Die Intelligenz, das ist doch nicht der Sachverstand, der sich von Fall zu Fall zu Wort meldet, das ist vielmehr die Interessenschaft derer, die ihren Intellekt zu Markte tragen, begabte Kerlchen, um das Wort eines selbst hinreichend willfährigen Zeitgenossen aufzunehmen, Begabungsruinen, wenn Sie verstehen, was ich meine...
Antonin Paget
1.
Philosophie beginnt nicht, sie bringt zu Ende. Was sie zu Ende bringt, von Fall zu Fall, ist das vor- und umlaufende Gerücht, was es mit dem Denken und der Erkenntnis überhaupt wohl auf sich habe. Denn kein Denken ist so methodisch, dass es nicht Ansichten produzierte, die zwar keineswegs zur Sache gehören, aber sie doch in einem gewissen Licht erscheinen lassen. In einem gewissen Licht oder im Licht der einen oder anderen weltanschaulichen ›Gewissheit‹. Der philosophische Gestus ist der des Prüfers: schlechte Gründe, schlechte Karten. Das Unglück der Philosophie will es, dass niemand außer ihr diese Gründe für wesentlich ansieht, verständlicherweise, da sie die Stelle der einfachen Gewissheit besetzen, woran keinem liegt. Was bleibt ihr also anderes übrig, als die Konkurrenz der Ansichten auf eigenem Grund und Boden zu reproduzieren? Das bedeutet, dass sie mit den guten auch die schlechten Gründe in ihre Regie nimmt. Doch sind es dann noch die der anderen? Umgekehrt: Was bliebe von der Philosophie, wenn man ihr die schlechten Gründe wegnähme? Etwa die guten? Aber keineswegs: Wozu sollten sie gut sein?
2.
Konstruktivismus und Destruktivismus: zwei formale Optionen des schulmäßig betriebenen Räsonnements. Zwei Weisen, die freie Konkurrenz der Ansichten zu disziplinieren. Beide fußen auf ein und demselben Gedanken: Ansichten sind teilbar, sind teils richtig, teils falsch. Man muss sie also verbessern oder verschlimmern. Konstruktive Verfahren entstammen dem Ehrgeiz, die falschen Ansichten als unzureichende Fassungen richtiger Ansichten zu lesen. Kein System kommt ohne Vertrauen in das begrenzte Recht des undisziplinierten Denkens aus: Am rechten Ort, so der Hintergedanke, wird es sich schon fügen. Anders der Destruktivismus, der die Konkurrenz der Ansichten verschärft, bis sich jede selbst widerspricht – auch er ein Formalismus, aber ein indifferenter.
3.
Es gibt gute Gründe dafür, Moderne als die Epoche der alle ›Bestimmtheiten‹ auflösenden Reflexion zu begreifen. Doch sollte man nicht vergessen – und auch gelegentlich zugeben –, was es heißt, die destruktivistische Karte zu spielen. Glaubte man der Sprachregelung der Dekonstruktivisten, dann bestünde die Aufgabe darin, die Bestandteile des konstruierenden Denkens dem Systemzwang abspenstig zu machen, der sie hervorgebracht hat. Das ist schöner Schein. Kaum in Betracht gezogen, verwandeln sich ›Vorgaben‹ aller erdenklichen Art in Mythen, deren Entlarvung zum angestammten Geschäft der Kritik zählt: Sie findet sie allenthalben. Das hat seinen Grund; schließlich versteht sie unter ihnen nichts weiter als alle Entwürfe, die noch nicht die wahrhaft angemessene Form des Dilemmas gefunden haben. Destruktivismus als Strategie ist die Schwundform der Moderne, die Nobilitierung des unglücklichen Bewusstseins, dessen Karikierung stets zu den Handreichungen der anderen Seite zählte. Nach zweihundert Jahren geborgten Daseins scheint es hinreichend erkräftigt zu sein, um aus eigenem Anlass zu existieren und dagegenzuhalten.
4.
Der Destruktivismus lebt von den Zinsen eines Kapitals, das durch keine noch so waghalsige Spekulation angegriffen werden kann: die Einsicht in die Unübersteigbarkeit des Bewusstseins in allen Fragen der Erkenntnis. Es ist eine der leichteren Übungen, die Irrläufe nachzuzeichnen, die das europäisch geprägte Denken unternommen hat, um dieser Falle zu entkommen. Die angebliche Unhintergehbarkeit der natürlichen Sprachen – nüchtern besehen ein Monopolanspruch der sie ausbeutenden Disziplinen –, die ›neuronale Struktur des Denkens‹ oder evolutionssoziologische ›Evidenzen‹ eines zweckmäßig reduzierten Wahrheitsanspruchs: jedes dieser Lehrstücke gibt ihm Gelegenheit, genüsslich darauf zu beharren, dass Lehrstücke dieses zweifelhaften Kalibers, in denen der Fortschritt sich seine Gasse bahnt, nur um den Preis kulturellen Vergessens zu haben sind. Schwerer fällt es ihm, die Waffen der Kritik gegen den eben noch geplünderten Transzendentalismus zu richten. Bei Licht besehen ficht ihn auch das wenig an: Dass der Gedanke nicht das Gedachte sein kann, dass ›Denken‹ und ›Sein‹ – oder wie die Gegensatzpaare lauten mögen – nicht nur auf ewig geschieden sind, sondern die Scheidung stets nur von einer Seite, der des Denkens, proklamiert wird, ohne sich in der Praxis als durchführbar zu erweisen – der nicht enden wollende Schmerz über dieses Dilemma der Vernunft reißt den Destruktivisten gelegentlich zu Taten hin, deren er sich bei ruhiger Gemütsverfassung kaum brüsten dürfte, und die ihre einzige Erklärung im vatermordenden Elan des erkenntnistheoretischen Scheidungsopfers findet. Die Kinder, man weiß es, sind immer die Leidtragenden.
5.
Auf dem Weg ins Abseitige gelingen ihm allerdings Funde, die geeignet erscheinen, sein Unternehmen auf absehbare Distanz zu rechtfertigen: kecke Versicherungen, in denen sich die Ahnungslosigkeit ihrer Urheber mit schroffer Geltungssucht paart, ohne die im akademischen Betrieb genauso wenig an ein Fortkommen zu denken ist wie anderswo. Ihr unerreichtes Vorbild bleibt das Freudsche Schema der drei Kränkungen, die der Menschheit von der Wissenschaft angetan wurden – die kosmologische, die biologische und die psychoanalytische. Selbstredend trifft jeweils die letzte den empfindlichsten Nerv. Da erstrahlt die Haltung des Arztes, der seinem Patienten anvertraut, dass er ihm jetzt ganz ganz weh tun müsse, in vollem Licht. Wer nähme nicht gern die Menschheit in Behandlung? Die Nuova scienza macht’s möglich, ernennt sie zur Kassenpatientin, die im Vorzimmer auf bessere Zeiten hofft, während die gedämpften Schreie der gerade Behandelten aus dem Nebenraum dringen.
6.
Der Destruktivismus behauptet – unter welcher terminologischen Kappe auch immer –, Theorien seien entweder blind oder leer. Was immer dies heißen mag – und es kann alles mögliche heißen –: Man fragt sich, von welchem ›oder‹ dabei die Rede ist. Sollte es ein ausschließendes ›entweder-oder‹ sein, so hieße das, leere Theorien können nicht blind sein und blinde nicht leer. Warum? Wären es sonst keine Theorien? Wenn ja, nach welchen Maßstäben? Ferner: welcher Mechanismus der Theoriebildung könnte zuverlässig verhindern, dass leere Theorien blind sind, und umgekehrt? Oder wäre das ›oder‹ wohl ein verstecktes ›und‹? Theorien wären also notwendig blind und leer? Und was hieße das? An dieser Stelle spätestens erhebt sich der Argwohn, es könne mit dem Argument am Ende nicht so weit her sein. Vielleicht handelt es sich ja um ein nicht ausschließendes ›oder‹: Theorien sind entweder blind oder leer oder blind und leer; man könnte auch sagen: Theorien sind endlich.
7.
Denn was bedeuten die Begriffe ›blind‹ und ›leer‹? Beschränkt man sich auf das argumentative Minimum, so sind blind Theorien, denen es nicht gelingt, sich zu sich selbst, leer solche, denen es nicht gelingt, sich zu einem ›Draußen‹ in ein begründetes Verhältnis zu setzen. Das wirft die Frage auf, welche Art von Begründung sinnvollerweise im einen wie im anderen Fall zu fordern sei. Sieht man von ihr ab, so fällt etwas anderes auf: Das Dilemma, von dem da die Rede ist, soll Theorien unterschiedslos als Theorien treffen. Vorausgesetzt also, der Vorwurf träfe zu, ohne dass von bestimmten Theorietypen dabei die Rede wäre (denen stets auch andere an die Seite gestellt werden könnten), dann wäre jede Theorie notwendig blind und leer. Aber selbst angenommen, das Argument wäre zwingend: Und wenn schon? Es hieße im Ernstfall nichts weiter, als dass Theorie – jede Theorie – sich grundsätzlich in zwei Richtungen thematisieren lässt, aber nicht zur gleichen Zeit und im gleichen Kontext. So zweifelt einer, der gleichzeitig in zwei entgegengesetzte Richtungen davonlaufen möchte, an seiner Fähigkeit zu gehen.
8.
Theorien sind blind oder leer, oder: Es ist eine Illusion zu glauben, man könne in die eine Richtung gehen und in der anderen ankommen. Oder: Die Einsicht in das Funktionieren von Rationalität erscheint wenig geeignet, Vertrauen in ihre wirklichkeitserschließende Kraft zu fördern. Reicht diese Feststellung aus, um das geballte Misstrauen in die Leistungen der Ratio zu mobilisieren, das der ursprüngliche Satz zum Ausdruck bringt? Absurd wirkt er allemal, weil er den Leser zwingt, das ›oder‹ durch ein ›und‹ zu ersetzen, um anschließend zu entdecken, dass es doch nur ein ›oder‹ sein darf, soll er nicht die postulierte Regel verletzen, dass Theorie nicht gleichzeitig in beide Richtungen thematisiert werden kann. Demnach enthält der Satz die Regel, um sie Lügen zu strafen: Die Wahrheit – wer zweifelte daran – ist nicht danach, sich in ihr einzurichten. Rationalität ist Lüge ... sagt der Liebhaber der Wahrheit, welche im Schlagschatten der Lüge nistet.
9.
Es ist ein Unterschied, ob man ein Dilemma entdeckt oder ob man es appliziert. Im einen Fall bezeichnet es die Grenze einer Theorie, im anderen eine Grenze der Theoriebildung. Das eine Mal ist es Arbeit, das andere Mal Spiel. Ein Spiel allerdings, das die Arbeit der anderen ähnlich unterbricht wie ehedem die Philosophie die Praxis der Märchenerzähler. An dieser Frage scheitern sie alle – was also bedeutet das Lächeln im Gesicht dessen, der sie immer aufs neue stellt?
10.
Die drei Kränkungen, welche die ›Kultur‹ ihren Trägern zumutet (drei müssen es sein, da erst bei der dritten die Wünschelrute ausschlägt) – dieses Schema zielt auf eine Form der Erregung, in welcher das Bedürfnis nach Anerkennung und ihre Versagung zu einem Amalgam zusammenfinden, das aufzulösen mehr als Spitzfindigkeit erfordert. Das Verlangen des Kulturwesens, in seinen Rechten anerkannt zu werden, worin diese auch bestehen mögen – jedes in seinen und alle in ihren –, ist von Haus aus grenzenlos und also jeder Art der Versagung schutzlos ausgeliefert. Wer ein Versagungsmotiv in die Form einer Theorie kleidet und behauptet, den Ausweg aus dem Dilemma zu kennen, erweist sich nicht nur als Meister der Situation, sondern als Psychopompos. Theorie als Lebenshilfe ist Lethe: Sanft gleitet die Seele dahin, getragen von dem Geräusch, in dem sich der Schlaf der Triebe mit dem Tod der Reflexion verschwistert. Das kulturelle Vergessen braucht solche Lehrmeister, es braucht die Erregung, die aus ihren Worten hervorlugt wie das Kaninchen aus dem Ärmel des Zauberers, es braucht das Bewusstsein aufzubrechen. Wohin? Egal. Vorwärts? Aber sicher.
11.
Wenn es darum geht, Erkenntnis in toto zu begreifen, dann besitzt die Reflexion schlechte Karten. Sie hat alle Hände damit zu tun, die Übereilungen zu revidieren, die ihr die Biologie nachweist. Die Biologie ist stets einen Schritt voraus. Weit entfernt davon, dem frommen Wunsch Material zu liefern, es gebe einen Parallelismus physiologischer und transzendentaler Einsichten in die Verfahrensweisen des menschlichen Geistes, gibt sie unbeirrt Antworten auf Fragen, welche die Gegenseite stellt, ohne zu Antworten zu gelangen. Dass ihre Antworten die Gegenseite ›nicht glücklich‹ machen, da sie einer anderen Argumentationslogik folgen und daher wohl oder übel als besserwisserisch zurückgewiesen werden müssen, obwohl in ihnen Befunde formuliert werden, die guten Gewissens nicht zurückgewiesen werden können, steht auf einem anderen Blatt. Die Reflexion hat gelernt, mit ihnen zu leben – mühsam und im Grunde unüberzeugt – und also umzugehen. Doch es bleibt ein Umgang voller versteckter Kautelen und in steter Erwartung, von der Disziplin zurückgerufen zu werden. Uns bleibt ein Erdenrest zu tragen peinlich: Die Physiologie, die erfragt, wie das funktioniert, ist kein Einwand gegen die Reflexion, sondern fixiert die Grenzen, an denen sie Bestimmtheit erlangt. Was auch ›im Geiste‹ geschehen mag, die Biologie kommt mit.
12.
Wenn Intellektuelle bisher gelegentlich an die Macht oder besser: in ihre Nähe gelangten, dann deshalb, weil sich für einen Augenblick ein Vakuum aufgetan hatte, – ein Machtvakuum, angesichts dessen sie sich, wenn man den Zeugnissen glauben darf, eher genötigt glaubten, den Gang der Geschichte einmal anders zu bestimmen, um nicht (ungewiss, vor wem) das Gesicht zu verlieren. Die Frage (für sie) war also nie, wie sie an die Schalthebel gelangten, sondern (für die anderen) wie man sie so rasch wie möglich wieder von ihnen entfernte. Das Entsetzen (der anderen) mochte gespielt sein, doch war der Grund der Beunruhigung stets real, er lag in der unverhofften Abwesenheit handfester Gruppeninteressen dort, wo bekanntlich im Interesse aller gehandelt wird. Dies (um endgültig ins Präsens zu wechseln) soll nicht sein, das Gemeininteresse soll im Handgemenge der Einzelinteressen ausgehandelt, nicht frei ermessen werden. Der Abscheu der ›Bürger‹ vor dem Herrschaftsanspruch der Intellektuellen ist eine politische Variante des Horror vacui, das dunkle Gefühl einer semantischen Katastrophe. Den Intellektuellen (wem sonst?) steht es frei, das Allgemeine zu bestimmen, unter der Bedingung allerdings, dass sie nichts zu bestimmen haben. Eine Form des Bestimmens schließt die andere aus, nicht in der Theorie, aber in der Praxis, wie man zu sagen pflegt. Man meint in diesem Fall, was man sagt, und sei es, wie gesagt, nur deshalb, weil die eine in der jeweils anderen mitgedacht, aber nicht enthalten ist. Es hat keinen Zweck: hinter diesem so defätistisch anmutenden Satz verbirgt sich die Stärke derer, die darauf angewiesen sind, dass man ihnen zuhört. Das Allgemeine, das sie bewohnen, ist der Stau ungelöster Probleme, an dem sich die Gesellschaft erkennt und als Urheber künftiger Problemlösungen im voraus zu genießen wünscht. Es ist das Reservat, in dem die Intellektuellen, angestammte Kopfjäger, den Traum der großen Wildnis träumen, während sie ihr dürftiges Wellblechdasein fristen.
13.
Intellektualität bedeutet demnach zweierlei: erstens die wirkliche Teilhabe am Prozess der Bestimmung dessen, was an der Zeit ist – und was zu sagen langsam Zeit wird –, zweitens die Interpretation der Gegenwart als einer Komplexion, die unter dem Druck ihrer Probleme zerstiebt. Der eine Aspekt bezeichnet die Notwendigkeit, der andere die Hinfälligkeit des Intellektualismus: Notwendigkeit deshalb, weil alles, was an der Zeit ist, nicht anders denn im Hinblick auf die Zeit selbst, die wirkliche Gegenwart, gedacht werden kann, Intellektualismus also wenig mehr als das Gewärtigsein dessen, was an der Zeit ist, in den Subjekten meint, Hinfälligkeit, weil die Auslegung der Gegenwart als einer, die an den mit ihr ans Licht getretenen Fragen zergeht, Gegenwart und Zukunft nach dem Schema von Frage und Antwort aufeinander bezieht und dadurch in eine unglückliche Konkurrenz zu den künftigen Wirklichkeiten tritt – eine Konkurrenz ohne Gewinnaussicht, deren Witz darin liegt, dass der Intellektuelle ans Hier und Heute die Fragen stellt, welche die Zukunft beantworten wird, in seinem Sinne natürlich, darin ist er sich sicher, weil ihm kein anderer zur Verfügung steht. Eine solche Zukunft aber, träte sie jemals ein, brächte den Intellektualismus zum Verschwinden – aus dem einzigen Grund, weil sich sein Fragepotential in ihr erschöpfte.
14.
Es ist, logisch gesehen, diese Antinomie, die den alten Gegensatz des liberal-konservativen und des progressivistischen Intellektuellen hervorbringt und dafür sorgt, dass es in den aktuellen Debatten nie ganz um nichts geht, auch wenn die Anlässe nichtig scheinen mögen oder sich nichts wirklich bewegt. Die liberale Fraktion, wie man sie mit einem leichten Zögern nennen darf, macht die Erhaltung der eigenen Geschäftsgrundlage – und damit im Prinzip den Status quo – bewusst oder unbewusst zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Analysen: eine Gegenwart, die sich radikal in Frage stellen lässt, ohne messbare Überreaktionen zu produzieren, kann so verderbt nicht sein; es gilt daher, ihr insgeheim Garantien für eine nicht ganz und gar andersartige Zukunft zu entnehmen. Dem Progressivismus hingegen – Ironie hin, Ironie her – ist die Tatsache der eigenen Existenz ein hilfreiches Indiz für die Verkehrtheit des Bestehenden: erst das Aufgehen des unglücklichen Bewusstseins in der Positivität künftiger Weltverhältnisse darf den täglich kunstvoll geschlungenen Knoten der tatsächlichen Widersprüche lösen. Der progressivistische Intellektuelle tendiert daher, ob er will oder nicht, zur Abschaffung der Bedingungen, denen er sein Dasein schuldet.
15.
Den Ernstfall bezeichnet also eine Situation, in der der ›klassische Diskurs‹ dieser beiden Fraktionen den Kriterien dessen, was an der Zeit ist, nicht mehr genügt. Die Situation ist nicht nur denkbar, sie ist unwiderruflich erreicht, seit beide Seiten sich davon überzeugt haben, dass jede künftig ernstzunehmende Frage an die Gegenwart sich letztlich auf das Überleben der Gattung bezieht. Diese Überzeugung kommt nicht von ungefähr, und nur Dummheit möchte sie am liebsten den Dummen überlassen sehen. Sie beginnt mit der Entdeckung der Freiheit zur Selbstauslöschung der Menschheit im Zeitalter der Bombe, und sie vollendet sich in einem Weltverständnis, das die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen als den Konvergenzpunkt der gegenwärtigen Kultur begreift. Angemessen oder nicht: das neue Denken erzeugt eine doppelte Ohnmacht der Intellektuellen, da beide Optionen, die liberale wie die progressivistische, stillschweigend voraussetzen, dass keineswegs der Bestand der Gattung, vielmehr ausschließlich ihre Bestimmung in Frage steht. Ohne diese Voraussetzung sind beide Optionen formalistisch, das heißt gegenstandslos. Die Folge lautet: der Intellektuelle hat sich überlebt. Er mag dem Handeln der Politiker sein ceterum censeo nachschicken oder, Staats- und Weltbürger wie andere, sich in tätiger Solidarität mit Aktionsgruppen üben: seine Existenz ist schal geworden, und er weiß es.
16.
Weiß er es wirklich? Eines steht fest: ein Intellektualismus, der nicht leben und nicht sterben kann, ist ein ebenso tückisches Objekt der Neugier wie sein Pendant, die Gesellschaft, die gelernt hat, Zukunft als Entsorgung zu fassen. Die quasi-kloakale Verfasstheit der Realität zwingt der Macht Erfahrungen ab, welche diejenigen, die darin geübt sind, ihr das schlechte Gewissen vorzusprechen, des Umgangs mit Theorie weitgehend entheben. Zeit also für resolute, sich im Sinnlichen erfüllende oder erschöpfende Metaphern, die der Geruchssphäre entstammen, besser gesagt entweichen. Metaphern, die signalisieren, dass all das, was sich nicht riechen, tasten oder schmecken lässt, obwohl es, wie jedermann weiß, in der Luft liegt, keineswegs zu den Transzendentalien gerechnet werden darf, vielmehr auf handfeste Mängel unserer Wahrnehmungsorgane verweist. In diesen Regionen führt die Chemie das Wort, sie führt es im Munde derer, denen sie die Stichworte liefert, und sie führt es so, dass die sanfte Gewalt, die von ihren Formeln ausgeht, das irritierende Schauspiel eines ›herrschaftsfreien Diskurses‹ erzeugt, der als erstes die Herrschaftskritik entmachtet, indem er sie dem freien Spiel der Fakten ausliefert, wie sie täglich neu (und neu gemischt) zum Himmel stinken. Das erzeugt Nachfolge: Greenpeace-Aktive und Globalisierungsgegner sitzen in puncto geistiger und räumlicher Mobilität im gleichen Boot. Im Prinzip allerdings genügt, um dabeizusein, der eherne Grundsatz der Informationswelt, dass alles, was hier und heute versickert (oder ›verfüllt‹ wird), irgendwann wieder hochkommt – ein Grundsatz, der, konsequent auf Vergangenheit angewandt, viele Vergangenheiten anstelle der einen erzeugt, als Beschwerdefälle, verhandelbar täglich, Brechreiz inklusive.
17.
Es trifft sich, sozusagen, dass die menschliche Neugier von den flüchtigen Momenten vor dem Absturz in die Erkenntnis lebt, an der Sache (welcher auch immer) könnte etwas faul sein. Dass das Nachdenken über die Macht, die angestammte Domäne der Intellektuellen, in den späten achtziger Jahren kurzfristig wieder in Gang kam, nachdem es sich bereits im Gestrüpp der Wünschbarkeiten verloren hatte, verdankte es zwei Ereignissen, die auf höchst unterschiedliche Weise vorführten, dass der Begriff ›Weltgeschichte‹ neben der doktrinären auch eine praktische Dimension besitzt. Gorbatschows Perestrojka und die Rushdie-Affäre veränderten die Szenerie insofern, als sie das Denken des Undenkbaren zur Bürgerpflicht machten. Wo vorher Schweigen geboten war, weil, wie in bezug auf das Demokratiedefizit des Ostens, die zermürbte Hoffnung alles Nachdenken hatte zerrinnen lassen, oder weil jedes in Richtung der ›Dritten Welt‹ gesprochene Urteil als Vorurteil und als spätkolonialer Reflex gedeutet werden konnte, ging es mit einem Mal darum, unzweideutige Grundsätze zu formulieren und an ihnen festzuhalten, gleichgültig, was geschah. In beiden Fällen handelte es sich um Schauspiele, die ihr Publikum gleichzeitig über- und unterforderten, in den Details unübersehbar und mit ungewissem Ausgang. Nüchtern betrachtet ging es für westliche Intellektuelle um nichts, außer vielleicht, dass sie, als ›westlich‹ vorgeführt, sich ihrer Bedeutungslosigkeit vergewissern durften. Während die östliche Umgestaltung ihnen immerhin erlaubte, sich in einem begriffslosen Zustand zwischen Hoffen und Bangen zu bewegen, hatte es die ›Dritte-Welt‹-Attacke auf einen der ihren in schamloser Offenheit darauf abgesehen, sie zur Bewegungslosigkeit zu verdammen. Dem Gelingen des Gorbatschow-Experiments entgegenzufiebern hieß, sich einen Ehrenplatz bei der Erschaffung der Kritik aus dem Geist eines Systems zu sichern, das dergleichen nur außerhalb seines Geltungsbereiches vorgesehen hatte. Es kam, wie man weiß, anders, doch der Phantasie bleibt unbenommen, sich auszumalen, was geschehen wäre, hätte die Erschaffung des Intellektuellen aus der Retorte, sprich: einer akklamierenden Klasse, damals wirklich stattgefunden. Der zur Offenheit und Toleranz bekehrte Osten hätte eine Funktion mit neuem Leben erfüllt, die den Intellektuellen des Westens zusehends entfällt, aber nur in Analogie, der fortbestehenden Differenz der Systeme wegen. Eine Reise in den Osten wäre für sie gleichermaßen zu einer Reise in die eigene heroische Vergangenheit und in eine krude gesellschaftliche Zukunft geworden, bei der sie in mancher Hinsicht die Rolle der armen Vettern übernommen hätten, die mit Befriedigung und Neid konstatieren, dass ihresgleichen gebraucht wird – in einer anderen Zeitrechnung, auf einem anderen Planeten, unter derselben Sonne. Voreilige hätten, des damals noch kaum in Umrissen sichtbaren, dann alten Antagonismus müde, irgendwann schreiben können: Die Intellektuellen haben den Planeten nur verschieden interpretiert, es kömmt aber darauf an, ihn zu verändern. Sie hätten recht gehabt, es geschieht ohnehin täglich.
18.
Bangen und Hoffen: der Reflex, auf einen Kandidaten zu setzen und das analytische Vermögen in der einen Frage zu erschöpfen, ob er durchkommt – dieser Reflex fühlt sich seltsam gehemmt, sobald er den kalten Blick desjenigen auf sich ruhen sieht, der gegen den Sog der Verhältnisse denken gelernt hat und sich das höchste Gut, die in schwierigen Exerzitien erworbene Hoffnungslosigkeit, nicht durch den zufälligen Gang der Ereignisse zunichte machen lassen möchte. Die Entschlossenheit, sich durch die Macht nicht blenden zu lassen, selbst dann nicht, wenn sie ihre blendendsten Angebote unterbreitet, nötigt Respekt ab, selbst wenn sie mit der Logik nicht immer auf bestem Fuß steht. Warum auch: Nur zu häufig ist die Logik ein willfähriges Werkzeug in den Händen willfähriger Werkzeuge. Der Dissident Alexander Sinowjew, der das Scheitern der Gorbatschow-Reform darin beschlossen glaubte, dass die sowjetische Gesellschaft, gerade diese, ihren ›objektiven Gesetzen‹ folge und daher jeder dirigistische Versuch, diese Gesetze in Teilbereichen außer Kraft zu setzen, notwendigerweise in nicht bedachten Nebenwirkungen verpuffe – er erinnerte, ›notwendig‹ fast, an einen Mann, der sich (streng wissenschaftlich) davon überzeugt hatte, dass nicht einmal der kleine Finger seinem entschiedensten Wille gehorchte. Doch daran ist nichts Lächerliches, im Gegenteil. Sinowjew war von der Erfahrung des Scheiterns bewegt, die sich an jeden gesellschaftlichen Aufbruch heftet und die um so pointierter ausfällt, je weiter die Ziele des Aufbruchs gesteckt waren. Diese Erfahrung war in der Vergangenheit zu teuer bezahlt worden, um durch neue Wechsel auf die Zukunft gedeckt werden zu können. Destilliert aus den großen Aufbrüchen des Jahrhunderts, angereichert mit dem Wissen, dass der Status quo schon der vergangene ist, darf sie daran erinnern, dass die Umwälzung dieser und jener Verhältnisse, so wünschenswert sie immer sein mag, denjenigen freie Hand gibt, die unter den eintretenden Umständen ›tun, was getan werden muss‹. Die Formel ist, wie jedermann weiß, salvatorisch, sie kommt später: wer sie hört, erfährt, dass es wieder einmal zu spät ist.
19.
Sinowjew musste erfahren, dass nichts leichter fällt, als Recht zu behalten und dabei seinen Kredit zu verspielen. Wirklich waren es die Nebenwirkungen der Perestrojka, die das System zum Einsturz brachten und den Reformator unter sich begruben. Doch der grimmig prognostizierte Zusammenbruch erwies sich als Weg ins Freie – nicht so umstandslos begehbar, wie es die euphorischen, nicht ganz so labyrinthisch, wie es die argwöhnischen Parteigänger des Neuen darstellten, auf keinen Fall aber mit der finalen Katastrophe gleichzusetzen, die der Verächter des alten Systems in unheiliger Allianz mit seinen bewährten Widersachern heraufbeschwor. Mag sein, dass er, gewitzt durch trübe Erfahrungen, rechtzeitig nach neuer Kundschaft Ausschau hielt, um ihr seine Schreibdienste anzudienen – den dieses M8al durch den Gang der Geschichte Enterbten. Wahrscheinlicher ist, dass der Umbruch einfach die Komplizenschaft an den Tag brachte, die den Kritiker an das System fesselt, von dem er sich täglich herausgefordert sieht. Unerbittlich holte sie den nihilistischen Satiriker ebenso ein wie den protestantischen Typus des verlorenen Sohnes – der verlorenen Tochter –, den die Spätzeit der DDR hervorbrachte.
20.
Wer aufmerksam die laufenden Kommentare verfolgte, mit denen die schreibende Zunft des Westens den Umbruch im Osten begleitete, der konnte leicht den Eindruck gewinnen, sie sei von den Ereignissen auf dem falschen Fuß erwischt worden und gerate von Anlass zu Anlass tiefer ins Gestrüpp unhaltbarer Polemik hinein. Der Mangel an Realitätssinn in fast allem, was in den kritischen Jahren veröffentlicht wurde, war mit Händen zu greifen. Kompensiert wurde er durch eine Überhärte in den Formulierungen, die ebenso den Drang zum – fast – geschlossenen Markt der Meinungen bekundete wie das Unterfangen, mittels durchsichtiger Operationen Ansichten zu erzeugen. Der politische Essay geriet zur Versuchsanordnung, in der anonyme Wahrnehmungs- und Gesinnungspartikel qualvollen Torturen unterworfen wurden, um Resultate zu liefern, die sich verhökern ließen. Der deutsche Intellektuelle feierte seine Wiedergeburt als Homo politicus, ohne sich durch die Beobachtung stören zu lassen, dass er ungeniert die Sprüche der Unpolitischen anschärfte, um ihre innere Absurdität auszukosten, die der common sense stets notdürftig zu verhüllen versteht. Worauf er beharrte, war die Differenz. Die eilige Demontage des sozialistischen Lagers erzeugte in ihm einen mit dem Gefühl der Erleichterung unterlegten Brechreiz, der auf eine existentielle Notlage schließen ließ. Die Vision der einen Welt war und ist nicht nach seinem Geschmack. Das folgt aus dem persönlichen Verhältnis, das er zum Allgemeinen unterhält. Die Distanz zum Bestehenden muss erlebbar, muss darstellbar sein. Sie braucht die Symbole der anderen, der differenten Welt. Wann immer eines fällt, sind die Intellektuellen zur Stelle, die es unter Krokodilstränen vor dem Verschwinden in Schutz zu nehmen behaupten. Hier verschwand eine Welt: Es bedurfte keiner unterschwelligen Sympathie mit dem Entwurf, der ihr zugrunde lag, oder seinen Exekutoren, um mit Beklemmung zu konstatieren, dass dabei nicht eine, sondern die Differenz zurückgenommen werden sollte, die ihre Existenz von der ihrer geldmachenden Mitmenschen unterscheidet, auch wenn die Trennlinie längst im Ungefähren verläuft.
21.
Die sogenannte Rushdie-Affäre erinnerte daran, dass der Weltzustand, in dem schreiben kann, wer an Tabus zu rühren weiß, auf revidierbaren Entscheidungen beruht. Sie zeigte, dass die zwang- und reflexhaft geübte (weil nur so alltagsfähige) Toleranz auf ihrem eigenen Terrain erfolgreich herausgefordert werden kann – eine Lektion, welche die hergebrachte übertrifft, derzufolge es keinen Weltzustand gibt, der nicht sorgfältig nach Zonen minderer Sicherheit sortiert werden müsste. Die Herausforderung bestand weniger in dem Einbruch praktizierter Intoleranz (Regelverletzungen gilt es wegzustecken) als darin, dass Toleranz – oder Liberalität – als Repression gegen eine sich der Intoleranz verschreibende Kultur denunziert, wirkliche Toleranz demnach als Gewährenlassen fremder In- oder A-Toleranz im liberalen Staat eingefordert wurde. Leicht einzusehen, dass hier das Wörtchen ›wirklich‹, wie meist, die letzte Hülle bezeichnet, die wegzuziehen dem Betrachter nicht ziemt, weil in dem, was darunter zum Vorschein käme, der Obszönität ›nackter‹ Interessen, sich ohnehin alle gleichen, wie jedermann weiß oder zu wissen glaubt. Bemerkenswert hingegen die Reaktionen derer, die unversehens in einem der ihren den Berufsstand in Gefahr geraten sahen, – erstaunlich deswegen, weil Leute, die hinsichtlich der zweideutigen Mechanismen der Liberalität, denen sie ihre Jobs verdanken, von Berufs wegen keinerlei Illusionen gelten zu lassen bereit sind, sich unvermittelt zu ihrer Verteidigung aufgerufen sahen – perplexe Aufklärer, von einer fremden Macht in die Steinzeit zurückgeschreckt, in die eigene, wohlgemerkt, deren Credo lautet: ›Die Freiheit des Wortes ist unantastbar‹. Nichts ist peinlicher für den Geist, der sich dem Stand der Dinge, das heißt, der Diskussion über sie, in einträchtiger Zwietracht verbündet weiß, als mit abgelegten Parolen in flagranti erwischt zu werden. Die Kultur der Anerkennung, die sich an der Zeit weiß, und, anders als die Toleranzkultur, auf der uneinholbaren Fremdheit des Fremden beharrt, mit dem man zusammenzugehen wünscht – diese weithin chimärische und gleichzeitig wirksame Kultur gerät aus dem Tritt, wenn ihr von anderer Seite die Anerkennung verweigert wird. Wie man sieht, weiß sie sich zu helfen, wenn es denn sein muss. Die Frage, die, weithin unbeachtet, auf dem Tisch liegt und dort wohl liegenbleiben wird, lautet entsprechend: wie steht es um eine Aufklärung, die ihre vorerst letzte Ambition darin findet, den Universalismus ihrer Anfänge zu widerrufen, indem sie ihn zum Abziehbild der partikularen Verhältnisse macht, in denen er unbefragt galt, und die daraus folgert, ihre Aufgabe bestehe darin, der deutenden Unterwerfung des Fremden Grenzen zu setzen durch Rituale der Anerkennung, wenn sie sich unversehens genötigt sieht, im unverfügbaren Anderen den Kampf mit dem eigenen Gestern aufzunehmen und so den Prozess der Selbsterfindung im Umgang mit dem Fremden zu rekapitulieren? Das Dilemma ist zu offenkundig, als dass es ausgesprochen werden müsste: ein guter Anlass für Arien und Rezitative, wie immer in solchen Fällen. Fürs erste hilft man der eigenen Klientel.
22.
Der Intellektuelle ist am Ende; fragt sich, an welchem. Etwas Fiktion war seiner Erscheinung immer schon beigemischt, kein Wunder also, sollte er zur Gänze als Fiktion überleben. Sinowjews wunderlicher Verdacht, die Glasnost-Kulturszene sei unter anderem deshalb in die Welt gesetzt worden, um die wahre, die Untergrundkultur der vorhergegangenen Jahrzehnte dadurch auszulöschen, dass man ihre Leistungen, in Staatslizenz sozusagen, nacherzeugt, war vielleicht schon absurd, als er publiziert wurde, doch der Einfall ist stark genug, um einmal als Gedankenexperiment, abgelöst von seinem Anlass, durchgespielt zu werden. Ist eine intellektuelle Kultur denkbar, die eine frühere dadurch zum Verschwinden bringt, dass sie ihre Produkte mit denen der anderen deckungsgleich macht, abgerechnet die Motive, die jene hervorgebracht haben? Wäre also (die Frage weitergetrieben) das Erscheinungsbild einer Kultur denkbar, die als solche nicht stattfindet? Angenommen, es wäre denkbar: was, außer den üblichen Positionskämpfen, fände in ihr statt dessen statt? Das ist die Frage der Fragen, und die aus der Vergangenheit des Systems genährte Angst, es gehe einmal mehr darum, die Namen der Vorangegangenen aus dem Gedächtnis der Menschen zu tilgen, führt nicht zum Kern des Problems: Namen sind Schall und Rauch. Sie für alle Gelegenheiten auf Vorrat zu halten kann ebenso effizient sein wie gelenktes Vergessen, wenn es darum geht, das zum Verschwinden zu bringen, wofür sie standen. Es ist ja (ein altes Thema) nicht einmal ausgemacht, dass der Gegenwart daran gelegen sein muss, die alten Grabenverläufe nachzuzeichnen und die Beweggründe der Beteiligten lebendig zu halten: reproduzierbar sind Motive nur als Ressentiments. Was tatsächlich stattfindet in einer solchen (nach wie vor imaginierten) Kultur, ist Bewegung, ein Aktivieren und Desaktivieren von Optionen, die aus der Tiefe des historischen Raumes auftauchen und einen Moment lang zur Geltung kommen, weil sie der und der Stand der Dinge ins Licht des Vorteils hüllt. Das Wort ›Option‹ zeigt an, dass es in diesem Spiel nicht darum geht, einen Gedanken zu haben, sondern darum, ihn zu vertreten, soll heißen, ihn denen zuzuspielen, die in der Lage sind, Optionen wahrzunehmen oder zu verwerfen. Die mobile Kultur hat die Mobilisierungen der Vergangenheit hinter sich, sie hält sich zur freien Verfügung, wissend, dass die von ihr bereitgestellten Optionen keineswegs realisiert, sondern allenfalls verfolgt werden können, bevor andere sie verdrängen. Der Grund dafür ist einfach. Er liegt darin, dass Optionen Probleme ad hoc, nicht fortschreitend integrieren, sie also im Fortgang der Angelegenheiten zerfallen und ersetzt werden müssen. Ihre Integrationstiefe ist gering, das zwingt sie, in Konkurrenz zu leben: die Dinge lassen sich immer auch anders bündeln. Wenn Anerkennung wechselseitiges Fremdsein voraussetzt, dann ist sie hier verwirklicht. Die Option, die keinen Käufer findet, macht anderen Platz. Einer wird kommen.
23.
»Weder aus dem von mir selbst bei Lebzeiten veröffentlichten, noch aus dem nach meinem Tod gleich wo immer noch vorhandenen Nachlass darf auf die Dauer des gesetzlichen Urheberrechtes innerhalb der Grenzen des österreichischen Staates, wie immer dieser Staat sich kennzeichnet, etwas in welcher Form immer von mir verfasstes Geschriebenes aufgeführt, gedruckt« etc.: der seltene Vorgang, dass ein Schriftsteller (T. Bernhard) einem Staat, »wie immer dieser ...« sich kennzeichnet, testamentarisch das Recht auf den Genuss (technisch gesprochen) seiner Schriften entzieht, ihn also förmlich enterbt, verrät eine Staatsnähe, ja Staatsintimität von Serenissimusformat. Zwar fehlt der großen Enterbungsgeste die Einsetzung des guten Zwecks (›überlasse meine sämtlichen ... Druck- und Aufführungsrechte vorbehaltlich ... dem Sanatorium Waldhof sowie der Krebshilfe e.V. zu gleichen Teilen ...‹), doch ergibt auch die Zerstreuung quasi in alle Winde einen guten Sinn unter der Voraussetzung, dass hier einer schon zu Lebzeiten jenen nichts schuldig geblieben ist, denen er posthum die Teilhabe an seinen Werken entzieht, dass also nicht Vergeltung, sondern Verflüchtigung das Motiv der Verfügung ist. Nicht von ungefähr klingt in ihr der Tonfall eines anderen, kaum weniger kurrenten Textes nach: »Wer Banknoten nachmacht oder verfälscht oder nachgemachte oder verfälschte sich verschafft und in Verkehr bringt ...« Beide Aussagen lassen sich unschwer aufeinander beziehen. Das Testament, gelesen als Kontrafaktur, verfügt die Auflösung einer Gegenwährung: der penible Buchhalter der eigenen Möglichkeiten darf nicht zulassen, dass seine Notenpresse in die Hände des Gemeinwesens fällt, dessen Gemeinheit in gleicher Münze und Blüte um Blüte zurückzuzahlen er angetreten ist. Der Tote schuldet der Sippschaft (denn um sie handelt es sich) nichts mehr, damit entfällt der Anlass, es ihr weiterhin heimzuzahlen, in welcher Form eines ›verfassten Geschriebenen‹ auch immer. Schließlich verlangt die Sippschaft nur eines, das aber unerbittlich: dass einer wie dieser sich nicht ausnimmt, dass er bleibt, wer er ist, einer der ihren, und zwar durch und durch. Derjenige, der es ihr heimzahlt, deutet damit an, dass er so vieles zu geben hätte, unter anderen Konditionen, den seinen nämlich. Stichwort ›letzte Rollen‹: Der Dichter als gekränkter Machthaber oder Serenissimus in der Unterwelt.
24.
Nichts ist kompromittierender als die in den öffentlichen Raum gestellte Frage ›Was tun?‹ Wer sie stellt, zieht die eigene Kompetenz oder die seiner Berater in Zweifel: da draußen ist jemand, der weiß es besser. Wer sich angesprochen fühlt, den nötigt sie, eine plötzliche Summe aus Beobachtungen zu ziehen, in denen, falls sie etwas taugen, Kon- und Divergenzen sich gegenseitig auf den Plan rufen und einander am Ende austarieren – nicht, weil das der Struktur der Wirklichkeit entspräche, sondern weil nur auf diese Weise den Strategien des Beobachtens keine Gewalt geschieht. Die Erziehung der Intellektuellen zur Praxis der täglichen Dinge gleicht einer Gehirnwäsche: der entstehende Zwitter mag hier und da brauchbar sein oder sich brauchbar vorkommen, auf jeden Fall ist er überflüssig und, was schwerer wiegt, überholt – Verstärker eines Geschreis, das jede hörbare Lautstärke übertrumpft. Das Wir-Virus: Markenzeichen des kollektiven Schwachsinns oder das Wunder der Transsubstantialität: ›Solange wir nicht, wenn wir wollen, dass...‹, ›wir sind verantwortlich, wenn...‹: hier vollzieht sich die lautlose, durch Blödigkeit gemilderte Verwandlung des Individuums, des Sprechers, um vorsichtig zu sein, in das Gattungssubjekt: denn dass es die Menschheit ist, die sich ihrer selbst annehmen muss, steht in jedem Fall außer Frage.