1

Im fernen Land wird geschossen.
Ist das nicht gefährlich, fragen die Leute.
Nein, sagt der Statistiker, das Tötungsrisiko liegt hierzulande bei Null.
Das ferne Land liegt nur zwei Flugstunden entfernt.
Wir möchten dort Urlaub machen, sagen die Leute, ist das gefährlich?
Nein, sagt der Statistiker, die Flughäfen sind dort sicher.
Aber wir möchten das Land kennenlernen, sagen die Leute.
Es langweilt uns, die Flughäfen nicht zu verlassen.
Kein Problem, sagt der Statistiker, die Strände sind sicher.
Aber man hört so viel, sagen die Leute, wir haben Angst.
Das gehört sich so, sagt der Statistiker. Das gehört zur Vorsicht.

Auf YouTube ist der Schlachthof nur zwei
Mausklicks entfernt. Ist das nicht grauenhaft,
fragen die Leute. Ja, sagt der Statistiker, ja
und nein. Wir alle müssen
uns der Realität stellen. Alles andere wäre
falsches Bewusstsein. Das schätzen
die Oberen nicht. Welches Bewusstsein
ist richtig, fragen die Leute. Richtig
ist, sagt der Statistiker, folgendes: Trifft’s mich
nicht, berührt’s mich auch nicht. Alles,
was mich rührt, ohne mich zu berühren,
ist falsches Bewusstsein. So einfach
ist das. Aber, sagen die Leute, wir wollen
angefasst werden. Das alles fasst uns an:
unwiderstehlich. Kann, was unwiderstehlich ist,
falsch sein? Unwiderstehlich, sagt der Statistiker, ist
die Statistik. Man muss sie bloß lesen können. Wer das
gelernt hat, dem erschließt sich die Welt.

Die Welt ist erschlossen, sagen die Leute.
Es gibt keine fernen Länder.
Hier ist dort und dort ist hier.
Wenn ich heut vor die Haustür gehe –...
– Ja, sagt der Statistiker, nur zu, was wolltest du sagen?
Ach nichts, sagen die Leute, doch kann es einem passieren…
Was kann dir passieren, sagt der Statistiker. Spuck’s aus.
Ich weiß nicht, sagen die Leute. Ob ich in die Statistik
eingehe oder in die ewigen Jagdgründe, wo liegt da der Unterschied?
Bei Null, sagt der Statistiker, das siehst du
ganz richtig. Sei kein Tropf, nimm das Risiko an, noch
leben wir beide. Wie lange, fragen die Leute, soll
das jetzt gehen? Jetzt, fragt der Statistiker, ich
weiß von keinem Jetzt. Auch weiß ich
von keinem Morgen, nie sollst du mich fragen.

Gut, sagen die Leute, dann
passiert dir auch nichts.

2

In der Zukunft tragen die Spatzen weiße Hemden und
rote Socken mit einem Hauch Spitze und alle
Blumen duften nach Lavendel, nur der Lavendel
ist auf Zeitreise in die Vergangenheit. Niemand erwartet ihn
vor dem Morgengrauen, dem berühmten, in dem die
Erschießungen stattfinden, jedenfalls die berühmten, die gewöhnlichen
erwartet keine Tageszeit, sie fallen, statistisch gesehen,
an.

 


22. 4. 2018

erschienen in Globkult

Notizen für den schweigenden Leser

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