Die Aufforderung, kein Frosch zu sein, ist ebenso zwecklos wie kulturell tief verankert. »Unglückselige Frösche die ihr Venedig bewohnet! / Springt ihr zum Wasser heraus, springt ihr auf hartes Gestein!« lautet ein nachgelassenes Distichon aus Goethes Venetianischen Epigrammen. Das diagnostische Potential dieser Verse musste einmal gehoben werden. Wann bot sich eher dazu Gelegenheit als am Ende des ideologischen Jahrhunderts? Wer immer in ihm die Feuchtgebiete der Ideologie verlassen musste, um sich den neuen (und alten) Wirklichkeiten zu stellen, musste die Erfahrung machen, dass der Strand unterm Pflaster unerreichbar bleibt. Allen voran die Künstler und Literaten, von denen ein paar in diese Sammlung von Miniaturen und Reflexionen Eingang gefunden haben. Das Problem reicht weiter zurück, es ist mit der europäischen Figur des Intellektuellen und ihren Idiosykrasien verbunden, sprich: ihrem spezifischen Negativismus, und zwar von Anfang an. So trägt der Autopsiebericht über den frühen Aufklärungsphilosophen Shaftesbury fast parodistische Züge: der Prototyp des ›Zersetzers‹, ein nur noch Fachleuten vertrauter Vorfahr Nietzsches, zersetzt sich selbst, während er an seinen Essays schreibt, und zwar von der Mitte her, deren Verlust ein Biedermann des zwanzigsten Jahrhunderts so beredt beschrieben hat und die uns heute so unberedt regiert.
Shaftesbury, der angebliche Apologet des Enthusiasmus, gibt ein schlagendes Beispiel für die emblematische Fehlbesetzung unseres kulturellen Gedächtnisses. Die Vergangenheit trägt die Kosten unserer Gewissheiten, keine neue Lesart ändert daran ein Jota. Im Gegenteil, die neuen Ansätze dienen dazu, die alte Sicherheit hier und da aufzufrischen, bevor sie aus dem Bewusstsein zu schwinden droht. Denn alles Intellektuelle hat die Tendenz zu sinken und mancher Schlag ins Wasser ist allein deshalb erfolgreich, weil er die Sinktendenz umkehrt – für eine kleine Weile, wie denn sonst. Deshalb hat der Renegat Sinowjew für den Untergang des sowjetischen Systems das düsterste Bild gefunden. Die genehme Kultur der Wende versiegelt den Aufstand der zerrissenen Herzen, sie pflastert ihn weg.
Zersetz dich doch selbst! Der Spruch auf dem Grabmal des unbekannten Intellektuellen, hingeschmiert von Apologeten der Gegenwart, die Einheit in Freizeit wollen, ist ein Menetekel, er strahlt zurück auf jeden, dem er unter die Augen kommt. Da scheint es besser, das Gesicht zu verhüllen und der Vergangenheit blind zu opfern, als habe sie nichts Besseres zu tun gehabt, als uns zu gebären und unsere Lebenswege erträglich zu machen. Dieses mitwandernde Wir – ein Missverständnis, das sich aufklären wird, spät, zu spät, später einmal, vielleicht nur einmal, zur Unzeit, aber sicher.