25.

Die Venetianischen Epigramme verdanken ihre Entstehung dem Effekt, den die Psychologen ›double-bind‹ nennen. Am 13. März 1790 reist Goethe von Jena ab, um die Herzogin-Mutter Anna Amalia auf ihrer Rückreise aus Italien zu begleiten, die Reise kommt ungelegen, mehr noch der Aufenthalt in Venedig, der sich unerwartet von Ende März bis in die zweite Maihälfte hineinzieht, da sich die Ankunft der Herzogin-Mutter verzögert. Unwirsch mustert der kurz zuvor unvermutet häuslich Gewordene, der dem Herzog brieflich seine Neigung zu dem zurückgelassenen »Erotio« Christiane Vulpius und zu dem »kleinen Geschöpf in den Windeln«, Sohn August ist da gemeint, wie eine unter Freunden zu respektierende sonderbare Verstrickung gesteht, seine Umgebung: »Übrigens muss ich im Vertrauen gestehen, dass meiner Liebe für Italien durch diese Reise ein tödlicher Stoß versetzt wird.« Der Dichter ist also indisponiert, doch diese Indisposition wird zur Grundlage des Libellus Epigrammatum, auch wenn einzelne Epigramme der späteren Fassung erst nach der Reise zur Niederschrift gelangen: »Es sind dieses Früchte, die in einer großen Stadt gedeihen, überall findet man Stoff und es braucht nicht viel Zeit sie zu machen.« Die Epigramme sind städtische Poesie, Tagespoesie im antikisierenden Gewand, den Institutionen des amphibischen Stadtstaates mit gleich respektloser Aufmerksamkeit begegnend wie den revolutionären Ereignissen in Frankreich, der aktuellen Wissenspublizistik oder dem Kneipen- und Liebesleben der Seestadt. Gegenständen also, die ebenso prosaisch anmuten, wie sie klassischer Kunstübung fernständen, gäbe sie nicht die Mutter der Musen ein, die machtvolle Göttin aller Großstadtpoesie: »du kamst mich zu retten / Langeweile! du bist Mutter der Musen gegrüßt.« Unter dem Zwang der Verhältnisse entspringt Dichtung dem ennui, zum Zeitvertreib.

 

26.

»Gedenke zu leben!« Der Wahlspruch, dem Wilhelm Meister im Saal der Vergangenheit begegnet, er scheint in den Überresten römisch-etruskischer Grabkunst ein überwältigendes Echo aus der Vergangenheit zu erfahren. Auf das ›Memento mori‹ und die Flucht bestürzender, das klassisch empfindsame Gemüt zu Abscheu und Abwehr treibender Bilder christlich-barocker Todesbetrachtung, die es heraufruft, antworten sie mit Szenen einer bacchantisch verzierten Lebenskunst, in denen, will man dem Dichter glauben, die Fülle den Tod des Nichtseins überführt und also überwältigt. Der kaum sichtbare Riss zeigt den – bei aller Derbheit – fragilen Charakter des Buches an. In der Lust, die das Banale feiert und das Fallende artig im Gleichgewicht hält, zeigt sich ein stilles Todesgedenken. »Warum treibt sich das Volk so, und schreit? Es will sich ernähren, / Kinder zeugen, und die nähren, so gut es vermag.« Die Marktszene – Sinnbild des unaufhörlichen Stoffwechsels, unter dem der mit Krämerweisheit hausierende Dichter das Leben der Anschauung nähert. Die Lektion gilt dem einzelnen, der darauf besteht, mehr zu sein. »Weiter bringt es kein Mensch, stell’ er sich, wie er auch will.« Der Sprechende lässt allerdings kaum einen Zweifel daran, dass das Bad in der Menge lediglich ein transitorisches Behagen vermittelt, und dass er selbst, ein nur flüchtig und gleichsam gegen seine innerste Überzeugung Festgehaltener, ansonsten die erhöhten Standorte bevorzugt. Der Dichter, versteht sich, passiert als Reisender, ein Herr, der mit kuriosem Befremden den Straßenkot an seinen Stiefeln mustert und daran weltläufige Bemerkungen knüpft. In solcher Stilisierung liegen Reiz und Gefahr beieinander. Wie eng, das verraten die erotischen Epigramme, in welchen hinter der Attitüde des Hochgeborenen, der sein Vergnügen bei den unteren Volksschichten findet, altrömische Dichterpose sichtbar wird. Allenthalben erwartet man die augenzwinkernde Beteuerung des Horaz, im Verkehr mit den Damen der ehrenwerten Gesellschaft keineswegs die Grenzen der Moral verletzt zu haben. Und vielleicht gibt die Tatsache, dass es fehlt, dass es in dieser Poesie fehlen darf, weil sie es ohnehin voraussetzt, mehr als anderes der Vermutung Raum, dass sich Goethe hier an den Rändern nicht so sehr des guten Geschmacks als vielmehr dessen bewegt, was den lesenden Zeitgenossen der Revolution ideell vertretbar erscheinen mochte.

 

27.

Satura tota nostra est: In Goethes latinisierendem Klassizismus findet der Hinweis Quintilians auf den altrömischen Ursprung der Satire einen entfernten Reflex. Die Verpflichtung der Epigramme auf Aktualität, auf prosaische Zeitgenossenschaft ist nicht zuletzt durch das antike Gattungsvorbild gegeben. Neben Martial, dem Goethe die Form des satirischen Epigramms entlehnt, ist erneut an Horaz zu denken. »Haec ego mecum / Compressis agito labris; ubi quid datur oti, / Illudo chartis. Hoc est mediocribus illis / Ex vitiis unum.« Die Verse sind dem Buch in Schillers Musenalmanach für 1796 noch als Motto vorangestellt. Sie charakterisieren den Satirenschreiber als Privatmann, der in einsamen Mußestunden die eigenen Fehler aus denen der anderen buchstabieren lernt und dergleichen gelegentlich – kein Gedanke ans Publikum! – auf der Schreibtafel festhält. Das Bei-sich-selbst-Verweilen des Autors sichert seine Unbestechlichkeit als Satiriker und schützt ihn vor dem Vorwurf übler Nachrede oder Schlimmerem. Goethe umspielt den horazischen Topos im Bild des freudverlassenen, sich dem Traumland auf holprigen Wegen entziehenden, ganz auf Erinnerung angewiesenen Dichters. Auch Distanz zum Vorgänger wird darin sichtbar: Erst die hinter ihm versinkende Welt löst dem Spätgeborenen die flinke Zunge, befreit – so könnte man wohl hinzufügen – seine Einbildungskraft von der lähmenden Gegenwart ihrer Gegenstände.

Erhalten bleibt das Zweideutige der Gattung, die vorgibt, sich an ein intimeres Publikum als das erreichte zu wenden, und ihre gewollten Indiskretionen dem unbotmäßigen Leser zur Last legt. In der Pose des Privatmanns probt der Satiriker, wie weit er in aller Öffentlichkeit gehen kann; in der des Satirikers erkundet der Privatmann Öffentlichkeit als den Ort, an dem sich das Private bei skandalträchtigen Gelegenheiten zu zeigen beliebt. Die Satire verweist auf das Zumutbare, und sie bleibt harmlos, solange sie die Grenzen der Zumutung nicht überschreitet. In dieser Hinsicht gehören zu den 1795 veröffentlichten Epigrammen die unterdrückten, später dem Nachlass zugeschlagenen, als ihr anderer, vielleicht besserer Teil hinzu. Dass in dem einmal angeschlagenen Ton einiges über das in kluger Selbstbeschränkung Mitgeteilte hinaus zu sagen übrigblieb, dass sich das Mitzuteilende nicht an den Grenzen des Mitgeteilten erschöpfte, konnte der zeitgenössischen Leserschaft keinen Augenblick lang verborgen bleiben. So verrieten die als unbedenklich freigegebenen Stücke vielleicht weniger über den anonym bleibenden Verfasser als über die Bedenken und Bedenklichkeiten, die bei der Freigabe im Spiel gewesen sein mochten, und es waren nicht die unaufmerksamsten Leser, wie Wilhelm von Humboldt, die das Spiel des Sichtens und Wägens gern noch etwas weiter getrieben hätten. Zote und Invektive, huldvoll hexametrisiert, bilden die hässliche Froschgestalt, die erst verschwinden muss, ehe das große Publikum den Prinzen zu küssen wagt. Ein Effekt, den eines der unterdrückten Gedichte im voraus bedenkt: »Unglückselige Frösche die ihr Venedig bewohnet! / Springt ihr zum Wasser heraus, springt ihr auf hartes Gestein.«

 

Notizen für den schweigenden Leser

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