11.

Georg Trakl hinterließ, was die Kritik ein schmales Werk nennt: zwei Gedichtbände, eine Reihe einzeln – vornehmlich in der Innsbrucker Zeitschrift Der Brenner – veröffentlichter Gedichte sowie einen Nachlass, der, zum Entzücken der Germanistik, deutliche Einblicke in die Werkstatt des Dichters gewährt. Vor allem aber hinterließ er das dauerhafte Staunen seiner Bewunderer wie seiner Verächter über die kanonische Wertschätzung, die dieses Werk nach dem Tod seines Urhebers gewinnen konnte. Entstanden unter dem Druck privater Obsessionen, die aufzuhellen sich die Psychiatrie nicht ohne Erfolg bemüht hat, schien es wie zum Beleg der These geschaffen, dass unter den Bedingungen der Moderne die Allgemeinheit sich am ehesten in den Absonderlichkeiten gefährdeter Individuen wiedererkennt, denen es nur unter absurden Mühen gelingt, ihr brüchiges Selbst eine Zeitlang über die Runden zu bringen.

Merkwürdigerweise greift Trakl zu Formulierungen, die beinahe klingen, als seien sie im Vorgriff auf solche Überlegungen entstanden. Man schreibt das Jahr 1913, als er in einem Brief an seinen Gönner und Vertrauten, den Brenner-Herausgeber Ludwig von Ficker, mitteilt: »Ich sehne den Tag herbei, an dem die Seele in diesem unseligen von Schwermut verpesteten Körper nicht mehr wird wohnen wollen und können, an dem sie diese Spottgestalt aus Kot und Fäulnis verlassen wird, die ein nur allzu getreues Spiegelbild eines gottlosen, verfluchten Jahrhunderts ist.« Heute, im Rückblick auf das Jahrhundert, von dem da geredet wird, können solche Sätze nicht länger überraschen. Dennoch berührt es seltsam, einen zur Selbstpreisgabe – »(m)einetwegen und von Herzen auch durch Krankheit und Melancholie« – entschlossenen Sechsundzwanzigjährigen sich zum Ebenbild des erst wenige Jahre alten Jahrhunderts stilisieren zu sehen. Man möchte meinen, die Sentenz müsse genügen, um den Anspruch auf unser Gehör zu begreifen, den die Hinterlassenschaft dieses seltsamen Menschen erhebt. Aber machen wir es uns nicht zu leicht.

 

12.

»Er ist wohl kein Opfer des Krieges. Es war mir immer unbegreiflich, dass er leben konnte. Sein Irrsinn rang mit göttlichen Dingen.« Karl Kraus schrieb das, nachdem er vom Tod des Dichters erfahren hatte. Im Oktober 1914 war Trakl als Kriegsfreiwilliger im Sanitätsdienst zur Beobachtung seines Geisteszustandes in ein Krakauer Garnisonsspital eingewiesen worden und dort am dritten November an einer Kokainvergiftung gestorben. Dem privaten Nachruf des Kritikers korrespondiert der Eintrag des behandelnden Arztes ins Krankenblatt: »Nebenbei sei bemerkt, dass er in Zivil seinen Beruf nicht ausübt, sondern ›dichtet‹.‹ Beide diagnostizieren jene Lebensuntüchtigkeit, die sich im Versemachen kundtut. Wie auch immer es um die göttlichen Dinge bestellt sein mag, der Irrsinn des Dichters entfaltet sich im bürgerlichen Absturz. Es scheint daher einigermaßen konsequent, seine Dichtung als Umkehrbild einer im Sturz erfahrenen Welt zu lesen.

»Ich bin wie ein Toter an Hall vorbeigefahren, an einer schwarzen Stadt, die durch mich hindurchgestürzt ist, wie ein Inferno durch einen Verfluchten«, schreibt er an den Freund Erhard Buschbeck. Es fällt nicht schwer, das Erlebnisschema in seinen Versen wiederzufinden: »Aufflattern weiße Vögel am Nachtsaum / über stürzenden Dächern / Von Stahl.« Ähnlich leicht lässt sich die dunkel schimmernde Bilderwelt seiner Gedichte auf die gleitenden Halluzinationen des Süchtigen verpflichten: »Auf schwarzer Wolke / Befährst du trunken vom Mohn / Den nächtigen Weiher / Den Sternenhimmel.« Oder: »Verflucht ihr dunklen Gifte, / Weißer Schlaf!« Man glaubt zu verstehen, immerhin, und das ist nicht wenig. Andererseits weckt die Gier, mit der eine auf Informationen erpichte Nachwelt private Stigmata in den Mittelpunkt ihres Interesses rückt, Zweifel an der Lauterkeit ihrer Lesarten.

 

13.

»Unsäglich ist das alles, dass man erschüttert ins Knie bricht.« Er hat das wirklich geschrieben, man mag es kaum glauben. Der Dichter als Zeitzeuge, Formeln existentieller Erschütterung absondernd angesichts der Unsäglichkeit der Welt, die stets bemerkt, aber offenbar viel zu lange auf die leichte Schulter genommen wurde – eine Figur, wie erfunden für das Feuilleton der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, in denen aus durchsichtigen Motiven Welt- und Sprachkrise zu einer Allianz genötigt wurden, die gerade so lange hielt, wie es der panische Affekt der schlecht und recht Davongekommenen erzwang.

Mit Trakl hatte das eher wenig zu tun. Das Unvermögen der Sprache, erschöpfend über die Dinge Auskunft zu geben, scheint nie ein ernsthafter Gegenstand seines Nachdenkens gewesen zu sein. Nicht das Medium Sprache beschäftigt ihn, sondern das, was in ihm obsessiv zur Darstellung drängt. Seine Visionen sind Entäußerungen: Objektivationen des Geistes, begleitet von dem Gefühl, allem preisgegeben zu sein. Écriture automatique? Will man seinen Versicherungen nicht glauben, so kann man am Nachlass verfolgen, wie sehr dieser Autor an seinen Texten feilt. Doch was heißt hier ›feilen‹? Es fällt nicht schwer, den Herausgebern der historisch-kritischen Ausgabe beizupflichten, die das fortwährende Um- und Überschreiben ›aleatorisch‹ nennen, also ›willkürlich‹oderbeliebig‹, weil in den Änderungen kein wirksames Prinzip erkennbar wird. Die Nichtverfügbarkeit der Objektwelt, von der die Gedichte sprechen, lässt offenbar kein begründetes Urteil über den dichterischen Arbeitsvorgang zu. Es ist, als verwende man alle Mühe darauf, einem Spieler in die Karten zu sehen, ohne zu begreifen, was gespielt wird. Nicht allein die Höhe des Einsatzes entscheidet schließlich über Gewinn und Verlust – auch dort, wo das Leben selbst auf dem Spiel stehen sollte –, sondern die Kenntnis der Spielregeln. Anders gesagt: Das Problem, das diese Dichtung aufwirft, liegt nicht im individuellen Lebensstoff, sondern in ihrem Anspruch, etwas Allgemeines gültig auszusagen.

Wirklich kreisen die wenigen überlieferten Äußerungen Trakls, die seine dichterische Verfahrensweise betreffen, um den Vorgang der Objektivierung, ohne ihn anders als in einem formalen Sinn fassen zu können. So schreibt er einmal: »Du magst mir glauben, dass es mir nicht leicht fällt und niemals leicht fallen wird, mich dem Darzustellenden bedingungslos unterzuordnen und ich werde mich immer wieder berichtigen müssen, um der Wahrheit zu geben, was der Wahrheit ist.« Auffällig an diesem Zitat ist die Vertauschung der Seiten: Was das Gros der Leser vermutlich für den schlechterdings subjektiven Raum dieser Dichtung hält, das begreift der Autor als objektive Sphäre. Die »heiß errungene Manier meiner Arbeiten«, ihre radikal subjektiv geformte Sprache, ist das Mittel, das er gewählt hat, um gänzlich objektiv zu sein. Und worin besteht diese ›Manier‹? In nichts anderem als der vollendet ›unpersönlichen‹ oder universellen Form. Ein Bündel von Widersprüchen also, die der Dichter – Nur Narr! Nur Dichter! – aufzulösen sich keineswegs bereithält.

 

14.

Von Heidegger stammt das Aperçu, in Wahrheit habe Trakl nur ein Gedicht geschrieben. Man ist versucht, ihm einen Namen zu geben. Helian zeigt den Dichter auf der Höhe seiner Möglichkeiten, ein epochales Gedicht, vergleichbar Valérys Cimetière Marin oder T. S. Eliots The Waste Land. Wie bei diesen greifen Auslegungen zu kurz, die sich nicht an der Tradition ›hoher‹ Lyrik orientieren: Es ist reiner Gesang. Man muss den Anfang vernehmen: »In den einsamen Stunden des Geistes / Ist es schön, in der Sonne zu gehn / An den gelben Mauern des Sommers hin.« Ein vollkommener Satz, aus dem sich als Echo ein zweiter löst: »Leise klingen die Schritte im Gras; doch immer schläft / Der Sohn des Pan im grauen Marmor.« Aus solchen Sätzen, in sich gleichermaßen bewegt und beruhigt, entsteht das Gedicht. Der Satz wird zum Maß aller Dinge. Klangkonfigurationen und Echowirkungen loten ihn aus. Sachte und stetig enthüllt die Versfolge Verwandtschaften zwischen den Sätzen und rundet sich in ihnen zur Einheit, ohne sie mit einem Sinn zu befrachten, der über sie hinauszielte. Manchmal scheint sich das rhythmische Ganze in einen einzelnen Satz zusammenzuziehen: »Schön ist der Mensch und erscheinend im Dunkel, / Wenn er staunend Arme und Beine bewegt, / Und in purpurnen Höhlen stille die Augen rollen.« An solchen Stellen hält das Gedicht inne. In die entstehende Stille hinein hebt es neu an, indem es vor- und zurückgreift, frühere Motive mit noch ausstehenden verflicht: »ZurVesper verliert sich der Fremdling in schwarzer Novemberzerstörung, / Unter morschem Geäst, an Mauern voll Aussatz hin / wo vordem der heilige Bruder gegangen, / Versunken in das sanfte Saitenspiel seines Wahnsinns ...« Das wirkt reflexionsfern und ist von einer Bedachtheit ohnegleichen.

»I am not a demigod, / I cannot make it cohere«, heißt es belehrend in einem der späten Cantos von Ezra Pound. Damit verwirft er einen Imperativ, dem er, die Tradition im Blick, sich bis dahin verpflichtet geglaubt hatte: Der Dichter stiftet die Einheit der Welt. Bei Trakl gibt es einen solchen Bruch nicht. Wenn er sich über das Dichten äußert, dann erscheint an zentraler Stelle das Wort ›Chaos‹: »Was für ein infernalisches Chaos von Rhythmen und Bildern.« Im Helian wird der orphische Anspruch der Lyrik, das Chaos singend zu ordnen, ›zurückgenommen‹, wie das Thomas Mann beziehungsreich nennt. Trakls ›Vision‹ verdankt sich dem schwindelnden Blick auf eine Welt, in der sich nur mittels Trugbildern Zusammenhang herstellt. Die Aufgabe besteht darin, das Chaos im Gedicht zu restituieren. Das heißt nicht, dass das Gedicht zerfällt. Die Form des Gedichts ist die Form der Entäußerung, mittels derer das Negierte in der Negation noch einmal erscheint. »Am Abend versinkt ein Glockenspiel, das nicht mehr tönt, / Verfallen die schwarzen Mauern am Platz, / Ruft der tote Soldat zum Gebet.« Als negierter tönt auch der Gesang fort, und wenn es in dem Gedicht Untergang in einem vielleicht an Hölderlin gerichteten Vers heißt: »Unter Dornenbogen / O mein Bruder klimmen wir blinde Zeiger gen Mitternacht«, so kann man sich daran erinnern, dass der »gen Mitternacht« klimmende »blinde Zeiger« zwischen Mittags- und Mitternachtshöhe keinen Unterschied macht.

 

15.

Dass die rhetorischen Elemente der Sprache dazu dienen, seelische Wirkungen zu stimulieren und Erlebniszwitter entstehen zu lassen, ist ein Gemeinplatz. Hingegen gilt der Gebrauch elementarer logischer Formen – Negator, Allquantor – als unverdächtig, als Antidot gegen ungerechtfertigte Aufschwünge. Dabei wird gern unterschätzt, dass jede noch so leichte Betonung, jede signifikante Häufung dieses oder jenes sprachlichen Elements, jede geringfügige Verschiebung im verbalen Haushalt erlebt wird und emotionale Wirkungen entfaltet, die jenseits aller zweckmäßigen Verständigung liegen. Die Entdeckung, dass im Gebrauch der Negation die Möglichkeit beschlossen liegt, eine Welt zu erzeugen, vorausgesetzt, man entschließt sich, von ihr einen nicht alltäglichen Gebrauch zu machen - diese Entdeckung ist sehr wohl geeignet, das Staunen und die Verzweiflung eines Dichters hervorzurufen, der die magische Seite der Reflexion berührt hat, ohne zu wissen, welches Instrument er in seinen Händen hält. Einen solchen Dichter kann man nicht länger naiv und noch nicht reflektiert nennen; die Unvertrautheit mit den Mitteln und Wegen der Reflexion ist die Voraussetzung seiner Kunst und ihr Geheimnis. Wer es lüftet, fühlt sich auf seltsame Weise beschämt und aufgefordert, zu beteuern, damit sei ›im Grunde‹ nichts oder wenig über sie gesagt. Und doch ist alles darüber gesagt, wie eine solche Kunst möglich ist. Bleibt die Frage, warum sie entstand – in dieser Person, zu ihrer Zeit.

 

16.

In die späten Gedichte drängen sich Weltuntergangsphantasien. Wo die Reflexion nicht von der Stelle kommt, springt die Seherpose ein, schon bevor – seltsames Zusammentreffen – die Schlachthausszenen des beginnenden Krieges der Erregbarkeit des Dichters ihr letztes Sujet liefern. »Gewaltig ängstet / Schaurige Abendröte / Im Sturmgewölk. / Ihr sterbenden Völker! / Bleiche Woge / Zerschellend am Strande der Nacht, / Fallende Sterne.« »Novemberabend. / Am kahlen Tor am Schlachthaus stand / Der armen Frauen Schar; / In jedem Korb / Fiel faules Fleisch und Eingeweid; / Verfluchte Kost!« »Des Abends blaue Taube / Brachte nicht Versöhnung. / Dunkler Trompetenruf / Durchfuhr der Ulmen / Nasses Goldlaub, / eine zerfetzte Fahne / Vom Blute rauchend, / dass in wilder Schwermut / Hinlauscht ein Mann.« Das wird der Trakl einer kulturpessimistisch unterfütterten Literaturverehrung, die – zitierwillig und zitatsüchtig – den Katastrophen des Jahrhunderts das dichterisch überhöhte Wort hinterdreinschickt. Im Anachronismus finden beide Seiten scheinbar zu einander. Der Seher entlässt den zivilisatorischen Prozess, der seinen Anspruch aufzehrt, das Ganze zu deuten, mit einer Armbewegung ins Wesenlose. Unfreiwillig dementiert er damit die von ihm unternommenen Mühen, unter nicht begriffenen, doch deshalb kaum weniger zwingenden Bedingungen als Dichter zu bestehen. Am Ende war nichts zu begreifen: So verbirgt sich im weiten Mantel des vates, wie er recht gut sah, »doch immer ein armer Kaspar Hauser«, der überlebensgroß seine eigene Vorwelt erträumt: »Du, noch Wildnis, die rosige Inseln zaubert aus dem braunen Tabaksgewölk und aus dem Innern den wilden Schrei eines Greifen holt, wenn es um schwarze Klippen jagt im Meer, Sturm und Eis.«

 

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