Vadetecum für Selbstschreiber
§ 1
Blicke niemals über die linke Schulter zurück, ohne dreimal auszuspucken. Wiederhole die Prozedur vorsichtshalber nach rechts. Man weiß nie, ob man gesehen wird.
§ 2
Bevor du an die Arbeit gehst, danke im stillen der Gesellschaft, die deinen Müßiggang trägt. Du hast keinen Grund, dich aufs hohe Ross zu setzen. Doch danke ihr nicht zu sehr. Sie kennt deinen Preis. Vor allem lass deinen Dank nicht laut werden. Man könnte dich hören. Verachtung ließe sich ertragen, Aufträge kaum.
§ 3
Misstraue allen Leuten, die wichtig mit ihren Empfindungen tun; es sind Bauernfänger. Gewöhne dir einen gesunden Ekel vor denen an, die in aller Öffentlichkeit behaupten, es komme darauf an, sich auszudrücken. Denke, falls es dir nicht gelingt, an Akne, Eiterbeulen oder ähnliches, betrachte die Hände.
§ 4
Aufklärung ist ein gewichtiges Wort: Vermeide es tunlichst. Lässt es sich nicht umgehen, Auskünfte über dein Tun zu erteilen, so gebrauche Wendungen wie: ›Es fällt mir gerade so ein‹, oder: ›Vorgestern meinte ich noch‹, oder: ›Wie ich schon früher zu sagen pflegte.‹ Treibe die Offenheit nie bis zu ehrlichen Sätzen wie: ›Da und da habe ich gelesen‹, oder: ›Letzte Woche äußerte sich meine sehr kluge Freundin (mein sehr kluger Freund)folgendermaßen‹ –: abgesehen davon, dass dir kaum jemand die Freundschaft eines sehr klugen Menschen zutrauen würde, wäre es äußerst unklug, von ihr einen anderen als einen stillschweigenden Gebrauch zu machen, und unklug, also töricht sein, das hieße doch, die Freundschaft jenes sehr klugen Menschen über Gebühr belasten, sie geradezu aufs Spiel setzen, oder?
§ 5
Wäre dein Geist eine Laterne und das Schicksal der Menschheit eine Landschaft – sie läge noch keineswegs im Morgenglanz, nur weil dir einfiele, so ungefähr in ihre Richtung zu deuten und deine Lampe zu schlenkern. Auch ist nicht jede Larve trüb, an der eine Funzel hinfährt. Leuchtet dir etwas ein, so geh auf Abstand.
§ 6
Kaum hat man ein paar Verse zu Papier gebracht, aus denen eine elementare Vertrautheit mit dem einen oder anderen Handbuch der Vergleichenden Anatomie hervorlugt, schon sieht man sich umringt von Tonbändern und Kameraleuten, soll man sich verbreiten über die Arbeitswelt der anderen und das eigene Wahlverhalten, über seine ganz persönlichen Wertvorstellungen und die neuesten Auslegungen des Sexualverhaltens alter und neuer Nazigrößen, kurz, ist man aufgefordert, mitzustricken am großen Kuschel-Strickstrumpf der Sinndeutungen des Allgemeinen. Dies ist die Gelegenheit, den Hosenbund zu lockern, die Füße auf den Tisch zu legen und mit beschwörender Stimme unhörbar zu flüstern – eine der so raren und, wenn vertan, kaum wiederkehrenden Chancen, Härte zu demonstrieren und Ergriffenheit zu verbreiten.
§ 7
Wie lautet nicht gleich die goldene Regel der gehobenen Schreibart? Vergiss die Regeln! Sei eruptiv! Der Täter hat immer irgendeine Wahrheit auf seiner Seite: wer unterzöge sich schon der Mühe, ihn zu widerlegen? Lehne dich also zurück, den Schreibtisch bequem in Reichweite, schließe die Augen, lass die Fingergelenke knacken. Keine Gewaltsamkeiten! Ein Gläschen Bourbon hilft in der Regel.
§ 8
Das Leben, an und für sich, ist positiv. Du, der einzelne, bist immer negativ. Es lebt in dir, es denkt in dir. Wie immer du dich dazu verhältst, du wirst nicht verhindern können, dass du dich verrätst, und das ist gut so. Wer auf dem Schindanger endet, hat ein Recht auf Abbrüche aller Art, hat ein Recht dazu, sich achselzuckend abzuwenden. Selbst wenn er es nicht wollte – das Vergessen ereilt ihn. Bleib’ also ruhig bei der Sache, man braucht eine gehörige Portion Müdigkeit oder Dummheit, um nicht zu merken, dass sie es ist, die entweicht.
§ 9
Im Begriff, mit einem feuchten Daumendruck das Papier zu netzen und die Menschen über die gangbaren Wege zum Glück zu informieren, wende dich um und betrachte in der Milchglasscheibe deines Arbeitsraumes dein mäßig intelligentes Gesicht! Konzentriere dich! Nun das Schwerste: Vergiss diesen Anblick.
§ 10
Meide Erregungen. Verfahre stets nach dem Grundsatz: Was ich weiß, macht mich noch lange nicht heiß. Neue Erkenntnisse, die man an dich heranträgt, quittiere mit einem Stirnrunzeln und der wie unabsichtlich hingeworfenen Replik: Ich weiß. Wer weiß, ob’s stimmt? Du wirst dich hüten. Für den Hausgebrauch empfiehlt es sich, das ›Ich weiß‹ durch ein ›Man kennt die Behauptung‹ zu ersetzen – den Euphemismus durch die verbale Fassung eines Abwehrreflexes. Bedenke deinen Blutdruck!
§ 11
Das Negative, dein Ureigenes, ein seltener Vogel in den Gefilden, welche die Eule der Minerva bestreicht. Krampf-Löser des Wahrnehmens und des Denkens, kostbares Fundstück inmitten wild verteidigter Besitzstände des Positiven!
§ 12
Spare prinzipiell aus, worauf es dir ankommt: das schafft Platz und macht Revisionen unnötig. Auch hüte dich vor Umschreibungen: oder verlangst du, dass ein anderer für dich einspringt?
§ 13
Wer sich nicht Rechenschaft ablegen kann über die drei oder vier Grundtypen des Denkens, deren wechselnde Vorstöße und Rückläufe jeweils das zu verantworten haben, was man den aktuellen Stand der Erkenntnis nennt, wer nicht vor einer Behauptung die Mittel und Wege kennt, sie zu bezweifeln, wen nicht vor seinem Zweifel die Ungeduld überkommt, das Nicht-leiden-Wollen eines begrenzten Repertoires – wem nicht dies alles bereits unwillkürlich geworden ist, der spielt nicht mit in diesem Spiel, der möge, um es mit den Worten eines fast vergessenen Schriftstellers zu sagen, auf gemeinen Weltklatsch seine Tage verwenden.
§ 14
Stil gewordener Negativismus, eine Technik halbabgewandten Schreibens, des Beiseiteschreibens (das Beiseitesprechen hält das Bühnengeschehen nicht auf, noch beschleunigt es seinen Gang, es markiert nur die Figuren in einem anderen Drama, das es vielleicht wert wäre, gespielt zu werden, konzentriert, unbehindert durch Aktschlüsse und Applaus – wer beachtet die schauspielerische Leistung dessen, der beiseite spricht?), eine Sophistik vor leerem Haus, ein Hohldenken des Gedachten – kein Institut für Sprachgymnastik, kein Vertraulichtun mit den Beständen, und auch die Stillen im Lande werden anderswo besser bedient.
§ 15
Liebhabern des Positiven begegne mit der gespielten Gleichgültigkeit dessen, der vor einem sicheren Wettgewinn steht. Beweise ihnen, dass sie im Recht sind, du ihnen aus übergeordneten Überlegungen nicht zustimmen kannst, lass sie ahnen, dass es schiere Freundlichkeit ist, die dich zu deinem Einsatz veranlasst. Ihre Rührung und ihre Eitelkeit, ihr Bedürfnis, von dir geliebt zu werden, und ihr Verlangen, dich zu demütigen, werden sie wechselweise wanken lassen, so dass es am Ende du bist, der ihnen lächelnd festen Halt bietet, bevor er sich entzieht.
§ 16
Bei Nachtarbeiten denke hin und wieder an deinen stillen Begleiter: den Stromzähler. Es wäre übertrieben, ihn zu denen zu schlagen, die deine Schritte bewachen und deine Abfälle sortieren. Er ist kein Spitzel. Vermessen wäre es allerdings, ihn als deinen Gehilfen zu betrachten, eine Art Handlanger für Traumasketen. Ohne hinzusehen, schweigend in einem entfernten Raum des Hauses, das du häufiger, er nie verlässt, misst er kommentarlos deinen Verbrauch, ein stiller Begleiter.