... das war damals, Anfang der Neunziger, als die Stasi-Archive aufgingen und die früh im Westen anerkannte Literatur der DDR ihre ernsteste Vertrauenskrise durchlief, in Gestalt des begründeten Verdachts, eine staatliche Inszenierung gewesen zu sein, während die Literatur des Westens und die Wissenschaft von ihr sich von Mediendiskurs und Geschlechter-Palaver nährten – eine Inszenierung auch das, ohne Zweifel. Die Frage, die ich frei hatte, lautete sehr einfach: Was weiß die Lyrik? Die Frage richtete sich an die europäische Tradition, soweit sie dafür in Betracht kam, also an die Neuerfindung der Poesie in der Renaissance und die seltenen Momente im achtzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, in denen dieses Projekt wieder aufgenommen und weiter getrieben worden war. Das Ziel lag keineswegs in großer Ferne, es lag sogar ausgesprochen nah: im stetig erneuerten und wieder zu erneuernden Entwurf der Lyrik, deren Anspruch den Wissensmächten der Gegenwart Paroli zu bieten mochte. Als das Buch auf den Markt kam, war der Begriff der Dichtung aus dem öffentlichen Gebrauch gestrichen und Lyrik eine Vokabel von der anderen Seite der Milchstraße.