Als Ionas mit einem gewaltigen Rülpser aus dem Bauch des Wals entlassen wurde, da fand er sich nicht, wie oft behauptet, an einem abgelegenen Gestade wieder, sondern im Zentrum einer volkreichen Stadt. Der Wal, geplagt von seinem Gedärme, war die Flüsse hinaufgeschwommen, solange sie ihm passierbar dünkten. Hier aber, vor einer adlergeschmückten Brücke, hatte er den point of return erreicht und verabschiedete sich von der staunenden Menge mit einer gewaltigen Fontäne, die in die Geschichtsbücher einging.

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Ionas, erschauernd in seiner durchweichten Kleidung, nahm die Gelegenheit wahr und begann den Gaffern zu predigen. Ein Ausflugsboot rauschte vorbei und Ionas’ erste Worte gingen im Megaphon-Krächzen unter, das der Brücke und ihrem historischen Adler galt. Es war eine geschichtsstolze Stadt, in die es ihn verschlagen hatte, und die Touristenführer, geldgierig wie eh und je, nahmen die Gelegenheit wahr, ihre Einnahmen zu steigern, indem sie sich darin überboten, auch das aktuelle Geschehen in ihre Suada aufzunehmen. So kam es, dass das Ausflugsboot zurückkehrte und zu seinen Füßen still stand.

Ionas aber – man beachte das aber –, Ionas rühmte den blitzwachen Geist des Fremdenführers, sprach ihn an und forderte ihn ohne Umschweife auf, das Schicksalswort ›fremd‹ aus seiner Berufsbezeichnung zu streichen. »Da ich selbst aus der Fremde komme, weiß ich, wie weh es tut, als Fremder empfangen zu werden und nicht als Freund, Nachbar, Hausgenosse, so wie es dort Sitte und Brauch ist, wo meine Seele aufbrach und, ehrlich gesagt, noch innerlich weilt. Die Seele hat andere Gangarten als der Körper. Wenn auch der Leviathan mich hergeschleppt hat, so ist mir doch, als wäre ich auf Engelsflügeln eingeschwebt. Wie gesagt, noch immer schwebe ich über dem Asphalt dieser grauen Stadt, wenngleich unmerklich. Wisset also« – hier wandte er sich wieder dem großen Publikum zu –, »ich bin gekommen, um zu bleiben, weil ihr mich liebt

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Der letzte Satz verursachte Unruhe unter dem zusammengelaufenen Publikum. Auch vom Boot kam Protest. Ionas lächelte innerlich, denn er wusste: Mit Speck fängt man Mäuse.

»Ich bin, der ich bin«, fuhr er fort, »ich bin einer von euch, wer ihr auch seid. Ihr versteht recht gut, was ich euch damit sagen möchte. Ich habe vernommen, dass ihr stolz auf eure komplizierte Vergangenheit seid und euch die Teile davon zurückwünscht, die euch, je nach Herkunft, schmecken, während ihr den Rest zum Teufel wünscht. Ihr könnt es glauben oder auch nicht: Kehrte die berühmte Vergangenheit eines Tages zurück, dann herrschte Heulen und Wehklagen und verfluchen würdet ihr die heimliche Stunde, zu der ihr sie eingelassen hättet. ›Wie konnten wir so fahrlässig sein‹, würdet ihr jammern. ›Dass gerade uns das passieren musste!‹ Warum wohl? Ich frage bescheiden: Warum wohl? Reden wir einmal Tacheles: Selbst in diesem, dem schlimmsten Fall würdet ihr noch glauben, ihr wäret die Herren der Geschichte und könntet ihren Lauf mit einem Fingerschnipsen verändern. Wie in alten Zeiten! Wie in den übelsten aller üblen Zeiten!

Nun, so höret. Meinetwegen schnipst mit den Fingern, soviel ihr wollt. Die Vergangenheit kehrt zurück, sofern sie zurückkehrt, aber nach eigenem Gusto. Schnipst, soviel ihr wollt! Der Zug der Zeit rollt unaufhaltsam und was erst aussah wie eine idyllische Wiederkehr, wird sich bald schon als mächtiger und umfassender erweisen als jede eingebildete Vergangenheit. Die Vergangenheit ist kein Lufthauch, der durch ein geöffnetes Fenster einströmt, das man nur zu verschließen braucht, sobald einen fröstelt.«

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»Nein, so ist es nicht«, schwatzte er leutselig, an seine nächsten Zuhörer gewandt, die ihn schweigend und mit gesenkten Köpfen im Kreis umstanden. »Ich habe den beschwerlichen Weg an euer Gestade nicht unternommen, um euch über eure Vergangenheit zu belehren. Immerhin scheint ihr mir nicht ganz firm in ihr zu sein. Wie zerronnen, so gewonnen: Klammert euch nicht ans Vergangene! Was immer ihr von ihm haltet, Tatsache ist, es bleibt vergangen. Wiederkehr feiert es bloß im Geschwätz. Das aber, mit Verlaub, kennt nur eine Zeit, die Zeit der Dummen, bekanntlich eine Abart der Zeitlosigkeit ohne alle Bedeutung. Ist euch die Zeit zu kostbar dafür, dann befolgt die alte Schiffsfahrerregel und werft den Krempel über Bord.

Über Bord damit! Nun zu dem, was mich bewogen hat herzukommen. Ich bin Ionas der Jüngere aus dem Geschlecht der Ionaiden, einer zerstrittenen Truppe, der es nie gelang, untereinander Frieden zu stiften, geschweige denn, ihn zu erhalten. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich rede und warum ich so rede, wie ich nun einmal reden muss. Ich bin der von weither. Ich weiß, ihr seid in Parteien zerfallen, die sich gegenseitig angiften, als gelte es, die Wiederkehr des Bösen zu verhindern, das niemals wiederkehren darf, oder mit Verve in eine Zukunft zu steuern, die niemals eintreten wird.

Worauf ihr euch verlassen könnt! Glaubt nicht, ihr wäret unschuldiger als eure Vorfahren. Keines ihrer Drehbücher wurde für euch geschrieben. Nebenbei, warum versteckt ihr eure Leichen so sorgfältig vor euch selbst? Der Grundsatz Schuld sind immer die anderen ist die Wurzel allen Übels, vor allem dann, wenn es sich um künftige Schuld handelt, während die gegenwärtige unter der Erde wimmert. Hört ihr nichts, wenn ihr euch zu Bett legt? Spürt ihr nichts, wenn ihr die Füße auf den Boden stellt, einen nach dem anderen, dass es nicht auffällt? Sicher ist, dass ihr euch gegenseitig nicht loswerdet, so angestrengt ihr miteinander auch ins Gericht geht. Der Gedanke kränkt viele, aber er ist doch wahr. Sie wollen ihn bloß nicht wahrhaben. Das liegt daran, dass ihr alle in einem einzigen Kampf befangen seid, genauer gesagt, in einem Kampf mit euch selbst.

Damit komme ich auf meinen Punkt. Gebt acht, dass ihr ihn nicht verpasst! Ich gebe zu, er verpasst sich leicht, eine winzige Unaufmerksamkeit und es ist um ihn geschehen. Im Grunde – man muss nicht weit gehen, um das zu entdecken –, im Grunde denkt ihr alle dasselbe. Ich könnte dafür das Wort ›zwanghaft‹ verwenden, aber ich verkneife es mir. Es macht nur böses Blut. In jedem Kopf ist ein Schalter angebracht, der, je nachdem, in welche Richtung er umgelegt wird, den Hass einmal auf die eine und einmal auf die andere Seite lenkt. Ihr nennt das mit einer eurer beliebten Phrasen switch – nennt es wie ihr wollt, aber bildet euch nicht ein, ihr könntet damit zu anderen Gedanken entlaufen, euer Umschalter ist bloß ein Entwerter und er entwertet einmal das eine und dann das andere Ideenbündel. Das ist euer ganzer Kampf. Pech nur, dass zwischen den beiden Ideenbündeln ziemliche Symmetrie herrscht, so dass das eine immer das andere als Verbotenes mit aufruft. Natürlich erzeugt das Hass, Selbsthass, um genau zu sein. Euer Hass stellt nichts anderes dar als das Bewusstsein der Aussichtslosigkeit dieses Dilemmas. In eurer Not habt ihr ihn sogar unter Strafe gestellt, bloß um der herrschenden Zwietracht ein Ende zu setzen. Das ist natürlich, psychologisch-faktisch gesehen, absurd, auch wenn es, menschlich gesehen, den einzigen Ausweg zu bieten scheint. Politisch gesehen ist es hingegen sehr schlau.«

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Einzelne Zuhörer begannen abzuwandern, nachdem sich ein paar Wolken am Himmel zeigten und ihr Interesse abkühlten. Andere gaben Laute des Unmuts von sich und ein Chor skandierte: Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit! Unbeeindruckt fuhr Ionas fort:

»Der Hass – oder besser: die Erbitterung – scheint etwas Reelles zu sein, weil er – oder sie – den ganzen Menschen erfasst, also den inneren Zwiespalt überdeckt, der doch die Grundlage der Erbitterung darstellt. Wie immer in Fällen von psychischem Kidnapping soll der Kampf entscheiden: Die andere Seite muss über kurz oder lang fallen und der Sieg wird unser sein. Er wird, weil er soll: Das ist die Formel aller Wirklichkeitsverleugner. In Wirklichkeit – jaja, ›in Wirklichkeit‹ – treibt er den Gegensatz nur auf die Spitze, wohlgemerkt: der Absurdität. Einmal auf diesem gar nicht so einsamen … gar nicht so einsamen Gipfel angekommen beginnen wir Hütten zu bauen, erst eine, dann zwei, irgendwann türmt man Bollwerke gegeneinander auf, um die der Höhenwind heult, von dem manche behaupten, es handle sich um den Wind des Wandels. Er heult aber bloß, was drunten im Tal die Spatzen von den Dächern pfeifen, allerdings mit Orkanstärke.

An dieser Stelle könnte ich mir die Sache leicht machen und die Arme ausbreiten: Friede sei mit euch! Was spricht dagegen? Friede, Friede, Friede! Ihr hört heraus, was ich damit sagen will? Dafür müsstet ihr schon ansatzweise eine Gemeinde sein und nicht zwei. Die eine Gemeinde vernimmt das Friedensgeläut, die andere hört bloß den Lärm. Was spricht gegen die Sprache der Frommen? Ganz einfach: auch sie erregt, wie jede andere, Anstoß. Wo immer die Guten die Bösen und die Bösen die Guten … da herrscht die Konfession. Nicht eine, sondern zwei, mindestens zwei, doch in Konfessionskriegen rücken die kleinen mit den großen zusammen und bilden Blöcke. Im durchsäkularisierten Land geben die Frommen den Ton an. Warum nicht, frage ich. Im Krieg der Konfessionen beginnen Bekenntnisse mitzumischen, die hierzulande – warum nicht zu Wasser und in der Luft? – bis dato keine Rolle spielten.«

Der Kapitän klatschte Beifall und rief: »Bravo!« Ein paar Sonnenhungrige auf dem Oberdeck zischten.

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»In diesem alles überwölbenden Heute wandert alles hinein in die große Erbitterung, als brodle in diesem Topf euer aller Zukunft –: und vielleicht ist es ja so, vielleicht muss alles dort hinein, um zurechtgekocht zu werden, so dass irgendwann etwas Genießbares herauskommen wird. Vielleicht, vielleicht auch nicht! Niemand kennt die Zukunft, auch wenn einige von uns gern den einen oder anderen Zipfel lüpfen möchten. Am reellsten sind die Bevölkerungsspezialisten, deshalb werden sie von allen Seiten am erbittertsten bekämpft.

Wo war ich stehen geblieben? Ganz recht, beim Krieg der Konfessionen. Wie ihr merkt, spreche ich ausdrücklich nicht von Parteien. Parteien hängen ihr Mäntelchen in den Wind, soll heißen, die führenden Cliquen legen den erwähnten Schalter um, sobald es dem eigenen Vorteil dient, auch wenn es bei solchen Anlässen furchtbar knackt. Parteimenschen schreckt das Furchtbare nicht, sie sind sich selbst das Furchtbarste, was sie zu gewärtigen haben. Parteien – ich rede von den augenblicklichen, nicht von den alten Zeiten – sind hirnlos. Was manche ihre ›DNA‹ zu nennen belieben, wird von den erwähnten Konfessionen beansprucht, die, in unterschiedlicher Zusammensetzung, quer durch alle Parteien ihr Werk verrichten. Vielleicht nicht durch alle, vielleicht gibt es vereinzelt Ausnahmen, ehrlich gesagt, würde ich mich nicht darauf verlassen. Wann immer das Bekennertum überhandnimmt, übernimmt über kurz oder lang ein Bekenntnis die Führung. Es wird zum herrschenden, das alle anderen in den Bann schlägt.

Soweit die Ist-Seite der Sache. Doch abgetan ist sie damit nicht. Eigentlich beginnt erst hier das unheimliche Wirken des verbotenen, des durchgestrichenen Hasses. Der durchgestrichene Hass ist ein Maulwurf: Er gräbt sich durch das Niemandsland der Parolen und sorgt leise, leise für den Ausgleich der Positionen. Im Hass versteht man einander zu gut, um sich dieses Instrument durch eine sachfremde Instanz nehmen zu lassen. Unter dem Pflaster liegt die Kooperation. Ich will das hier nicht weiter ausführen, entweder ihr versteht mich ohne Worte oder ihr wollt von diesem Aspekt eurer Erbitterung partout nichts wissen und ich brauche dazu nichts weiter anzumerken.«

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An dieser Stelle begann der eiserne, am Brückengeländer befestigte Adler zu rumoren, matt bewegte er seine Flügel und unerwartet plumpste er unter dem Geschrei und Gelächter des Brückenpöbels in den Fluss, der sich, gefasst und träge, um diesen Vorfall nicht weiter zu kümmern schien. Auch Ionas wirkte gelöst. Jedenfalls hellte sich seine Miene auf und er sprach:

»Seht zu, dass ihr euch nicht einnässt wie euer Wappentier, das ihr zur Not wieder aus dem Fluss fischen könnt. Seid ihr erst einmal abgetaucht, dann sieht die Sache schon anders aus. Ihr habt die einfache, klare und gerade Idee der Freiheit zum Gespött gemacht, indem ihr sie aufteiltet in die Freiheit der Erfolgreichsten, sprich: der Reichsten, mit der Welt zu schalten und zu walten, wie es gerade in ihr Erfolgskalkül passt, und die Freiheit der Vielen, zu tun und zu lassen, was immer sie wollen, und als einfachen Gradmesser den – sprechen wir’s ruhig aus! – Erfolg zu setzen, womit über kurz oder lang die Nummer eins auch hier wieder Einzug hielte. Ihr seid mir echte Liberale! Seid ihr überhaupt welche? Habt ihr die Freiheit mit der Muttermilch eingesogen oder ist alles nur ein Ĺippenbekenntnis, das ihr einander nicht abnehmt, weil ihr es euch selbst nicht abnehmt? Wartet ihr insgeheim nur darauf loszuschlagen? Wartet ein Weilchen! Erst müsst ihr euch auf den gemeinsamen Sündenbock einigen. Soviel Einigkeit muss sein. Worauf wollt ihr sonst einschlagen? Schämt euch! Obwohl schon zu viel Scham in euch steckt. Ich weiß, ich weiß … hier und da flackert noch das Armesünder-Lämpchen der Kommunitaristen, die den Gedanken der Gemeine hochhalten und allergrößten Wert darauf legen, ohne Religion auszukommen – in Gedanken wohlgemerkt, in Gedanken. Es sei ihnen gegönnt. Aber in der Realität… Sprechen wir von der Realität … von der ach so bösen Realität…«

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Eine kleine Gruppe, die sich im Bug des Schiffes versammelt hatte, begann beim Stichwort ›Realität‹ mit spitzen Schreien ihre Umgebung zu tyrannisieren. Auf das Zeichen hin hielt der Kapitän offenbar die Zeit für gekommen, die schriller werdende Situation still und sachte aufzulösen. Langsam, träge, unwirklich fast setzte das Schiff sich in Bewegung und steuerte in die Mitte des Flusses, dorthin, wo die Strömung am merklichsten schien. Irgendwo dort draußen, hinter Dunstschleiern verborgen, lag das Meer, das große, andere, es lag, wie man sagt, in Gedanken und gab sie niemandem preis.

Ionas aber … hoppla, wo war er? Wie gekommen, so war er verschwunden. Die Hellsten der Menge aber rieben sich noch eine Zeitlang die Augen und fragten sich: War was?

 

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