1.

Festland. Wölbings Beiträge zur Ästhetik des Whoppers begnügen sich nicht damit, ihn zu porträtieren; sie finden ihn allenthalben. Dem Metzger gleich, der hinter dem anämischen Wesen seiner Kundschaft den verderblichen Einfluss von Tiefkühlkost wittert, sieht er seinen Gestalten den Bissen im Leibe auf zehn Schritt Entfernung an. Man merkt sofort, dass sie herumgekommen sind und ganz bei der Sache; zuhause immer gerade da, wo sie die Zeichnung queren. Nicht dass es ihnen freistünde, auf zwei Beinen aus dem Bildraum hinauszuschlendern. Sie sausen vorbei, Körpergespinste im leeren Raum, der wachsame Kamerablick folgt ihnen auf dem Fuße. Einige verlieren sich im Rausch der Geschwindigkeit; es schert sie nicht, dass der Dosenverschluss linkerhand lässig mithält. Auch zählt nicht das große Tempo, sondern die Konzentration des Jungen, der Skateboard fährt und augenblicklich nicht ansprechbar ist – ausgerichtet auf den Punkt, aus dem die Welt hervorschießt, um schon verschwunden zu sein, erzeugt er das Vakuum, das ihn verzehrt.

 

2.

Landschaften, die den Müll intus haben: Traumländer mit Wolken, Brücken und Stegen durchs nächtliche Gebirg. Der Betrachter ahnt mehr, als dass er es sähe, das Fadenscheinige einer vorsichtig neu gefassten, den Vorbehalt mitkomponierenden Arte povera. Überall dringt der Grund durch, kein Zeichengrund, sondern der Grund der zeichnerischen Vertiefung, die autonome Reprise – autonom deshalb, weil es gleichgültig ist, welche Bewegung sie wiederholt, welche Verteilung von Licht und Schatten das rasch ziehende Gewölk des Erinnerns auf sie herabsenkt. Der Zeichner meidet die Bloßstellung, dieses bittere Futteral, das wegschließt, worauf es ankommt. Was er sucht, ist naheliegender und entlegener. Der Fuß da, die Geste, der gekrümmte Rücken, alles erinnert, steigt doppelt auf, bietet sich an als lose Übereinstimmung von ›wirklich‹ Gesehenem und ›Überkommenem‹.

 

3.

Diese undefinierten Gestalten, verflochtene, verknotete, ent- und verwirrte, in rasender Eile daherkommende oder stationär verfließende Wesen, die den Bildraum bevölkern variieren ein und dasselbe Motiv. Alle tragen die Kreditkarte dort, wo sie hingehört – über dem Herzen. Sie wirken gelöst, denn sie wissen, dies ist ihre Welt. Ob sie ihren Geschäften nachgehen oder sich gerade von ihnen erholen, macht keinen Unterschied. Wenigstens geht er niemanden etwas an. Sie halten die Augen offen, immer auf dem Sprung, ein Schnäppchen zu machen. Thermopylae dünkt sie eine sandige Piste, die Nike von Samothrake ein Gipsei. Der Zeichner sieht es ihnen nach; seine Wahrnehmung, den Aufbrüchen des Jahrhunderts verpflichtet, unterscheidet sich von ihrer nur wenig. Dieses Wenige, die ungewisse Differenz, die ihn von seinen Objekten trennt, öffnet den graphischen Raum, in den er sie entlässt. Ihre Cleverness verliert sich an die umgebende Leere, sie kommt als das zurück, was man die ungetilgte Profanität des Abgrunds nennen könnte. Die Epiphanie des Undeutlichen, des verwischten, verhuschten, teils körnig, teils krakelig hervortretenden, dann wieder das Phlegma öliger Flächen äffenden, seiner Bestimmung ledigen Elements setzt jede erdenkliche Art von Kosten-Nutzen-Rechnung voraus und macht sie gegenstandslos. Das Amorphe zeigt sich in guter Form. Es wirkt geschäftig.

 

4.

Die Botschaft der Differenz, hier ist sie angekommen. Was immer sich dem Betrachter von der Anstrengung mitteilt, die in den Landkarten der Kunstgeschichte aufgeklappten Wege nachzufahren, es wird aufgewogen durch die klare und nicht sehr distinkte Einsicht, dass das zu Erkundende in der Konzentration auf den Weg ersteht und vergeht, beides in einem Zug. Nicht der Akt entscheidet über das Gelingen, sondern das Resultat, falls es sich einstellt, ohne den Erwartungen zu entsprechen. Das Ergebnis einer Bemühung: Was ist das? Etwas, das sich ergibt. Ein Sieg vielleicht? Wenn ja, dann ein zweideutiger. Der Grund der Ergebung bleibt ebenso im Unklaren wie das, was aus ihr folgt. Sehen so Siege aus? Oder doch eher Niederlagen? Eines scheint sicher: Sollte es Positionen geben, um die – aus Gründen, die jedem strategisch Denkenden unmittelbar eingehen – gerungen wird, Positionen, die nur da sind, um eingenommen und verteidigt zu werden, so finden wir hier Techniken am Werk, welche im Ausweichen die Lust der Erfahrung vermitteln. Das Umwegige hat seinen Preis. Was es vermeiden hilft (oder vermeiden soll), sind Gefahren vom Hörensagen. Die einflüsternde Kraft des Gerüchts ist als negative Produktivkraft geschäftig. Sie teilt dem Künstler mit, dass es dort nichts zu holen gibt. Zwar beweist das instinktive Ausweichen vor Plätzen, an denen sich Zeitgenossenschaft bewährt, für sich genommen nichts. Aber es ist doch die Frage, ob es dafür genommen werden sollte. Wahrscheinlich suggerieren die strategischen Plätze Gefahren, vor denen niemand besteht, weil der Andrang eingebildeter Draufgänger von vornherein jede Gefährdung ausschließt. Im Zeitalter des intellektuellen Massentourismus sind die Probleme nicht dazu da, um gelöst, sondern um in zahllosen Ansichten auf den Markt geworfen zu werden. Sie sollen belegen, dass man auch da war und über die beste Ausrüstung der Saison verfügte. Bleibt zu ergänzen, dass der gehobene Problemtourismus einen bewundernswürdigen Überblick über die gastronomischen und sonstigen Annehmlichkeiten der von ihm angesteuerten Ziele wahrt.

 

5.

Man versteht schon, in welche asphaltlosen Gelände eine Kunst sich begibt, die sich zu entziehen trachtet. Andererseits versteht man die Attraktivität der öffentlich ausgestellten Gefahr – unmöglich, ihr nicht zu erliegen, sobald man sie für sich entdeckt hat. Einerseits-andererseits: beide Tendenzen zusammengenommen vermitteln die Erscheinung des Künstlers, der die Bewegungen der Epoche begleitet, ohne sich ihren Verkehrsmitteln anzuvertrauen. Ein Fußgänger, immer zu spät und zu früh zwischen den Ankunftszeiten der a priori Pünktlichen, ausgestattet mit einer Wahrnehmung, die Befremden hervorruft, weil sie die Totale bevorzugt, wenn das Detail gefragt ist, und sich in Einzelheiten verliert, wenn alle zum Aufbruch drängen. Angesichts so vieler in der Wolle gefärbter Individualisten, prächtig anzusehen in ihrem Ornat wie die Könige aus dem Morgenland, überfällt ihn ein Gefühl der Verschwendung von Zeit und Ressourcen zusammen mit einem ungezügelten Verlangen nach Anbetung. Das Kind in der Krippe, es ist auf Stroh gebettet, er sieht es wohl, aber es bleibt das Kind und es bliebe die Krippe. Was also tun?

 

6.

Deutlicher als der bemühte Eklektizismus signalisiert ein gewisser durch handwerkliche Gediegenheit betäubter Dilettantismus den Abschied von der Moderne. Einmal als Ausdruck der Zeitenwende begriffen, wird er ganz unvermeidlich. Die Kunst symbolisiert die Suchbewegung, sie ist diese Bewegung, auf die sie zeigt, als habe sie etwas gefunden. Was nicht so falsch ist. Denn was immer man davon halten mag, sie hat ihr Verhältnis zum Kommerz bereinigt, der sich dankbar revanchiert, indem er mit vertreterhafter Begeisterung nicht hinter den Berg hält. Her mit dem hilfreich in Trends abgefüllten hundertfachen Aufguss all dessen, was die müde gewordenen Augen des Jahrhunderts gesehen haben, das ist unsere Welt, ein bisschen flippig, ein bisschen virtuell, ein bisschen schwierig, aber wir nehmen das nicht so genau. Die Kundschaft hat das Sagen. Wo alles schon gesagt wurde (ein Spruch, zu oft gehört, um noch Eindruck zu machen), wacht sie darüber, dass es schön beiläufig klingt und nicht zu dick aufträgt. Auch das lässt sich zeichnen. Fragt sich, wen es anficht.

 

7.

Niemandem steht es frei, isolierte Effekte ad infinitum zu steigern. Irgendwann haben sie das Maximum der Amplitude erreicht und nähern sich erneut der alltäglichen Gemengelage an. Was für alle Aufbrüche gilt, das gilt auch für die Art von Aufmerksamkeit, die darauf trainiert ist, Aufbrüche wahrzunehmen. Für den professionellen Beobachter, gewohnt, Weite und Grad der Abweichung zu bestimmen, sobald ein neuer Athlet in der Kunstszene seinen Wurf präsentiert (stark? ›unglaublich‹ stark?), ist alles Routine. Während der Automat in ihm das ›Ereignis‹ registriert, zeigt sich sein Blick anderweitig beschäftigt – von der Schuhmarke des Adepten bis zum Augenaufschlag im unvermeidlichen Medienplausch hinterher. Der Wurf, heißt das, verliert an Bedeutung, er hat sie bereits verloren, sobald die Szene sich angewöhnt hat, in Würfen zu denken, sie als unabdingbar voraussetzt. Denn einmal vorausgesetzt sind sie das immer Vorausgesetzte, der konventionelle Anlass, um sich über alles Mögliche auszutauschen. Wer den Kick hat und wer nicht, das wird nicht entschieden, das ist entschieden – in jener mythischen Vorzeit, in der die Wahrnehmung umsprang. Das Publikum hat keine Schwierigkeiten zu folgen, im Gegenteil, es reagiert erleichtert, dass ihm die Mühen des Urteils erspart bleiben, dass es nicken darf, ohne zu wissen, worum es geht, aber mit dem sicheren Instinkt, dass es um nichts anderes geht als darum, es zu hofieren. Gönnerhaft im Exzess, lässt es die Scheine knistern, die den Trubel in Gang halten.

 

8.

Hat einer erst verstanden, dass nicht der Wurf zählt, sondern das, was danach geschieht, dann begreift er auch, dass es darauf ankommt, spielerisch, ohne übermäßigen Kraftaufwand, über den Punkt hinwegzugleiten, an dem die meisten scheitern. Das professionelle Mittel zu diesem Zweck heißt Desintegration. In einer Malerei, in der alles ein bisschen an alles erinnert, erzielt die Vergröberung eines beliebigen Elements das Mehr an Bedeutung, in dem Exponat und Exponierender mühelos zueinander finden. Das Ergebnis ist ein Modernismus aus zweiter Hand, der sich auf die Produktion von Normen verlegt hat, eine Kunst, deren Macher das Alphabet täglich neu auf den Markt werfen, weil sie im Stammeln der aufs Analphabetentum zurückgeworfenen Sensiblen den Zuspruch vernehmen, den sie in Lebensstil umzusetzen gedenken. Format ist wählbar, eine Überzeugung, welche die obligaten Museumsgrößen mit dem ringenden Ungefähr eint, dessen aparte Darbietungsform die Häppchenkultur der Vernissagen darstellt. Widerstand wäre zwecklos.

 

9.

Flugtraum. Die erblätterte Welt ist die zerlesene. Die Zeichnung entsteht aus der Textur der Zerlesenheit, aus Rissen und Sprüngen, die von den Rändern her die Fläche erobern. Das Verfahren lässt keine leeren Flächen zu; es zielt auf Wirkungen, die plastisch und abstrakt sind. Fast-monochrome Geflechte, winzige Striche von wechselnder Dichte bedecken den Bildraum, Ligaturen, Serifen. Flimmerhärchen. Konzentrisch, vielleicht, auch sie. Aber nicht der leeren Mitte, sondern der verfehlten gilt die Bewegung; ein Zufallswurf führt sie ins Ziel. Die leere Mitte ist immer die ausgesparte, randvoll mit Absichten, überdeutlich. Erst die verfehlte Mitte wird aller Absicht ledig; sie ertrinkt in ihr. Auch ist sie nicht länger der Mittelpunkt, sondern seine Preisgabe. Die zeichnerische Technik schafft dezentrale Zentren und vernetzt sie; darin folgt sie der Logik komplexer Systeme, ob bewusstlos oder bewusst, tut nichts zur Sache.

 

10.

Breitwand. Vorausgesetzt, der Betrachter bringt die Zeit auf, die nötig ist, um weniger zu sehen statt mehr – also zu sehen –, so erwartet ihn ein Wechselspiel von Schicht und Distanz. Stutzig geworden, gleitet der Blick nicht länger in eine stetig sich aufschließende Tiefe, sondern springt von Schicht zu Schicht, von Zeichenebene zu Zeichenebene. Der Trick – falls er so genannt werden darf –: Auch der zweite, der Machart geltende Blick findet sich zwischen Objekten. Wie der erste lässt er sich narren – wovon? Von einer fiktiven Welt aus verwitterten Blöcken, in der sich der Illusionscharakter der ersten spiegelt. Zwei Raumillusionen setzen einander zu, so dass der Betrachter abwechselnd in der einen und in der anderen verharrt. Zwei Vollzugsinstanzen, die sich gegenseitig überführen und dingfest machen, statt sich ineinanderzuschmiegen, wie das in den Kippbildern Eschers geschieht. Das Thema lautet nicht Die Geometrie und die Unzucht des Blicks, sondern Sieh dich nicht um. Es ist schon geschehen.

 

11.

Nebelaufgang. Die Perspektive – ein Fast-Nichts, das den Betrachter fordert, ohne dass es verriete wozu. Kopfschüttelnd beugt er sich über Lineamente, beseelt von der mit Zweifeln unterfütterten Hoffnung, es könne ihm einmal gelingen, sie zu entziffern. Aber während er fortliest – oder doch fortlesen möchte –, verirrt er sich in eine Tiefe diesseits der Landschaft, die sie ausspannt und wieder eng macht wie ein Jo-Jo, das in die Hand zurückläuft, von der es geschleudert wurde. Das Stocken des Lesenden gibt dem Raum Gelegenheit, sich für die Dehnung eines Augenblicks zu entfalten. Ein Wimpernschlag löscht das Bild und stellt es her. Und so Schlag auf Schlag, in jener unerbittlich reproduzierten Balance, die es dir nicht erlaubt, bei den Wundern der Technik zu verweilen oder dich dem naiven Sehen hinzugeben. Gemalte Malerei; was Kunst zuwegebringt, hier ist es ausgestellt und auf den Nenner einer Wahrnehmung gebracht, die durch die Nähe zur Lektüre deformiert wird und aufgrund ihres nicht auszuräumenden Unvermögens, zu lesen, was dasteht, die Elemente einer Oberfläche sammelt, die jenseits der Bildfläche beginnt und sich entweichend realisiert.

 

12.

Dunkle Sonne. Das Gesehene ist nicht das Gemeinte, das Gemeinte etwas, mit dem sich das Sehen hintergeht. Das Sehen – eine vage Instanz, stets bereit, sich in Betrachtungen zu verlieren – kommt hinterdrein, eine Angewohnheit, die in die Irre führt, die unvermeidliche Irre, da alles aufs Sehen angelegt ist und nichts weiter. Ein Aspekt, unbegehbar, den ein zweiter ergänzt, nicht weniger deutlich, nicht weniger ungreifbar, ein dritter, ein vierter. Der Druck, der die verschiedenen Schichten mit Hilfe der Farbe trennt und zusammenführt, ist eine Abbreviatur, die den Sehgewohnheiten des Betrachters entgegenkommt, eine Arabeske, die der wirklichen Arbeit nichts mehr hinzufügt. Fast nichts, denn die Farbe, die das erzeichnete, aber noch ganz dem Denken eingesenkte Bild den auswärtigen Blicken freigibt, stimuliert das driftende Sehen, das sich nicht festlegen kann und schon nicht mehr mag. Warum sollte es auch? Weniges belegt die unerschütterliche Banalität des ästhetischen Diskurses eindringlicher als die nicht aus der Welt zu schaffende Überzeugung, das Entscheidende der Kunst – ihre ›Wahrheit‹ – liege weder im technischen noch im dargestellten Detail, sondern in einem unbestimmbaren Dazwischen, das, so rätselhaft wie unergründlich – gleichsam das zum Weltgrund geronnene Lächeln der Gioconda –, nichts anderes bezeuge als ›Präsenz‹. Die Kunstfrömmigkeit vergisst, dass Technik und Referenz keine ›Faktoren‹ sind, zu denen sich gleiche (und gleichartige) Distanz herstellen ließe. Zweideutig ist die Technik selbst, von Anfang an. Was wir ›Welt‹ nennen, existiert nur durch sie – nicht das Draußen, sondern der Splitter, der unsere Weltvorstellung komplettiert und sich tatsächlich malen lässt, in Farben ebenso wie in Schriftzeichen oder Tönen. Darin kommt keine besondere Gunst zum Tragen, allenfalls die einer guten Stunde und einer Flasche Rotwein. Die Anmaßungen einer technikbesoffenen Kunst, einer Kunst, die nichts anderes vorzeigt als Technik, dies aber mit jener Penetranz des Pseudo- und Halbwissens, mit der man Schulen begründet und Kunstrichtungen inauguriert, sind immer im Unrecht – alle Versuche, die Technik einzudämmen, auch.

 

13.

Projekt Köpfe. In der Hetzjagd nach dem definitiven Projekt – dem entschiedensten, situativsten, spielerischsten – verglüht das unvollendete Projekt der Moderne in dem Dunkel, das die Aussicht auf ein neues Jahrtausend in erregbaren Köpfen verbreitet. Diese Köpfe, immerhin, sitzen auf Schultern, die anecken und anecken lassen und dafür sorgen, dass man durch Türen kommt, die dem bloßen Gedanken gemeinhin verschlossen bleiben. Der Gedanke also hat frei – und Zeit überdies, sich dem Anblick der Köpfe zu widmen, deren Besitzer gewohnt sind, jedes Hindernis zu bezwingen, ausgenommen solche, die sie nicht sehen. So starren sie erstaunt und ein wenig stumpf in das, was man den blinden Spiegel der Kunst nennen könnte, voller Erwartung, dass jemand auf den Auslöser drückt und sie aus ihrer Lage erlöst, die allerdings merkwürdig anmutet. Egal, wie voll sie das Maul zu nehmen und welches Zahnmaterial sie zu blecken bereit sind: jenes Ich sehe das nicht ist ihnen mit unbeweglichen Lettern über die Stirn geschrieben oder ins Kinn versenkt, dessen Grübchen das Quantum Sensibilität verbürgt, ohne das bekanntlich nichts geht. Was soll schon gehen? Eine Handvoll Schauriges, aus geöffneten Massengräbern dazwischengestreut, ändert die Wahrnehmung aller Gesichtszüge beträchtlich, ohne dass es einer vermittelnden Feder bedarf. Die Physiognomie, die Physiognomie ... ist stets die des Zeitalters, obsessiv.

 

14.

»Nie muss man das Herz so nach Gefühlen durchstöbern wie das Gehirn nach Gedanken. Auch stellt niemand an Gefühle den Anspruch der Neuheit. In ihnen darf man sich wiederholen oder anderen gleichen.« (M. Rumpf) Malerei, gleichermaßen den Gedanken wie den Gefühlen verbunden, soll daher beides sein – originell und identisch. Ob man sie sich sehenden Auges und mit gebundenen Füßen oder stockenden Fußes mit verbundenen Augen vorstellt, es macht keinen Unterschied. Beide Metaphern eint das Ungenügen des Denkens an einer Kunst, die, allen inszenierten Umschwüngen zum Trotz, auf dem Weg der Differenzierung nicht recht vorankommen will, sowie das Missbehagen des Gefühls, das aus den Angestrengtheiten des Mediums die banale Furcht herausspürt, gegenüber der allgemeinen Bewegung zurückzubleiben. Malerei ist, wie jede Kunst, gewöhnlich – weniger in den Niederungen der Unbedarftheit als auf der Höhe ihrer Möglichkeiten. Dem Künstler, der das begreift, bietet sich die Chance der Inversion: das Gegenstück zum Gewöhnlichen ist der Weise. So kommt die Abgeklärtheit ins Bild.

 

15.

Das lebensweltliche Motiv hält der Erkundung fremder Zeichenwelten die Waage. ›Physiognomisch‹ ist eins wie das andere. Alles ist gesehen – auf unbestimmte Distanz. Ausdrucksminderung als ästhetische Pointe. Intentionsminimierung. Ein unbedarftes Gemüt könnte meinen, es sei die Angst vor der Leere, die den Zeichner veranlasst, Blatt um Blatt mit all jenen Figuren zu bedecken, an denen wir sehen lernen, eine Angst, die der Leere zuspielt, was ihr gehört. Das wäre schon etwas, wenn nur ... der Horror vacui nicht ins Arsenal der leeren Drohungen gehörte. Aber wer weiß das so genau? Eine Formulierung zieht die andere nach sich, eine leichte Drehung der Hand entfaltet sie, gibt ihr Raum. Das Denken, ein wenig träge, weigert sich nicht, es geht mit, es geht, es macht sich seinen Reim, spielt sein doppeltes Spiel, kein Gedanke, den nicht sein Hintergedanke begleitete, ein Schatten, stumpf oder hell gegen das Weiß des Zeichengrundes. Dieses Weiß, selbst nicht mehr als eine Metapher der Fülle, in der sich alles Mögliche rekelt, noch unentschlossen, ob es die Vereinzelung wagen soll, ewig unentschlossen, würde es nur gefragt, doch davon kann keine Rede sein, der Entschluss, auch dieser, er käme zu spät, wäre Auslegung, Wurf, erwürfelt, aber nicht von der oder einer anderen Hand, Augen gehen aneinander über, leuchten, leuchten ihr Dunkel zwischen zwei Wimpernschlägen, die zu kurz sind, um in Betracht zu geraten. Unerträglich das eine, unzumutbar das andere, Schlüsselwörter, die unbegrenzt Zugang zu Räumen verschaffen, in denen die Ableger ausgestorbener Sprachen wuchern. Mittendrin der Gärtner, stumm, seinen Beruf ausübend: begehbar machen, was dem Sinn entgeht.

 

Notizen für den schweigenden Leser

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