1.

Ein Dozent der Philosophie reist im Mai 1941 ins besetzte Paris. Eingeladen hat ihn die kulturpolitische Abteilung der deutschen Botschaft, das Deutsche Institut. Im Jahr darauf erscheint der Pariser Vortrag bei Vittorio Klostermann unter dem Titel Volk und Geschichte im Denken Herders. Man liest dort, Herder betreffend:

So sieht er (und nimmt darin eine Einsicht vorweg, die uns aus Nietzsches zweiter unzeitgemäßer Betrachtung über den »Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« geläufig ist): jedes Leben hat einen geschlossenen Horizont, um in dieser »Mäßigung des menschlichen Blickes (die »Fühllosigkeit, Kälte und Blindheit« gegen das Ungleichartige und Fremde der Vergangenheit zur Folge hat) mir auf dem Mittelpunkte Genüge zu geben, der mich trägt.« In einem auf seine Vorurteilslosigkeit stolzen Jahrhundert erkennt Herder die Kraft des Vorurteils, glücklich zu machen, indem es »Völker in ihrem Mittelpunkte zusammendrängt«. Dabei verfällt Herder so wenig in die Selbstzufriedenheit des späten Historismus, daß er den Vorzug des weiten Umblicks, den die Stellung der eigenen Gegenwart, ihr Ort gleichsam auf den feinsten und höchsten Ästen und Verzweigungen des großen Baumes der Menschheit, mit sich bringt, zwar erkennt, aber mit dem Ernst des an der Geschichte und dem Bild der Gegenwart belehrten Erziehers auf Konzentration der Kräfte der Nation dringt.1

Der Leser braucht eine Weile, um sich im kunstvoll organisierten Zwar-Aber des letzten Satzes zurechtzufinden. Das liegt nicht so sehr an der ausladenden Syntax, deren Verzweigungen vermutlich mehr oder minder kunstvoll den »großen Baum der Menschheit« zu Gehör bringen sollen, als daran, dass hier ein Gedankenglied ausgespart bleibt, dessen Unkenntnis die verstehende Lektüre zum mehr oder weniger mechanischen Nachvollzug eines fremden (und befremdlichen) Gedankens degradiert. Dem Verfasser scheint das bewusst gewesen zu sein, denn Jahrzehnte später fügt er jenes Glied unauffällig ein, wobei er die ursprüngliche Aussage ersatzlos tilgt. Im Nachwort zur Suhrkamp-Ausgabe von Herders Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit von 1967, einer durchgesehenen Fassung der Publikation von 1942, lautet der Satz dann folgendermaßen:

Dabei verfällt Herder so wenig in die Selbstzufriedenheit des späteren Historismus, daß er den Vorzug des weiten Umblicks, den die Stellung der eigenen Gegenwart, ihr Ort gleichsam auf den feinsten und höchsten Ästen und Verzweigungen des großen Baumes der Menschheit, mit sich bringt, zwar erkennt, aber sich auch die Schwächung nicht verbirgt, die in solcher Verfeinerung liegt.2

Mit ein wenig Ironie ließe sich kommentieren: es bleibt – gewissermaßen – ein nobler Zug, dass Herder sich gegenüber dem späteren Historismus den Gedanken nicht verbirgt, der, wie bekannt, den Grundeinfall seines Büchleins bildet. Der Verdacht liegt allerdings nahe, an dieser Stelle trachte der Interpret selbst etwas zu verbergen, wohl weil ihm – wiederum gewissermaßen – nach so langer Zeit das Wort vom Erzieher, der »auf Konzentration der Kräfte der Nation dringt«, wenn schon nicht anstößig, so doch peinlich geworden ist. Was liegt also näher, den Hauptgedanken der besprochenen Schrift als Marginalie nachzutragen und ihn so ein weiteres Mal zu verfälschen? Denn dass Herder den »Vorzug des weiten Umblicks« nicht als Schwächung, sondern als trügerischen Schein behandelt, dessen Entstehen durch die schwächere Prägung der modernen Individualcharaktere begünstigt wird, bleibt selbst dem historisch wenig versierten Leser nicht lange verborgen. Auch darf man zweifeln, ob es erst des Historismus bedurfte, um an dem Herderschen Dilemma zu scheitern, das aus dem Lehrstück von der unentrinnbaren Verhaftung des einzelnen im – wie die Hermeneutik es formulierte – je eigenen kulturellen Kontext entsteht; der Relativismus kommentiert sich selbst an jeder Stelle negativ.

Ein klarer Fall von Selbstzensur: die karrierefördernde Formulierung aus dem Jahre 1941 weicht der unmaßgeblichen Gebärde dessen, der weiß, dass gegen historische Entwicklungen kein Kraut gewachsen und Licht ohne Schatten ohnehin nicht zu haben ist. Das Motiv wäre zu durchsichtig, als dass es sich lohnte, länger bei ihm zu verweilen. Und auch die Frage, wer nachträglich eigentlich vorm Faschismus-Verdacht geschützt werden musste, der strebsame Philosophiedozent oder am Ende Herder selbst, hat wiederum ein Menschenalter später ihre Brisanz verloren. Was nicht bedeutet, dass man sie gänzlich ad acta legen sollte: während die hiesige Interpretenzunft, wie dies unter Besiegten der Brauch zu sein pflegt, ein neues Herderbild erarbeitete, trug und trägt die Kulturarbeit der vierziger Jahre westlich des Rheins und anderswo noch immer Früchte. Kulturelle Differenz wirkt subkutan, und jene ›Arbeit an der Differenz‹, der sich der junge Gadamer wie andere seiner Zeitgenossen mit soviel unerwiderter Hingabe widmete, wird den Heutigen das Leben auch nach der Jahrtausendwende vergällen, wenn die alten Herren längst ihren Frieden mit der Welt gemacht und das Zeitliche gesegnet haben werden. Nur dass der zwangsläufig hin und wieder aufzüngelnde Zorn der Nachgeborenen nicht mehr Schuldige trifft, sondern Sündenböcke.

Gadamers Hermeneutik – das kleine Beispiel deutet es an – ist nicht nur zeitlich dem Wiederaufstieg der westdeutschen Gesellschaft benachbart. Sie repräsentiert den Geist des Wiederaufbaus, insofern sie in einer totalisierenden Bewegung, deren subkutane, nichtsdestoweniger faktengestützte Verwandtschaft mit der Konstruktion des ›Deutschen Geistes‹ in der ersten Hälfte des Jahrhunderts für die Nachgeborenen erst allmählich an Sichtbarkeit gewinnt, Steinchen um Steinchen das Gebäude einer philosophisch-literarischen Überlieferung wiedererstehen ließ, die, ›im Kern unbetroffen‹ durch die nationalsozialististische Vereinnnahmung, ebenso grundlos unter den Bomben der Alliierten pulverisiert worden war wie die mittelalterlichen Kirchen und barocken Residenzen, welche nach und nach in die seriellen Stadtbilder zurückkehren durften, in denen sie nun wie gestrandete Meeresungeheuer herumstanden. Im Kern unbetroffen: dies zu erweisen, darin lag von Fall zu Fall die von der hermeneutischen Schule geforderte Anstrengung, die nur dann als gelungen angesehen werden konnte, wenn man sich die Arbeit nicht zu leicht machte. Also musste die fatale Tendenz der Tradition so nahe wie nur irgend möglich am Kern lokalisiert werden, um desto triumphaler als fehlerhafte Auslegung, als zu kurz greifende (und die Geschichte des Denkens ›verkürzende‹) Interpretation in den Orkus der Fehldeutungen entsorgt zu werden – nicht zu lange übrigens, da man ihrer unverzüglich aufs Neue bedurfte, um einen anderen Überlieferungstext auf Kosten seiner Umgebung zu retten. Der hermeneutische Subtext macht sich überall bemerkbar – es ist die tabuisierte vorgängige Auslegung, deren sachliche Fehlerhaftigkeit in argumentativ nicht zugänglicher Weise auf das Konto einer anrüchigen Gesinnung gesetzt wird. Der Triumph der jeweils avançierteren Auslegung ist daher ein Triumph über das nachrückende Böse, vor dem man zusammen mit dem ausgelegten Text die eigene Seele in Sicherheit bringt. Gewiss auch die Karriere: ob einer Dreck am Stecken hat oder nur seine Fußnoten nicht unter Kontrolle bringt, macht keinen großen Unterschied, sobald das System einmal installiert und die Diffusion des Bösen perfekt ist.

Man ist gut beraten, die obligate Empörung zu zügeln, um zu ermessen, wie sich der Vortragende 1941, nicht ohne Geschick, seiner kulturpolitischen Aufgabe im geschlagenen Feindesland entledigt. »In der Tat«, merkt er an – und manchem wird er damit ›aus der Seele‹ gesprochen haben –,

mag der Glaube an den Sieg der Vernunft und der Billigkeit nicht nur dem leidenden Teil der Menschheit wie ein Trost beiwohnen, sondern auch den Helden der Geschichte in ihren harten Plänen und Entschlüssen voranleuchten.

Der forcierte Archaismus lässt einen solchen Satz unangreifbar erscheinen, obwohl in ihm die nicht ausformulierte, geschweige denn beantwortete Frage mitschwingt, ob ein solcher Glaube nicht nur zu den Illusionen gehört, deren auch der Schlächter bedarf, um seinem Geschäft mit hinreichender Seelenruhe nachzugehen. Die Nachkriegsfassung wird an gleicher Stelle zynisch: »auch die ›Helden‹ der Geschichte«, heißt es da, »werden für ihre Pläne und harten Entschlüsse in diesem Glauben ihre Legitimation suchen«. Man spürt, dass dieses Mal von anderen ›Helden‹ die Rede ist, dass also das Personal der Betrachtung, nicht aber der Gedanke gewechselt hat. Den Unterschied zwischen den Helden der eigenen und denen der anderen Seite bezeichnen ein Anführungszeichen und ein Wechsel der Stillage: damit ist die Grenze angegeben, die als Grenze und Grund des Verstehens von Gadamer in Herders Kulturtheorie lokalisiert und hermeneutisch angeschärft wird. Gemeint ist nicht die gemeinsame Linie zweier benachbarter Territorien, sondern die Linie, die Sieg und Niederlage voneinander trennt. Sie allein trennt Welten: dem objektiven Zynismus des Siegers, der sich in der unbekümmerten Grausamkeit des Despoten äußert, begegnet der subjektive Zynismus des Verlierers, der weiß, was er von der Vernunft und Billigkeit des Siegers zu halten hat.

Doch nicht ›Sieg‹ oder ›Niederlage‹ lautet die Vokabel, in deren Namen der Philosoph um Gehör bittet, sondern ›Überwindung‹: »Mit dieser Feststellung« – gemeint ist Herders Formel von der Glückseligkeit als »Summe des menschlichen Geschlechts« in allen seinen Zeitaltern –

überwindet Herder nicht nur die Aufklärung, sondern auch ihr Gegenspiel, den Rousseauismus, nicht nur den Intellektualismus der »abstrakten Schattenbilder«, die einen Fortschritt vortäuschen, sondern ebenso den Aufstand des Sentiment: Er wird zum Entdecker des historischen Sinnes.

Taktisch betrachtet, enthält diese Passage einen Appell: man befindet sich, wie es scheint, auf gemeinsamem kulturellem Boden – dem Boden des dialektischen Besinnungsaufsatzes –: Thesis Aufklärung, Antithesis Rousseauismus, dann die Auflösung des Gegensatzes in einem überwölbenden Dritten, dem historischen Sinn. Wie zufrieden der Verfasser mit seiner Lösung ist, verrät die textidentische Fassung von 1967: hier gab es offensichtlich nichts zu verändern. Wie sollte es auch, wenn die gemeinsame Lösung in dem lag, was den deutschen Geist vor allen anderen auszeichnete? Dennoch zwingt die nicht zu übersehende Differenz von Sieg und Niederlage auch in diesem Kernbereich zu Retuschen. »In jedem Deutschen, auch wenn er es nicht weiß oder will, lebt etwas von Herders Seele«: diesen Satz mochte Gadamer seinen Pariser Zuhörern zumuten, nicht jedoch dem heimischen Publikum von 1967. Im Sieg gibt sich das arteigene Denken exklusiv, in der Niederlage wird es die natürlichste Sache der Welt, Gemeingut der Menschheit. Erhalten bleibt die Vorstellung, es müsse wohl ein kultureller, wenn nicht genetischer Defekt im Spiel sein, der verhindere, dass der historische Sinn, einmal entdeckt, sich gleichmäßig über den bewohnten Planeten verteile.

Einem Emigranten, der durch ein Versehen Zeuge jenes Vortrags geworden wäre, hätte er wohl oder übel wie die Rede eines Wahnsinnigen oder eines Heuchlers erscheinen müssen. Man kann sich aber fragen, welche anderen Optionen dem Vortragenden, solange er als Teil des Systems agierte, offen gestanden wären. Wirklich war die militärische Lage, wirklich die Konstellation, in der ihm nur die Wahl blieb, die eine oder andere Seite zu repräsentieren, die siegreiche oder die besiegte – denn dass der innere Feind unter den gegebenen Umständen als besiegt gelten musste, stand außer Zweifel –, wirklich war vor allem die Unwirklichkeit der Situation, die ein paar Jahrzehnte früher wohl noch als undenkbar oder zumindest als ›spießerhaft‹ gegolten hätte: ein Denken bestand darauf, ein anderes Denken militärisch besiegt zu haben, und schickte sich an, den Besiegten die wahren Ursachen seiner Überlegenheit aus der Geschichte nachzureichen. Noch heute können wir diese Unwirklichkeit nicht ganz nachvollziehen, weil der Nazi-Sieg (nicht der erste in dieser Reihe!) eine Serie von Folge-Siegen nach sich zog, die bis heute den Sinn für die Komik des Unterfangens niederhält – bis hin zum Sieg des ›Westens‹ über den Marxismus, den das Jahr 1989 für uns symbolisiert.

Die Welt des Siegers ist eine geschlossene Welt. Das gilt, um ein anderes Beispiel zu bemühen, für die Sowjetunion Stalins, die André Gide in den dreißiger Jahren bereiste und ungenießbar fand, nicht etwa, weil er, wie gehabt, auf Armut und Ausbeutung stieß, sondern weil die Differenz zwischen der siegreichen Ideologie und den von ihr gleichermaßen gezeitigten und verdeckten Resultaten sich ihm als unüberbrückbar darbot. Um die schulmeisterlichen Resultate des Gadamerschen Nachdenkens für ungenießbar zu halten, wäre es nicht unbedingt nötig gewesen, die Differenz von Theorie und Praxis auf seiten der Sieger zu bemerken oder dem eigenen Chauvinismus die Zügel schießen zu lassen. Es hätte ausgereicht, die alten Texte wieder zu lesen und sich einiger Grundsätze geistiger Arbeit zu erinnern, die, anders als in der siegreichen Sowjetunion, weder in Deutschland noch in Frankreich offiziell abgeschafft worden waren. Allein der Sieg genügt, um das Denken zu korrumpieren: wie um diese These explizit zu bestätigen, sieht Gadamer sich genötigt, den Stammvater arteigenen Denkens in dem alles entscheidenden Punkt zu korrigieren: in seinem Verhältnis zum ›Despotismus‹.

Sinnigerweise ist Gadamer seiner Kritik am Vordenker auch in der Niederlage treu geblieben. So liest man in der revidierten Fassung von 1967, Herders Montesquieu geschuldetes Urteil, in der späteren römischen Geschichte sei »nur der roheste Despotismus am Werke«, sei »eine verhängnisvolle Einschätzung Roms, die auf der deutschen Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte lastet.« Das wirkt seltsam, weil Herder den Despotismus keineswegs despektierlich behandelt und die römische Aggression gegen die lokalen und regionalen Kulturen des europäisch-nordafrikanischen Raumes mit dem Hinweis auf ihre weitreichende zivilisatorische Bedeutung verteidigt. Es muss also etwas mit der Infizierung durch Montesquieu, den Vertreter des kurzfristig unterworfenen fremden Denkens, zu tun haben, wenn von dieser Seite das auf der deutschen Geschichte lastende Verhängnis ins Spiel kommt. Der Infizierte weiß, dass die Niederlage sich einer tieferen Zeitspur verdankt als der vormalige Sieg. 1941/42 hatte es, wenngleich an anderer Stelle des Vortrags, geheißen: »Selbst sein« – also Herders – »lebendiger Sinn für die nationale Einheit seines eigenen, so vielfältig gegliederten und zerspaltenen Volkes war von einer echten Vertiefung in die staatsbildnerischen Möglichkeiten des völkischen Gedankens weit entfernt.« Der Vortragende wusste – und weiß – am besten, was daran blanker Nazi-Jargon war. Es fragt sich aber, welche Funktion eine solche Passage in einem Text gewinnt, der, wenigstens der Tendenz nach, auf Proselytenmacherei angelegt ist: der ‚geistige‹ Vertreter der Siegermacht rekapituliert den langen, dunklen Weg, den der völkische Gedanke zurücklegen musste, bevor die gegenwärtige Situation ihn auf der Höhe seiner Möglichkeiten zeigt. Die Rekapitulation enthält den Kotau vor denen, die diese Situation realiter herbeigeführt haben. Der Geist tritt zurück ins Glied – just an der Stelle, an der, wenngleich nur in dezenter Andeutung, von der herrschenden Macht die Rede ist.

Der Vorgang ist so atemverschlagend wie trivial. Der Part des akademischen Intellektuellen endet dort, wo er, dem klassischen Verständnis nach, beginnt: sobald er sein Verhältnis – beziehungsweise das Verhältnis des Geistes – zur Macht bestimmt. Es könnte gut möglich sein, dass all jene, die darin nur Feigheit oder Borniertheit zu sehen vermögen, sich grundlegend täuschen, insofern sie die Machtkonstellation, der sie die Gelegenheit zur eigenen Rede verdanken, vordergründig aus ihren Überlegungen ausblenden, um sie desto gewisser in ihr zu rekapitulieren. Es ist nicht nötig, dass Macht aggressiv auftritt und in Soldatenstiefeln und Uniformen auftrumpft: jede faktische Konstellation enthält genügend Anreize, sich so und nicht anders in Szene zu setzen, und keiner, der in ihr das Wort führt, sollte sicher sein, dass unter seinen Zuhörern nicht auch solche sitzen, denen die Situation das Wort verbietet oder abschnürt. Er darf es nicht einmal wünschen: unter seinesgleichen zu sein, bedeutet den schlimmsten anzunehmenden Unfall. Das Erregende intellektueller Rede besteht darin, den Gegner in die unannehmbare Lage zu bringen, entweder zu konvertieren oder zu replizieren: Entweder gibt man das Spiel verloren oder man akzeptiert die Regel des Spiels und exponiert sich damit existenziell. Das mag herzlich gleichgültig sein, solange man bloß Scheingefechte austrägt, doch schon der Kampf um akademische Pfründen vermag Blessuren zu schlagen und Existenzen zu vernichten. Der Auftritt des forschen Gelehrten muss in dieser Hinsicht als Sternstunde gelten; während er den Fuß auf den Nacken des Gegners stellt, spürt er den keuchenden Atem der Gruppe in seinem eigenen und fällt in ihn ein.

2.

Mit einem polemischen Unterton, der sich der Wanderung des Ausdrucks durch verschiedene intellektuelle Milieus verdankt, nennt man den Vorgang, wo immer er sich abspielt, das Opfer des Intellekts. Die Bezeichnung weckt den Verdacht, es müsse sich um eine Art Betriebsunfall handeln; der ›Geistesarbeiter‹ ›opfert‹ seinen Intellekt, um sich der Gruppe, der Gemeinschaft oder dem Kollektiv gefällig zu erweisen und dafür den Lohn in Form von Zustimmung, Ehrentiteln, Pfründen oder einem Anteil an der Macht einzustreichen. Man meint daher, einen Tadel auszusprechen, sobald man den Ausdruck verwendet: Macht korrumpiert, absolute Macht – die Macht der Gruppe – korrumpiert absolut. Seltsamerweise spricht niemand vom Opfer des Intellekts, um Vorgänge innerhalb der Gruppe oder des Kollektivs zu umschreiben, in denen man sich bewegt und sich auszuzeichnen versucht. Die Bezeichnung setzt offenbar Fremdwahrnehmung, zumindest aber einen zeitlichen Abstand voraus. Den Ausschlag gibt aber nicht die verflossene Zeit, sondern die inzwischen eingetretene moralische Diskreditierung der ehemaligen Akteure. Sie erschwert es dem Kommentator oder macht es ihm gänzlich unmöglich, sich, und sei es auch nur im Spielraum des Imaginären, mit einer Gruppe zu identifizieren, die doch auf moralisch verquere Weise die eigene bleibt. Innerhalb der als intakt wahrgenommenen eigenen Gruppe findet, wie es scheint, das Opfer des Intellekts nicht statt.

Es liegt auf der Hand, dass eine solche Überzeugung die willentliche Festlegung auf die Gruppenperspektive impliziert und sich damit selbst widerlegt. Die Gewissheit, in der eigenen Gruppe in dieser Hinsicht gut aufgehoben zu sein, enthält das Opfer des Intellekts. Um dies wahrzunehmen, bedarf es allein der Außensicht.

Angesichts dieses einfachen Tatbestandes erheben sich Zweifel, ob das Opfer wirklich, wie normalerweise unterstellt wird, als vermeidbar und, da vermeidbar, als unbedingt zu vermeiden angesehen werden muss. Denn auch unabhängig davon, ob wir den Gruppenhorizont für den einzelnen als überschreitbar oder als unüberschreitbar interpretieren – eine müßige Frage, da eines das andere eher ein- als ausschließt –, können wir nicht a priori darüber befinden, was dem einzelnen Gruppenmitglied gut oder vertretbar oder verwerflich erscheinen darf. Wir können es nicht und wir wollen es auch gar nicht. Der Ausdruck ›Opfer des Intellekts‹ zielt nicht primär auf die moralische Qualität der Gruppe und ihres Zusammenhalts. Er zielt – eine Untersuchung der einschlägigen Texte würde es ohne weiteres zeigen – auf die Person, die dieses Opfer vollbracht hat und nun alle Blicke auf sich gerichtet weiß. Vielleicht nimmt sie letzteres auch nur allzu bereitwillig an oder wünscht es sogar. Jedenfalls bedarf es der Überzeugung, als öffentliche Person wahrgenommen zu werden und zu handeln, um diesem Begriff des Opfers einen nachvollziehbaren Sinn abzugewinnen. Das Opfer des Intellekts ist nicht denkbar ohne die Sichtbarkeit des Intellektuellen.

Diese Sichtbarkeit ist nicht auf die Wahrnehmung der Gruppe beschränkt. Die Figur des Intellektuellen ist von außen einsehbar. »Leuchttürme« nannte Baudelaire solche Individuen und setzte sie, zweifellos in propagandistischer Absicht, als Ausnahmewesen in ein besonderes Verhältnis zur Menschheit im allgemeinen. Lässt man die vielleicht allzu kühne Annahme auf sich beruhen, so bleibt der Umstand, dass es im intellektuellen Kontext neben der Binnen- auch immer eine Außenperspektive gibt, die ins Kalkül gezogen werden muss. Während das einfache Gruppenmitglied in der Gruppe ›aufgeht‹, herrscht zwischen dem Intellektuellen und der Gruppe Distanz. Sie lässt ihn für Außenstehende, also für Mitglieder anderer Gruppenverbände, ‚interessant‹ erscheinen, ganz im Sinn des lateinischen inter-esse. Diese Attraktion macht an den Grenzen der Gruppe nicht halt, sondern wirkt über sie hinaus. Umso befremdlicher fällt die Zurückweisung aus, die der entfernte Bewunderer zu erfahren meint, sobald der Gegenstand des Interesses die rituelle Einigung mit der Gruppe vollzieht. Der zum Opfer schreitende Intellektuelle enttäuscht die Gäste von jenseits des Zauns, die sich mehr von ihm erhofften. Die Frage ist, ob sie sich nicht gerade darin täuschten, und, falls dies zutrifft, in welchem Sinn sie sich täuschten und aus welchen Gründen.

Besser wäre es in diesem Zusammenhang vielleicht, nicht ›Gruppe‹, sondern ›Clique‹ zu sagen und damit dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Gemeinschaften, in denen die Institution des Intellektuellen anzutreffen ist, einen Anspruch auf Weltdeutung erheben, der sich unmittelbar auf Nachbarschaftsverhältnisse bzw. auf das Zusammenleben innerhalb komplexer Gruppierungen auswirkt. Eine Clique (im Sinne einer ›verschworenen Gemeinschaft‹) stellt einen permanenten Unruheherd dar, weil ihr Zusammenhalt auf der Nichtanerkennung ‚fremder‹, also extern verankerter Normen und daraus hergeleiteter Ansprüche beruht. Die ›Welt‹, in der die Gruppe operiert, als befinde sie sich auf feindlichem Territorium, wird von ihr als Verfügungsmasse wahrgenommen. In diesem Sinn lässt sich ein Nazi-Intellektueller ebenso wie ein Berufsrevolutionär marxistischen Angedenkens als Angehöriger einer Clique begreifen. Aus dem gleichen Grund können auch Vertreter einer Großmacht, die beschlossen hat, die letzten ›weißen Flecken‹ der Landkarte unter ihre Kontrolle zu bringen, den sogenannten Eingeborenen, die man heute im Vertrauen auf allgemein schwindende Lateinkenntnisse als ›indigene Völker‹ bezeichnet, als Clique erscheinen: als bewaffnete Banden von Ignoranten, die weder begreifen wollen noch begreifen können, auf welchen Fundamenten die Ordnung der Welt ruht, als Tollwütige, die man bestenfalls totschlägt, sofern man über eine zureichende Bewaffnung verfügt.

Bleiben wir ein wenig bei dieser Vorstellung. Die Verständigung auf ein solches Vorgehen setzt voraus, dass man Fachleute für Fragen der Weltordnung konsultiert, also – jedenfalls in religiös fundierten Gemeinschaften – die Priester, denen damit eine indirekte (gelegentlich auch direkte) Macht über Leben und Tod zuwächst – nicht anders als dem Nazi-Denker, der den Fremdbazillus Montesquieu als Ursache der anhaltenden staatlichen Schwäche des eigenen Volkes diagnostiziert, nicht anders als den spanischen Untersuchungskommissionen des sechzehnten Jahrhunderts, die mittels ausgefeilter Torturen dem Forschungsauftrag ihrer Regierung genügten, herauszufinden, ob die Bewohner der Neuen Welt eine unsterbliche Seele besäßen, nicht anders auch als ihren indianischen Gegenspielern, die, nicht weniger grausam, ihre Gegner eingruben, um nachzusehen, ob sie wie menschliche Wesen der Verwesung unterlägen, nicht anders schließlich (sofern man die soziale Kaltstellung in den Katalog der zu ergreifenden Maßnahmen aufnimmt) als so manchem West-Journalisten, der bei ehemaligen DDR-Größen ein- und ausging, um an ihrer Aussprache oder dem Strickmuster der Häkeldeckchen auf der Vitrine das Ausmaß ihrer Verstocktheit zu diagnostizieren.

Solche Operationen an den Grenzen der Welt, welche stets die eigene ist, können dramatisch verlaufen, wenn sie die Anerkennung und sogar die Apotheose der anderen Seite einschließen. Wie ein wissenschaftliches Märchen – zu schön, um wahr zu sein, und zu wahr, um nicht der Auslegung offenzustehen – liest sich zum Beispiel, was der Anthropologe Sahlins über James Cooks Besuch auf Hawaii in den Jahren 1778/79 schreibt. Danach erschienen Cooks Expeditionsschiffe just zu einer Zeit vor der Hauptinsel des Königreichs, als dort das Fest der jährlichen Wiederkunft eines Gottes namens Lono im Gange war. Im Mythos ist Lono der Gott, der – vor Zeiten, versteht sich – über das Meer kam, um über die Insel zu herrschen. Während dieser Feierlichkeiten ruht das Regiment des eingesessenen, einer anderen mythischen Genealogie verpflichteten Königs. Man ahnt, was geschehen wird, was geschehen muss, da die mythologisch gefestigte Welt der Hawaiianer keine andere Deutungsmöglichkeit bietet. Cook betritt die Insel als Gott Lono, unwissend zwar, doch nicht ohne Sinn für die von ihm herbeigeführte Situation. Letztere ist für beide Seiten ungewöhnlich: auch die Hawaiianer müssen sich erst mit dem Gedanken einer mehr als symbolischen Gegenwart des Gottes vertraut machen. Andererseits hat der Entdeckungsreisende selbst bereits unwissentlich einen Teil der rituell geprägten Erwartungen durch sein Verhalten vor der Landung erfüllt. Und nicht nur das: er erweist sich als verwöhnt – und aufgeklärt – genug, um die an ihn herangetragene Rolle anzunehmen, ohne zu wissen – oder, falls er etwas ahnt, das Ganze ernst zu nehmen , dass das Ritual unter feierlichen Menschenopfern mit dem symbolischen Tod des Gottes zu enden pflegt, aus dem diesmal – durch eine Verkettung unglücklicher Zufälle, wie der Interpret hervorhebt – eine reale Tötung wird.

Bedenkt man den Vorgang aus einiger Distanz, so erscheint als die vordringliche Aufgabe, vor die das unvermutete Erscheinen der Fremden inmitten der Feierlichkeiten die hawaiianische Priesterschaft stellt, ihre Identifikation. Einerseits musste die Rolle des Gottes dem Anführer der Fremden wie auf den Leib geschneidert erscheinen. Andererseits konnten die Folgen der Operation sich, nicht zuletzt für den Kult selbst, als weitreichend erweisen. Nachdem das Zeremoniell die Auffrischung durch einen Darsteller aus Fleisch und Blut anstelle des üblichen Götterbildnisses offensichtlich zuließ und sogar beförderte, scheinen die Komplikationen, vom tödlichen Ausgang abgesehen, gering gewesen zu sein. Es sieht so aus, als seien Cook und seine Leute eine ideale Besetzung gewesen. (Übrigens waren sie bereits ein knappes Jahr vorher auf zwei anderen Inseln des Archipels gelandet, ohne durch Göttlichkeit auffällig geworden zu sein; Spekulationen über ihre etwas abweichende Menschennatur dürften also unter der Inselbevölkerung im Umlauf gewesen sein.)

Nun sind solche Urteile ihrer Natur nach zweideutig: ohne Blinzeln und Durch-die-Finger-Sehen lässt sich, jedenfalls in bezug auf den Hauptpunkt, wenig ausmachen. Vermutlich unterschied sich der Vorgang nicht grundlegend von der peinlichen Selbstbefragung des Politbüros der DDR im Herbst 1989, ob das, was sich draußen auf den Straßen abspielte, die Revolution war – eine aus westlicher Sicht einigermaßen seltsame Frage, die bloß den alten, unter aufgeklärten Zeitgenossen für tot gehaltenen Revolutionsmythos aufwärmte, aber eben auch eine Frage, deren Beantwortung über Leben und Tod vieler Menschen entschied. Zum Glück stellte sich heraus, dass die bürgerrechtlich bewegten Intellektuellen draußen und die Parteistrategen drinnen in diesem Fall zum gleichen Ergebnis kamen, dass also eine strategische Allianz hielt, die einst zu ganz anderen Zwecken geschmiedet worden war. Das Glück der Hawaiianer, welches das Glück und Unglück des Kapitän Cook umschloss, zeigte sich hauptsächlich darin, dass sie sich fortan aus eigener Deutungsmacht als Untertanen der britischen Majestät betrachten durften und diese Lesart ironischerweise gegen den Unwillen der europäischen Kolonialmacht (die Verwicklungen mit den Vereinigten Staaten scheute) in Szene setzten, wann immer es ihrem Vorteil dienen konnte. Hier hinkt der Vergleich, da der westdeutsche Staat nicht nur seine Sympathieträger schickte, sondern zur realen Übernahme bereitstand – unter anhaltenden intellektuellen Scharmützeln, die sich nicht zuletzt daran entzündeten, ob man die revolutionäre Gretchenfrage in den DDR-Machtzirkeln nicht doch am Ende zu defätistisch behandelt und damit einem in Wahrheit reaktionären ›Umschlag‹ – »Wir sind ein Volk« – Vorschub geleistet habe.

Die Identifikation des Unerwarteten als die vornehmste Aufgabe, die Intellektuellen innerhalb ihrer Gruppe oder Gemeinschaft zufällt, birgt ein hohes Risiko. Das gilt für das Kollektiv, da es das Risiko der einmal gefällten Entscheidung tragen muss, es gilt aber auch für den Intellektuellen, der durch sein Votum Einfluss auf die Entscheidung nimmt. Beide Risiken hängen zusammen, wie das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern anschaulich macht. Der Kaiser ist nackt: die Botschaft gefährdet den, der sie ausspricht, weil sie all diejenigen in Gefahr bringt, die darauf bauen, dass es mit dem kaiserlichen Ornat schon seine Richtigkeit habe. Am Ende wird sich ihre Wut oder ihre Verzweiflung gegen jene richten, die sie zum Glauben an des Kaisers neue Kleider angestiftet haben. Soll heißen: da Machtattribute oder -symbole gelegentlich über Besitz und Verlust realer Macht entscheiden, darf denen, die sie lancieren, kein Fehler unterlaufen.

Die Eingliederung des kategorial noch nicht erfassten Fremden in den symbolischen Kosmos der Gruppe ist eine Dienstleistung für beide Parteien, deren Asymmetrie ins Auge springt. Auch wenn der Fremde sich – im günstigen Fall – als Nutznießer der Operation betrachten darf, bleibt das Ergebnis ambivalent. Gleichgültig, ob der Priester oder Intellektuelle aus subjektiver Einstimmung in den Gruppenegoismus handelt oder nicht, die Bedeutung seiner Person wie seines Tuns bemisst sich an der ihm innerhalb der Gruppe übertragenen Aufgabe. Im Prinzip handeln die Priester des Lono nicht anders als der Bauchredner des Deutschen Geistes. Sobald die Identifikation des Fremden sich als Fehlleistung entpuppt – dort, weil der Fremde, hier, weil das Kollektiv an der ihm verordneten Aufgabe versagt –, bekommen die Worte plötzlich ein anderes Gewicht und es beginnt ein Lavieren, das im einen Fall einem explosiven Ausgang – Tod und Apotheose des Fremden –, im anderen Fall einem lebenslangen, schulmäßig betriebenen Exkulpationsprozess – Konstruktion der Unbetroffenheit des in Wahrheit Gemeinten durch die Katastrophe – zustrebt.

Worin besteht dann aber, genau gesprochen, das ›Opfer des Intellekts‹? Keineswegs darin, so müssen wir konstatieren, dass derjenige, der es vollzieht, seinen Intellekt ›wegwirft‹. Wie jedes andere ist auch dieses Opfer ein symbolischer Vollzug. Der Priester-Intellektuelle, dessen Rede durch die Differenz zur Rede der anderen legitimiert wird, sei es, dass sie sich als religiöse Rede von der des Alltags unterscheidet, sei es, dass sie als wissenschaftliche oder freidenkerische Rede in doppelter Abgrenzung gegen die normale Rede sowie gegen die der Kollegen und Konkurrenten um kleinere oder größere Sinndeutungsmonopole ihre Prägnanz gewinnt, macht kenntlich, dass diese Differenz nicht nur gegeben, sondern gerechtfertigt ist, weil sie die einzige (und einzigartige) Möglichkeit zur begründeten Einstimmung bietet. Was in der Alltagsrede auf einfache Weise erscheint, wird durch die differente Rede herausgearbeitet und zustimmungsfähig. Im Gewirr der Deutungen gebietet der Denker Einhalt, indem er die Ansichten der einen oder anderen Partei mit dem Tiefsinnsindex des ›zu Recht‹ Gemeinten versieht. Die Identifizierung des Fremden vollzieht sich über die Bekräftigung von Identität. Das differente Denken enthüllt sich als wesentlich identisch mit dem der Gruppe. Nicht ohne Grund, denn anders bliebe das Fremde das Fremde, das sich dem Wahrnehmungs- und Beurteilungssystem der Gruppe aus Gründen entzieht, die ihr notwendig dunkel bleiben. Ob die Einstimmung offen oder versteckt praktiziert wird, hängt von Positionen und Interessenlagen ab: Während die offene Einstimmung eine momentane Aura öffentlicher Unverwundbarkeit erzeugt, immunisiert die versteckte Einstimmung gegen die Ranküne der Kollegen, welche die darin enthaltene Drohung zu würdigen wissen.

3.

Die rituelle oder akademische oder publizistische Freistellung des Intellekts ist an einige deutliche Voraussetzungen geknüpft. Diese Voraussetzungen betreffen sowohl die Selbststilisierung der Person als auch bestimmte Aspekte der von ihr zu erwartenden Leistungen.

1. Sichtbarkeit. Um sichtbar zu sein und Gehör zu finden, genügt es nicht, eine Meinung zu haben oder sich auf die Rechte des Individuums zu berufen. Schon gar nicht genügt es, besser zu sein, klarer zu denken, informierter zu handeln etc. als andere. Sichtbar werden heißt, eine gegebene ›Rolle‹ zu übernehmen und in ihr wahr- bzw. angenommen zu werden. Das mag auf den ersten Blick trivial erscheinen, aber es hat zur Folge, dass jeder, der den Schritt vollzieht, in den Sog kollektiver Erwartungen und Enttäuschungen gerät, der unweigerlich jedes ›Sachthema‹ überformt, weil jederzeit der Entzug der Lizenz droht, gehört zu werden und darin sein ›Auskommen‹ zu finden.

2. Schlüssigkeit. Gewohnt, bei diesem Stichwort die interne Schlüssigkeit des Gesagten oder Geschriebenen zu assoziieren, also seine logische Stimmigkeit, übersieht man leicht, dass die Bereitschaft, etwas Gesagtes als ›schlüssig‹ zu akzeptieren, vor allem von äußeren Faktoren bestimmt wird. Schlüssig ist, was nachvollzogen werden kann, weil es an vertraute Muster anschließt – vorzugsweise an solche, die der Aufnehmende ungern aufgeben würde. Das Postulat der ›Anschlussfähigkeit‹ von Theorien enthält deshalb einerseits eine Trivialität, andererseits eine Kränkung des denkenden Individuums; eine Trivialität, weil Denken so und nicht anders funktioniert, eine Kränkung, weil es das freigestellte Individuum daran erinnert, dass seine ›intellektuelle‹ Selbstermächtigung von der Gruppe in allen Punkten ignoriert wird. Gleichgültig, ob es sich um Schamanen, Priester oder Intellektuelle handelt: man hört auf sie, solange sie das sagen, was man von ihnen erwartet. Dazu gehört, kein Zweifel, das Überraschende, das Staunenerregende, in manchen Kulturen das Originelle. Doch geht die Bereitschaft, sich in Staunen versetzen, überraschen, durch Originalität verblüffen zu lassen, nicht über einen prinzipiell bestimmbaren Rahmen hinaus – jenseits davon erlischt das Interesse der anderen rapide und für den einzelnen wird es kritisch.

3. Triftigkeit. Nicht jede ›Lösung‹ eines Problems wird von der Gruppe akzeptiert. Das fällt besonders dann auf, wenn etwa der fachliche Kontext wenig Raum für Einwände lässt: die Rede vom akademischen oder literarischen Elfenbeinturm variiert, auch wenn sich in friedfertigen Gesellschaften mit ihr leben lässt, die aggressiveren Vorwürfe intellektuellen Schmarotzertums und elitärer Dekadenz nur graduell. Letzten Endes erwartet die Gruppe von ihren Vordenkern, dass sie Gefährdungspotentiale abschätzen können, die das Alltagsmaß überschreiten oder angesichts derer das verfügbare Alltagswissen versagt. Die Geschichte vom Glück und Ende des Kapitän Cook macht das auf dramatische Weise deutlich: seine unvorhergesehene Rückkehr auf die Insel nach dem Abschluss der cum grano salis ihm gewidmeten Feierlichkeiten verwandelt das heitere symbolische Regiment des Gottes Lono in einen realen Angriff auf die bestehende, gleichfalls rituell verankerte Herrschaft. Noch drastischer tritt der Gesichtspunkt in der Gadamer-Rede hervor, weil er der im Grunde harmlosen Auslegung eines entlegenen historischen Textes einen wahnhaften Zug verleiht. Gerade weil der Herder-Text keinen unmittelbaren Bezug zur Gegenwart besitzt, muss die Aktualisierung gelingen, und worin sonst könnte sie gelingen als in der sachlich ziemlich überflüssigen Affirmation der aktuellen militärischen Lage? Jede ›intelligentere‹ Lösung hätte ein Scheitern impliziert, zu dem der Redner sich in der gegebenen Lage nicht verstand.

Diese drei Kriterien – man sollte sie eher Mechanismen nennen, Mechanismen der Ergebung oder des Sich-Fügens in die Rolle des Priester-Intellektuellen – koinzidieren in dem des Opfers. In der Ausübung des Opfer-Amtes betätigen sich die modernen Intellektuellen als Fortsetzer und Imitatoren priesterlichen Tuns. Die Erwartung des Götter-Spruchs in dem einen und des ›erlösenden‹ Einfalls in dem anderen Fall bewegen sich, historisch gesprochen, innerhalb gleicher oder analoger Mythologien – ein Hinweis, nicht mehr, nicht weniger, auf die Verwandtschaft der einschlägigen Handlungen oder ›Vorgehensweisen‹. Die durchgeschnittene Kehle, der christliche Hokuspokus, die Pointe eines Vortrags, sie alle zielen auf das Raunen, in dem sich maximale Distanz und maximale Einstimmung treffen: Es ist vollbracht. Sobald das Geschehen diesen Punkt erreicht hat, wechselt die Sprache. An die Stelle der an der Differenz trainierten Sprache des in ›Arbeitszusammenhängen‹ stehenden Individuums tritt die Sprache des Kollektivs, das von nun an ›im Grunde‹ Bescheid weiß, auch wenn die Gebärden des Priesters vielsagend und die Andeutungen des Vortragenden (wie im vorliegenden Fall) sparsam bleiben. Es ist nicht nötig, dass der Vortragende ausbreitet, was sich ohnehin jeder denken kann, es wäre sogar kontraproduktiv, weil es seine Autorität in künftigen Fällen mindern könnte. Er hat getan, was seines Amtes ist; was dann beginnt, ist Sache der anderen.

Angesichts des Opfervorgangs verblasst die Differenz zwischen dem Drang des einzelnen, sich auszuzeichnen, und seiner Angst, als unbotmäßig verstoßen zu werden. Die individuelle Disposition ist nicht von Belang, sie macht sich allenfalls subjektiv bemerkbar wie Schweißausbrüche oder dergleichen. Allerdings – und hier wird die Sache spannend – kommt sie als Faktor ins Spiel, sobald die Identifikation des Fremden sich als Fehlschlag erweist und revidiert werden muss. Dies – ich deutete es bereits an – ist der Moment, in dem für denjenigen, der die Identifikation vollzogen oder auch nur öffentlich sichtbar mitvollzogen hat, alles auf dem Spiel steht, im äußersten Fall die biologische, im minderen (der von manchen als härter empfunden wird) die soziale Existenz. Hier sind sogenannte menschliche Eigenschaften wie Entschlussfreude und Tatkraft, aber auch intellektuell mindere Fertigkeiten wie Schläue, Anpassungsvermögen und Verstellungskunst gefragt, die zu den genannten Dispositionen in einem unmittelbaren Verhältnis stehen. Kategorien sind dehnbar – das bedeutet: Auf ein Neues!

Die Quellen schweigen darüber, ob die Stimme der Lono-Priester bei Cooks zweiter Landung erneut Gehör erlangte oder ob diesmal andere Priester und andere Götter das Sagen bekamen. Im ersten Fall dürfte das Auslegungsparadigma gedehnt, im zweiten verlassen worden sein. Im Falle Gadamers hingegen ist die Quellenlage ausgezeichnet, auch das Resultat gestattet kaum Zweifel – die Nachkriegskarriere stellt hier alles in den Schatten, was sich der vormalige Nachwuchswissenschaftler rechtens träumen lassen durfte. Man kann die Hermeneutik von Wahrheit und Methode mit ihren Schlüsselbegriffen wie Horizontverschmelzung etc. als den gelungenen Versuch bezeichnen, ein zur Identifizierung des Fremden innerhalb der eigenen Kultur ersonnenes Verstehensmodell zu anthropologisieren und damit in einer Weise zu universalisieren, die der anfänglichen Zielsetzung mehr oder minder strikt zuwiderläuft. Das Fremde gilt nun nicht mehr als das zu Entfernende oder wenigstens auf Distanz zu Haltende, sondern als das ›schon immer‹ ins Vorhandene Eingelagerte und in ihm Anzueignende – ein Trick, ein Vorzeichenwechsel, dessen Funktion ebenso offen zutage liegt wie die der Montesquieu-Stelle im Pariser Vortrag von 1941.

Auf welche Gefährdung, so lässt sich fragen, antwortet die Nachkriegshermeneutik? Worin liegt das Schlagende ihrer Erfindung (falls man in ihr eine Erfindung und nicht nur eine propagandistisch geschickte Zusammenstellung älterer Versatzstücke sehen möchte)? Im Hinblick auf das Jahr 1945 und seine Folgen für die Verlierer-Nation drängt sich die Antwort auf, es habe sich – soweit damals möglich – um ein Manöver zur Rettung einer Tradition gehandelt, die durch das Auftauchen der neuen transatlantischen Götter in eine tödliche Krise geraten sei. Angesichts aller möglichen mentalen und institutionellen Neubesetzungen sollte es naheliegen, diese Bemühungen auf das Korpus der überlieferten Texte zu konzentrieren. So zu argumentieren hätte aber bedeutet, sich öffentlich einer Denkfigur zu bedienen, die bereits vor der Katastrophe am Werk war und in gewisser Weise für die Katastrophe verantwortlich gemacht werden konnte. Es musste also etwas hinzukommen: eine gewisse Verschwiegenheit auf der einen, eine gewisse skrupulöse Redseligkeit auf der anderen Seite, die das Heideggersche Existenzial des Verstehens in den Rang einer an im Grundsatz beliebigen Gegenständen trainierbaren und zu einer öffentlichen Kunst des Raunens ausgestalteten Über-Disziplin erhob, deren Siegeszug irgendwann jeden Versuch, ohne den Umweg der Geisterbeschwörung mit den Texten umzugehen, zum Scheitern verurteilte.

Die kollektive Wirksamkeit verbürgende Pointe der Nachkriegshermeneutik liegt darin, dass sie lehrt, das Eigene als ein Fremdes auszuzeichnen (als ein innerhalb der gegenwärtigen Weltkultur halb und halb Ausgesperrtes, auf jeden Fall aber seines Eigengewichts Beraubtes) und über die dadurch in Gang gesetzte ›Verstehensleistung‹ für das operationale Denken zurückzugewinnen. Für dieses Eigene stehen die historischen Texte, deren ›Aneignung‹ – verräterisches Wort – eine Enteignung voraussetzt, über welche der Interpret nur indirekt, durch die Richtung seiner Lektüren, Auskunft gibt.

Die Fremdheit lokaler oder nationaler Traditionen in der modernen Welt ist aber ein Thema, auf das sich Sieger und Verlierer, Opfer und Täter, Kolonisierer und (De-)Kolonisierte innerhalb der ›gegenwärtigen Weltkultur‹ gleichermaßen einigen können. Es ist ein universales Thema für eine sich universalisierende Welt. Die Götter landen gewöhnlich nur einmal – in der Normandie oder wo auch immer. Danach gilt es, die Grenzen der Welt neu zu erfinden, indem man über den festgezurrten Macht- und Verkehrsverhältnissen das Spiel des Eigenen und des Fremden als ein mentales Ereignis inszeniert. Dieses Spiel ist an keine bestimmte Sprache und keine bestimmte Überlieferung gebunden. Buchstäblich kann es jederzeit an jeder beliebigen Stelle beginnen. Die Identifikation des Fremden verschmilzt darin mit der Selbst-Identifikation: Es gibt immer etwas zu entdecken, sobald jemand in die Ablagerungen älterer Denk- und Verkehrsformen eindringt und der ebenso fordernden wie unbestimmten Vermutung Raum gibt, dies alles sei in ihm selbst irgendwie noch vorhanden. Das ist Schein; da das Selbst einen projektiven Charakter besitzt, erweist sich jede Identifikation über tradierte Bestände als kontingent, da ferner dem Identifikationsbedürfnis kaum Grenzen gesetzt werden können, produziert es ihn zwangsläufig und zwangsläufig immer wieder neu. Für Hermeneuten-Arbeit ist also gesorgt.

Das Thema führt ins Weite, genauer gesprochen, in das weite Mittelfeld zwischen methodologischer Reflexion und Gesinnungsbildung, in dem die Humanwissenschaften sich tummeln; es war meine Absicht, einen Weg dorthin zu markieren. Ich möchte nicht ohne eine Bemerkung enden, die manchem polemisch vorkommen dürfte, obwohl sie keineswegs so gemeint ist. Das gelegentlich rührend anmutende Erschließen immer neuer Kulturwelten, das mit der Entdeckung ferner Galaxien in der Astronomie zu wetteifern scheint – und analoge Ansprüche auf Fördermittel aus öffentlichen oder privaten Quellen begründet –, die triumphale Einholung des vage personalisierten Fremden in die kulturwissenschaftlichen Käfersammlungen, dieser ganze von einer weltweiten Interpreten-Gemeinde inszenierte Kult der Verständigung birgt einen beunruhigenden Aspekt. Das identifizierte Fremde bleibt, wie gesagt, das Fremde; die Bestimmungen mögen ambivalent sein, nicht jedoch ihre Bestimmung. Die Heterogenität der Ursprünge verbürgt die Divergenz der Herkommen und damit die Möglichkeit, Fremdheit im Sinne einer eigenbedeutsamen Andersheit nach Belieben zu manipulieren. Alle Kulturen kennen die Art von Vorratshaltung, deren Objekte die Griechen ›pharmakoi‹ nannten: Personen, die bei Bedarf dazu bestimmt waren, geopfert zu werden. Die wissenschaftliche Vermehrung des Fremden vermehrt auch die Zahl der verfügbaren Opfer. Toleranz ist die Kehrseite der Intoleranz, ihr Wechselspiel bleibt tückisch.

 

Anmerkungen

 

 

Notizen für den schweigenden Leser

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