Parteien und Zweckverbänden, die bestimmten Gruppeninteressen verpflichtet sind. Ansonsten bilden sie einen der Grundstoffe des privaten Geredes.

Die Reformbereitschaft, das normative Rückgrat der Reformgesellschaft, ist ohne Zweifel ihr bedeutendstes Produkt. Sie ist, um es eigenwilliger zu sagen, gleichermaßen Erzeugendes und Erzeugnis. Reformunwilligkeit gilt unter diesen Umständen als andauernde, dabei weitgehend imaginäre Bedrohung der Reformgesellschaft. Sie erinnert, vielleicht nicht ohne Grund, an das Konstrukt des Klassenfeindes in der untergegangenen sozialistischen Gesellschaft. Die Reform des empirischen Menschen scheitert in Permanenz, weil die immer notwendige Modernisierung der Gesellschaft keinen Aufschub und keine Ruhepausen erlaubt und sich die Ausgangssituation der Reformbedürftigkeit an jeder Stelle wiederherstellt. Zufriedenheit über das Erreichte gilt, wird sie einmal ausgestellt, als Hochglanz- oder Propagandarede. Zu Recht, denn es pflegt, wie das Eis in der Sonne, sogleich zu zerrinnen. Die Reformgesellschaft ähnelt daher, von einer anderen Warte aus betrachtet, einer Repräsentation von Gesellschaft überhaupt, soweit sie als selbstreproduzierendes und als solches in permanentem Wandel befindliches System gedacht wird. Das literarische Bild der Überfahrt ohne erreichbares oder auch nur angebbares Ziel, eines der Sinnbilder der Moderne, ist vor allem ein Bild der Gesellschaft – von Menschenfressern, um an das schöne Bild aus einer kleinen Schrift von Deleuze zu erinnern.

 

11.

Es gibt eine Praxis der Reform und es gibt Praktiken der Reformgesellschaft. Die eine ist eher im politischen und bürokratischen Bereich, die andere im Alltag der Leute zu suchen, die man statistisch mit dem Begriff der Bevölkerung erfasst. Das Leben unterm Reformparadigma bringt seine paradoxen Konstellationen hervor, wie jeder aus privater und beruflicher Erfahrung weiß. Das ist zunächst einmal nichts Besonderes, es trifft prima vista auf jede Gesellschaft zu. Auffällig wäre, dass die Zukunftsgesellschaft sich zusehends um ihren Nachwuchs sorgt. Sieht man näher hin, so gruppieren sich die Paradoxien der Reformgesellschaft um etwas, das man die perspektivische Bereinigung der Reformziele (Gleichheit, Gerechtigkeit, verbesserte Lebens- und Arbeitsbedingungen, Mobilität etc.) nennen könnte. So gewinnt die klassisch-revolutionäre Unterscheidung von Nah- und Fernzielen innerhalb des Reformparadigmas eigene Züge. Offen zutage liegt das in der Dauerbewirtschaftung emanzipatorisch sensibler Bereiche, zum Beispiel der Frauen- und Familienpolitik, in denen der gesellschaftliche Lernprozess dem, was im Leben der Einzelnen unausweichlich zu leisten ist, konstant hinterherhinkt. Doch es gibt andere, weniger im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit liegende Prozesse. Die Zerstörung der Literatur, ein differenzierter Prozess, in dem das Urheber- und Verlagsrecht mit Mentalitätswandel und Förderpraxis zusammenspielt, die Abschaffung der allgemeinen Schreibsicherheit durch eine auf Permanenz gestellte Rechtschreibreform, die anonym und zwanghaft sich vollziehende Reduktion von Sprachprägnanz und Idiomatik durch Pastiche-Techniken (localization) und konsequente Normung, für Vordenker sicher peanuts, sind bekannte Felder privater und öffentlicher, vollkommen wirkungsloser Klage, für Literatur- und Medienwissenschaftler naturgemäß Objekte gesteigerter Aufmerksamkeit. Das dem Reformparadigma eignende aleatorische Moment tritt hier auffällig zutage – vermutlich, weil diese Bereiche in der Hierarchie der kollektiven Aufgaben ohnehin als marginal angesehen werden. Perspektivische Bereinigung bedeutet grosso modo die aus der Religionsgeschichte bestens bekannte Umstellung von Nah- auf Fernerwartung, die Herstellung von ›Handlungssicherheit‹ als – relativem – Selbstzweck, die permanente Ausschau nach möglichen Feldern symbolischen Handelns, eine eingespielte Praxis der Reform der Reform und schließlich das Spiel willkürlicher Festsetzungen, das sich hinter der Formel ›Kein Zurück!‹ verbirgt und der Neigung in der Bevölkerung entgegentritt, eine Reihe von Alltagsproblemen als ›gemacht‹ anzusehen, d.h. als Produkt der allgegenwärtigen Reform und nicht als ihr Auslöser.

 

12.

Der Gedanke, eine Gesellschaft durch die in ihr herrschende Form des Unglaubens zu charakterisieren, mag seltsam erscheinen, vor allem, da es naturgemäß schwerfällt, in diesem Bereich annähernd objektive Daten zu erheben. Wenn man, um die nicht programmatisch gesteuerten gesellschaftlichen Prozesse zu durchleuchten, den Begriff der ›Praktiken‹ verwendet, der die Weisen des individuellen Zurechtkommens in einer Gesellschaft bezeichnet, dann kommt dem Unglauben an gesellschaftliche Ziele (oder die in ihr herrschenden Verfahren, sie zu erreichen) darin eine wesentliche Bedeutung zu. Während Funktionen wie Vertrauen/Misstrauen sich stärker auf einzelne Sachverhalte bzw. Angebote beziehen, bezeichnet dieser Begriff gesellschaftlichen ›Unglaubens‹ etwas, das man mit Foucault und anderen als ›Dispositiv‹ bezeichnen könnte. Das wäre die allgemeine Neigung, Entscheidungen eher so als anders zu fällen und sich darin durch rationale Angebote – darunter fallen auch Deutungsangebote – wenig beirren zu lassen. Der in einer Gesellschaft herrschende Unglaube wäre demnach eine eher versteckte Größe, auf die man in weitgehend unspezifischer Weise Bezug nimmt. Was zum Beispiel in Meinungsumfragen ›in schöner Regelmäßigkeit‹, wie es selbstbezüglich heißt, als Ansehens- oder Glaubwürdigkeitsdefizit ›der Politiker‹ (weniger häufig: ›der Politik‹) ausgewiesen wird, deutet in der Analyse des gesellschaftlichen Paradigmas weniger auf eine Gefährdung des Systems durch seine unwilligen Bewohner hin als auf Figuren der Dominanz. Man hat sich eingerichtet, soll heißen, man hat eine – diffuse – Vorstellung davon, wie sich die Ankündigungen der Politik ›am Ende‹ auf die eigenen Lebensverhältnisse auswirken, Gewinnmitnahmen inclusive. Im Zweifelsfall gilt: Man beschließt, was man hintertreibt. Das Schicksal der integrierten Gesamtschule, eines klassischen Projekts der Reformära, böte in diesem Zusammenhang vermutlich ein lohnendes Untersuchungsobjekt, ein anderes ergiebiges Feld bestimmte Streuwirkungen einer immer defizitär gedachten Umweltpolitik.

 

13.

Falsch wäre es, den herrschenden Unglauben ausschließlich auf die Politik und ihre Auswirkungen auf den Einzelnen zu beziehen. Einen großen Teil lenken die Medien auf sich, die am komplexen Funktionszusammenhang der Reformgesellschaft so großen Anteil haben. Gemäß ihrer doppelten Rolle als Filter und Objekte der Wahrnehmung sind sie von Haus aus Institutionen des Glaubens. In ihnen gelangt zur Erscheinung, was man cum grano salis das Selbstbild der Gesellschaft nennen könnte. Die immerwährende mediale Epiphanie der Gesellschaft erzeugt jene oft beschriebenen Virtualisierungseffekte, denen gemäß das, was im Medium geschieht oder sichtbar wird, den Status einer höheren Wirklichkeit zugesprochen erhält und für wirklicher ›angesehen‹ wird als die eigene gemeine Lebensrealität. Selbstverständlich ist dieser beherrschende Glaube nicht dicht, sondern folgt der Dialektik des Glaubens, vermutlich sogar in diversen christlichen Spielarten. Seltsamerweise erwecken allerlei neuere Versuche, die neomarxistische Kritik an der Kultur- resp. Bewusstseinsindustrie mit Hilfe von Versatzstücken aus gängigen Theorien des Virtuellen zu erneuern, den Eindruck, mehr Teilnehmer dieses Spiels zu sein als schlüssige Theorien zu liefern. Stumpf bleibt auch die universalisierte Fetischismus-Kritik, die Hartmut Böhme als vorgeblich ›andere Theorie der Moderne‹ ausgeschrieben hat – schon deshalb, weil auch sie entschlossen ein Phänomen beim jeweils Anderen in der Gesellschaft diagnostiziert, das sie selbstverständlich durchschaut. An diesem Durchschauen dürften Zweifel angebracht sein, allein deshalb, weil es die intellektuelle Haupttätigkeit in der entwickelten Reformgesellschaft darstellt. Man könnte auch sagen, die Reformgesellschaft existiert, weil sie ihre Realität jederzeit als produzierte, aber in diesem Produziertsein die verändernde Potenz jeden Einzelnen ebenso herausfordernde wie absolut übersteigende vor Augen hat. Was sich auf der anderen Seite der Scheibe abspielt, ist das Spiel der vermittelten Wirklichkeit mit ihren Akteuren, von denen, wenn die Lampen ausgehen, der einfache fernsehende Mensch übrig bleibt, wie prominent er auch sein mag. Reform ist hier die Formel für einen von Moderatoren gefällig konturierten Einsatz, der zuverlässig ins Leere geht.

 

14.

Der Unglaube, gegen den herrschenden gesellschaftlichen Glauben gesetzt, steht als Motor hinter Praktiken, mit deren Hilfe die Bevölkerung die individuellen Lebensaufgaben unter dem Reformparadigma meistert. Näher betrachtet, handelt es sich um eine komplexe Größe, der man mit rollensoziologischen oder motivationspsychologischen Konstruktionen allein nicht sonderlich gerecht wird. Evident ist der kulturwissenschaftlich-anthropologische bzw. religionswissenschaftliche Zusammenhang. Die Entfaltung dieser Evidenz führt allerdings in Zonen der Nachdenklichkeit, die der gesellschaftliche Diskurs eher ausnahmsweise berührt. Für die Reformgesellschaft gilt wie für jede Gesellschaft, dass sie nicht aus sich selbst heraus verständlich gemacht werden kann. Was soll das heißen? Fasst man, einer gängigen Praxis gemäß, die Definition von Gesellschaft so weit, dass Kommunikation und Gesellschaft ineins fallen, dann bringt man sich um die Pointe, die darin besteht, dass das eine wie das andere Interpretationen sind, die immer auch anders ausfallen können, und sei es nur, weil die Realitäten, die sie bezeichnen, bei aller Stabilität ihren flüchtigen Charakter bewahren, der jeder Definition über kurz oder lang ein sanftes Ende beschert. Die wundersame theoretische Verwandlung von Gesellschaft in Kommunikation überhaupt – eine Tour de force für die historische Forschung – begleitet in praxi eine Tendenz, die ihr Ende in sich trägt. Zeigen lässt sich, dass die Reformgesellschaft in dem Maß, in dem sie beansprucht, Gesellschaft überhaupt zu repräsentieren, d.h. jede andere Form von Gesellschaft als defizitär konzipiert, aufhört, Gesellschaft zu sein. Es kann nicht verborgen bleiben, dass der Begriff der Reformgesellschaft sich an dieser Stelle mit Bedeutungen auflädt, die im Schatten der Reformdebatten ein gewöhnlich unbeachtetes Dasein fristen.

 

15.

Die intellektuelle Basis der Reformgesellschaft ist die Moderne, soll heißen, die wie auch immer instrumentierte Vorstellung von einem Riss oder Schnitt, der die Menschheit in einen vormodernen und einen modernen Teil trennt, eine Teilung, die sowohl diachron als auch – Begriffe wie ›Entwicklungs-‹ oder ›Schwellenländer‹ deuten es an – synchron gedeutet werden kann. Selbst hierzulande ist es nicht verborgen geblieben, dass diese Vorstellung seit Jahrzehnten seitens verschiedener Disziplinen heftiger Kritik unterliegt. Wir sind nie modern gewesen lautete der Titel eines klugen Buches, in dem das Konzept ›Moderne‹ mit plausiblen Argumenten als System von Täuschungen resp. Selbsttäuschungen einer europäisch- westlichen Elite beschrieben wird. Solche Überlegungen mögen zeitweise als politisch missliebig gelten, ohne dass sich dadurch an ihrer sachlichen Brisanz etwas ändert. Moderne ist, wie Bruno Latour und andere schlüssig ausgeführt haben, zunächst (und vor allem) ein Superioritätskonzept, das auf Reinigungspraktiken beruht: Natur und Gesellschaft gelten darin, anders als bei den ›Vormodernen‹, als getrennte Instanzen. Ihre Entmischung ist – wenn man so will – die moderne Tätigkeit, ihr Instrument die Kritik oder, schärfer, die Denunziation. Die paradoxe Verfasstheit ökologischer Sachverhalte, etwa der globalen Erwärmung, zugleich Menschenwerk (und damit veränderbar) zu sein und natürlichen (vermutlich unbeeinflussbaren) Zyklen zu folgen, fasst wie in einem Brennglas die Paradoxien der Natur und der Gesellschaft zusammen, die an den Begriffen des Experiments, des Beobachters, des ausgeschlossenen (Latour schreibt ›gesperrten‹) Gottes etc. oftmals demonstriert worden sind. Aufschlussreich ist ein kurrenter Ausdruck wie ›die Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen‹, weil die Bedrohung dabei sowohl von der Gesellschaft ausgeht wie von der Natur selbst, genauer: vom nur teilweise zu klärenden Zusammenspiel beider, das der Idee gesellschaftlicher Autonomie eklatant widerspricht. Angesichts der auffälligen Zunahme solcher ›monströser‹ Hybridkonstruktionen besteht Latour auf einer ›symmetrischen Anthropologie‹, die neben den sichtbaren Reinigungspraktiken die im Normbetrieb abgedunkelten Vermittlungspraktiken in den Blick zu nehmen rät, ohne die jene anderen nicht leb- oder gestaltbar wären. Was immer man dem ritualnahen Begriffspaar Reinigung/Vermittlung an theoretischer Durchdringung zutraut – das Plädoyer dafür, die künstliche und nicht zu rechtfertigende Differenz, in der sich die Moderne situiert, aus dem kulturellen Selbstverständnis zu eliminieren, wirkt deutlich genug.

 

16.

Die Behauptung, ›wir‹ seien nie modern gewesen, ist aus naheliegenden Gründen paradox. Sie setzt aber die beiden Glieder der Aussage, das ›wir‹ wie das ›modern sein‹, einer Reihe von Fragen aus, die an die Grundlagen des Reformparadigmas rühren. Wenn die Reformgesellschaft als Gesellschaft schlechthin, sozusagen als die, einmal gefunden, unumgängliche Form von Gesellschaft gilt, dann lässt sich die Zunahme der ›Monstren‹, soll heißen zwingend gegebener, aber nicht lösbarer Reformaufgaben, deren Bewältigung von Legislaturperiode zu Legislaturperiode weitergereicht und faktisch der theoretischen oder praktischen Phantasie kommender Entscheidungsträger, am Ende der Ingenieure und Wirtschaftsfachleute überantwortet wird, nicht einfach der Phantasielosigkeit oder dem Zynismus der Herrschenden in Politik, Verwaltung, Ökonomie anlasten. Vielmehr kann sie als Anzeige des paradoxen Sachverhalts gelten, dass es möglich ist, unter dem Reformparadigma zu leben, ohne es zu leben, soll heißen, all jene Zugewinne an Autonomie, Sozialität, Lebensqualität etc. zu realisieren, von denen die befragbaren Glieder der Gesellschaft augenscheinlich überzeugt sind.

Man muss nicht in die Behandlungszimmer der Therapeuten oder in die Altenheime gehen oder die neuesten Armutsstatistiken auswerten – Aktivitäten, die in den Bereich der Empörung fallen und zu den erprobten Schmiermitteln der Reform zählen -: aufschlussreicher ist das Schicksal der Ökologiebewegung, die zugleich als Kind und als Widerlager der Reformgesellschaft auftritt und überall dort, wo sie Regierungsverantwortung übernimmt, das Regieren lernt, aber nicht, den eigenen Anspruch zu realisieren, der die Möglichkeiten der Reform herausfordert und überfordert. Die theoretische Versenkung in die Lebensgrundlagen des Planeten und der eigenen Gattung gebiert Ungeheuer, deren ebenso zweifelhaftes wie unbezweifelbares Vorhandensein die Ratio der Reform von einer Verlegenheit in die andere stürzt.

 

17.

Auch die Ökologiebewegung verschiebt die Grenzen des Handelns in den Horizont gesellschaftlicher Wünschbarkeiten. Insofern sollte man Bereiche nicht außer Acht lassen, in denen das klassische Reformziel der Emanzipation zu Konstellationen geführt hat, in denen es als gleichermaßen realisiert und verfehlt besichtigt werden kann. Anders als das Schicksal der Arbeiterklasse, deren Emanzipation ins statistische Ghetto und in die gesellschaftliche Marginalisierung resp. Auslagerung führte, ist das der Frauenbewegung – reproduktionsbiologisch plausibel – anhaltend unklar. Das zuverlässig Empörung auslösende Konzept der ›unsichtbaren Grenze‹, an der die rechtliche und soziale Emanzipation der Frauen weniger scheitert als dauerhaft laboriert, stattet den Imperativ »Du musst dein Leben ändern« mit einer tief ins Leben vieler Menschen eingreifenden Überzeugungskraft aus. Entsprechend ist die Emanzipationsbewegung für die subjektive Wahrnehmung in erster Linie eine Erweckungsbewegung mit Konsequenzen, wie sie bei derlei Bewegungen generell zu beobachten sind: überstarke Akzentuierung des Vorher-Nachher-Effekts, die Überzeugung, einen Zustand der Gnade oder der Erleuchtung erlangt zu haben, der es erlaubt, die Lebensdinge in den richtigen Proportionen wahrzunehmen und anzugehen, entsprechende, über gemeinsame Gesinnung vermittelte Gruppenbildung und -instruktion, vertiefte Distanz zum allgemeinen, mehr oder weniger drastisch als böse klassifizierten gesellschaftlichen Umfeld, die sich in der Nahumgebung entsprechende Sündenböcke greift, schließlich, als unumgängliche, weit in die Mitte hineinreichende Randerscheinung, die ungehemmte Vorteilsnahme durch Individuen, die gelernt haben, welche Vorzüge es für den Einzelnen haben kann, historisch oder fördertechnisch auf der richtigen Seite zu stehen.

Die gesetzgeberische, rechtsprecherische, populärwissenschaftliche und verwaltungstechnische Gleichstellungsindustrie besitzt, zum bitteren Gaudium des Publikums, eine angebotsorientierte Komponente, die dem Antidiskriminierungsgrundsatz in der Anwendung gewisse Antinomien entlockt und ihn für Schnäppchenjäger attraktiv macht. Die systematische Verdunkelungsarbeit – mit Latour zu reden – gilt dem allen Beteiligten auf anderen Ebenen und in anderen Kontexten wohlvertrauten Umstand, dass unter den Bedingungen rechtlich-formeller Gleichheit der Geschlechter die Frauenfrage eine Kinderfrage ist. Eine Gesellschaft, die auf die Entdeckung, keine hinreichenden Antworten auf die Frage zu besitzen, woher die Kinder kommen, mit der Forderung nach höherer Integration der Frauen in die Berufswelt reagiert, darf – angesichts ihres Anspruchs auf Universalität – schon als recht eigen gestrickt gelten. Der religiöse Fundamentalismus als Wunschfeind kommt da, nebenbei, wie gerufen. Wie auch immer: die Erfindung der Frau aus der Retorte des frei flottierenden Emanzipationsideals gehört zum Perpetuum mobile der Reformgesellschaft und bietet ein drastisches Beispiel für die Verschiebung der individuell zu leistenden Vermittlungen in den Bereich dessen, was kritische Publikumsorgane ebenso rituell wie selbstreferenziell den ›ungelüfteten‹ oder ›dumpfen‹ Teil des gesellschaftlichen Lebens nennen – und der Gerichte. Man wird die massenhafte Produktion von Gerichtsurteilen, die sich mit mittelbaren oder unmittelbaren Lüftungsfolgen befassen, wohl oder übel unter die Hybridbildungen oder Monstren rechnen, mit denen ein nicht einlösbarer gesellschaftlicher Anspruch das Leben unter dem Reformparadigma sprenkelt.

 

18.

Auch Metaphern tendieren, wie Bewegungen, zur Radikalisierung: die der dritten Phase zugehörige Vokabel vom ›Umbau‹ der Gesellschaft resp. ihrer grundlegenden Institutionen – Zeitung lesenden Sozialempfängern und Angehörigen der akademischen Elite gleichermaßen vertraut – signalisiert, dass die funktionalistische Theorie der Gesellschaft bei den Entscheidungsträgern angekommen ist, und zwar sub utraque specie - in beiderlei Gestalt: als Interpretation einer historischen Gesellschaftsformation – der eigenen – und von Gesellschaft schlechthin. Dass letzteres immer mitgemeint wird, erhellt der Umstand, dass Gesellschaftsdeutung prinzipiell als Selbstdeutung angelegt ist: Wir, die wir unter dem Funktionsparadigma stehen, kommen nicht umhin etc. Gesellschaft ist, auch wenn das nicht so formuliert wird, verhängt und partizipiert insofern an den Antinomien der Moderne und des Emanzipationsgedankens. Die Idee, dass eine funktional gedeutete Gesellschaft sub specie des Funktionsparadigmas zum Umbau freigegeben ist, löst bei den Betroffenen bekanntlich Widerstände aus. In der Regel operieren sie mit Identitätsgründen unterschiedlicher Herkunft, aber vergleichbarer Verbindlichkeit: auf dem Spiel stehen wechselweise die ›Kultur‹ der Gruppe, des Landes, der Nation, das gewordene Individuum und die vorgängige Verbindlichkeit einmal gefundener Lebens-, Denk- und Empfindungsweisen, kurz, das Arsenal dessen, worin die Gegenseite leicht den irrationalen Bodensatz einer über ihre Grundlagen nicht hinreichend verständigten und daher zu Privilegierungen neigenden bürgerlichen Gesellschaft diagnostiziert. Doch auch das ist Polemik. Nicht die hergebrachte, zum Bettvorleger für ängstliche Zeitgenossen degenerierte bürgerliche, sondern die ›moderne‹ Zivilgesellschaft bringt die eine Argumentation mit der anderen hervor.

Die zivile, dem freien Spiel der Interessen verpflichtete Gesellschaft produziert Gruppenegoismen, die sich mit Identitätsargumenten tarnen – darin besteht, kurz gesagt, die funktionalistische Kulturtheorie. Der Gegensatz der Positionen scheint unauflösbar. Zumindest tendiert er zur hemmungslosen Selbstreproduktion. Er ist aber, mit Hegel gesprochen, bloßer Schein: einig findet man beide Parteien darin, dass sie einen Gegensatz von Kultur und Gesellschaft konstruieren, der jeweils auf dem Boden der Kultur oder der Gesellschaft gelöst werden soll. Dieser Gegensatz hat Tradition. Er tritt, wie wir wissen, überall da zutage, wo die Modernisierungsfraktion als siegreiche Geschichtspartei und aggressive Okkupationsmacht, als Pfahl im Fleische wahrgenommen wird. Die Identitätstheorie als eine Art sekundärer Reflex der Modernisierungstheorie ist selbst funktionalistisch: Die Zerstörung indigener Kulturen verbindet sich mit der Androhung äußerster Übel, weil in ihnen angeblich ein Maximum der Anpassung an ganz spezifische, in ihrer vollen Differenzierung unaussprechlich bleibenden Überlebensbedingungen erreicht ist. Der Funktionalismus des Erreichen-wollens dort, des Erreicht-habens hier zeigt sich auf der einen Seite vollkommen interessengesteuert, auf der anderen Seite den Aporien der Mündigkeit verhaftet, die dem überhöhten Selbstbild der Moderne entsprechen.

 

19.

Die funktional durchgebildete Zivilgesellschaft untersteht dem Reformparadigma, solange sie als eine im Entstehen begriffene Gesellschaft betrachtet wird – durchsetzt von und behaftet mit strukturellen Resten älterer Gesellschaftsformationen, die es sukzessive abzustreifen gilt. Die sachlich begrenzte und strikt dem einzelnen Missstand geltende Reform gibt das Paradigma nicht her, weil sie keine Aussagen über die Gesellschaft als ganze erlaubt. Das Unbehagen in der Gesellschaft produziert, ungleich dem von Freud diagnostizierten ›Unbehagen in der Kultur‹, keine Gesellschaftsmüdigkeit, sondern den begleitenden Verdacht, es mit einem Phantom zu tun zu haben, hinter dessen ehrfurchtgebietendem Äußeren Strategien der Erbeutung und Erhaltung von Macht, des konkurrierenden Vollzugs im weitesten Sinn familiärer Bindungen und der Produktion von etwas, das im gesellschaftlichen Rahmen ›Sinn‹ genannt wird, aus einem etwas anderen Gesichtswinkel hingegen als ›Religion‹ und ›Kunst‹ erscheint: ambivalente Einheiten von Praxis und Poiesis, die zwar als vollkommen ökonomisch vermittelt, aber gleichzeitig – wie der gesellschaftliche Ausdruck lautet – als ›feudal‹ betrachtet werden. Entsprechend produzieren die im Zentrum des Reformparadigmas stehenden Versuche, den Staat oder die Familie – den Familienverband – auf dem Boden der Gesellschaft ›neu zu erfinden‹ oder wie die Ausdrücke lauten, den Dauerverdacht, Windmühlen zu zausen. In der hartnäckigen Persistenz individuellen Leids und der ihm eingeschriebenen Triumphe auf hohem oder niedrigerem Niveau wird so etwas wie das feudale Dreieck der Gesellschaft sichtbar, das man besser als System fortbestehender kultureller Abhängigkeiten beschreibt.

 

20.

Der Begriff der Zivilgesellschaft (›societas civilis‹) tradiert Erinnerungen an die differenten Status der am Gesamtspiel Beteiligten, deren praktische Negation im Zentrum der Reformgesellschaft steht. Das ist, mit Manfred Riedel gesprochen, der die begriffsgeschichtlichen Zusammenhänge in den Siebzigern untersucht hat, ein in die ›aristotelische‹ Vormoderne zurückweisender Gedanke. Die Reformgesellschaft als die Zivilgesellschaft, die über den aufklärerischen Gedanken der Perfektibilität hinaus Kants Vorschlag einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht anhängt, in der die Gesellschaft als letzter welthistorischer Akteur fungiert, hebt mit der Mehrzahl der Akteure auch den Statusgedanken auf. Deutlich wird das in Bezug auf die Funktion und das Selbstverständnis der Parteien im Staat, sollte heißen: in der Gesellschaft, aber z. B. auch im Hinblick auf die Definition der Familie und das Instrumentarium, mit dessen Hilfe sie zielkonform interpretiert und manipuliert wird. Diese Sisyphosarbeit kann, je nach Blickwinkel, als Befreiungs- oder Leidmaschine wahrgenommen werden. Entscheidend ist, ob der Stolz auf das Erreichte – und noch zu Erreichende – oder die Demütigung, die Enttäuschung, das Spiel der Täuschungen und Selbsttäuschungen und die unvermeidlichen Katastrophen obenan stehen. Eine Schlüsselbedeutung fällt dabei der festen Ordnung der Reformschritte zu. Sie muss eine historisch sinnvolle Abfolge ergeben, um das Integrations- und Beteiligungsszenario der Gesellschaft zu legitimieren. Reformparadigma und Posthistoire schließen einander aus. Aber genausogut bedingen sie einander, insofern beide das Märchen vom letzten universalgeschichtlichen Gedanken transportieren.

 

21.

Gesellschaft entsteht und realisiert sich in der Bewegung ihrer Glieder. Die Reformgesellschaft versteht sich – jedenfalls in denjenigen, die an ihrem Zustandekommen beteiligt sind und sich als Beteiligte verstehen – als Gesellschaft in Bewegung, als eine, die gewillt ist, die Dialektik der Freiheit in der Bewegung in Aktion zu setzen. Sie produziert dabei eine Reihe von Paradoxien. Deren erste lautet, dass sie, um zu existieren, Garantien benötigt. Wenn Gesellschaft auf Voraussetzungen beruht, die sie nicht selbst produziert, aber nur als Selbstproduzierte annehmen kann, dann sind Zahl und Art der Reformschritte unter Erfolgsgesichtspunkten notwendig durch diese Grenze limitiert. Gleichzeitig sind ihnen – nach Zahl und Art – bei steigender Misserfolgsquote keine Grenzen gesetzt, so dass irgendwann auch die Zurücknahme von Reformen den Stempel der Reform tragen kann – vorausgesetzt, es gelingt, die asymptotische Annäherung an einen Zustand, der nicht weit von der verrufenen ›totalen Vergesellschaftung‹ entfernt liegen kann, sichtbar zu machen. Dem Design der Reformgesellschaft, die ›in den Köpfen‹ ›etwas bewegen‹ will, entspricht diese Sichtbarmachung. Der programmierte Misserfolg in der Sache lässt sie als das Wesentliche der Bewegung, als Illusionstheater hervortreten, dessen Teilnehmer zugleich Akteure und Zuschauer sind, gläubig Ungläubige auf beiden Seiten. Scheinbare Epiphänomene wie die Mode oder die eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegende massenmediale Präsenz werden dadurch zu Instanzen der Vermittlung. Sie füllen den zwischen Illusion und korrespondierendem Misslingen gespannten gesellschaftlichen Raum mit mehr oder minder flüchtigen Artikulationen, sprich: Lebbarkeiten an.

 

22.

Theoriekonstrukte, die darauf zielen, die virtuelle Realität der Medien als ›die‹ Realität der postindustriellen etc. Gesellschaft zu analysieren oder, allgemeiner, Performanz- und Realitätskonzept miteinander zu verschmelzen, verbergen, um es ein wenig boshaft auszudrücken, einen Motivationsstau. Sie beschreiben die gesellschaftliche Arbeit der Unsichtbarmachung jener Garantien, von deren Erhalt ihr Fortbestand abhängt, als garantiere just diese Arbeit ihren Bestand. Das ist, wie gesehen, nicht ganz falsch, aber auch nicht richtig. Es ist der Versuch, einer vorübergehenden - von einer sehr hohen Warte aus gesehen: flüchtigen, an bestimmte Aufbruchserfahrungen gebundenen – Motivationslage einen fixen Weltzustand zu unterlegen, von dem manche hoffen oder fürchten, dass er gnädig – oder ungnädig – vorbeigehen werde. So reproduzieren sich Irrationalismen. Dagegen könnte eine neue Aufmerksamkeit gegenüber der Mode – der immer aufschlussreichen Kleidermode wie dem vollen Spektrum wechselnder Versatzstücke, Konsumgesten, Attitüden, Sprachregelungen, dominanten Theorien, Aufbruchs- und Abgrundphantasien, innerhalb dessen sich regelt, was gerade geht und was nicht geht – Bewegungsarten entdecken, die sich weniger dem ›Alles geht‹ verdanken als dem unerträglichen Selbstwiderspruch der Gesellschaft, das Ende von etwas zu sein und weiter existierend sich entwerfen zu müssen.

Diese Pointe sollte sich niemand entgehen lassen: die Reformgesellschaft, die dem Individuum mit dem Pathos der Existenz auf und davon gegangen ist, lebt von der Gutgläubigkeit des Individuums, dem sie vorhält, was sie mit ihm vorhätte, wenn es denn auf es ankäme, was nicht der Fall ist, da das, was es sein könnte, in täglicher Abstimmung auf sie übertragen wird. Sie hat keine Kultur, sie muss sie ablehnen, weil sie das, was in ihr als Bildungsgeschichte und personaler Rückhalt angelegt ist, umzusetzen, gesellschaftliche Wirklichkeit werden zu lassen gewillt ist, und fällt ihr unablässig anheim, weil sie ihrem Personal keine andere Wahl lässt als die der Pointe, die sich, wie bekannt, erst dann ganz erschließt, wenn es gegangen ist. Das könnte auf einen Übergang deuten: nahe den Katarakten wächst die Unruhe, während die Bereitschaft – oder Fähigkeit – zur Empörung abnimmt.