28.

Dem Greifenden ist meist Fortuna hold. – 1725, den zweiten April – als hätte der erste um jeden Preis vermieden werden müssen – in Venedig geboren, aufgewachsen, in Padua zum Doktor beider Rechte promoviert, Dichter, Abbé und Lebemann, erste Reisen nach Korfu, Konstantinopel, Rom, Neapel, Mailand, Genf, Prag, Dresden, Wien – der kleine Zyklus, Fahrten, die stets an ihren Ausgangsort zurückführen, die Mitte, Venedig, das Maß – bis er sich eines Nachts, nicht ganz zwanglos, zu einer anderen Fahrt entschließt, zur Reise ins Innere der Biberrepublik, an ihr heimliches Zentrum: Am 25. Juli 1755 befindet sich Giacomo Girolamo Casanova – beklommenen Gemüts, wie er später schreibt, und wir haben, so versichern uns jedenfalls neuere Biographen, kaum jemals Grund, an seinen Worten zu zweifeln – auf dem Weg in die Bleikammern, das Staatsgefängnis, denunziert als der, der er ist und wohl einiges mehr. Als er es knapp eineinhalb Jahre später – von selbst gefertigten Spießen, gereimten Kassibern, dummboshaften Helfern und tölpelhaften Aufsehern geht da die Rede, von durchbrochenen Dächern, gigantischen Leitern, abergläubischem Schnickschnack, schier übermenschlichem Einsatz und, wie anders, von nichtsahnend-erbarmungsvollen Frauenhänden – auf ungewöhnlichen Wegen verlässt, ist ein Mythos geboren, und der fortan, unermüdlich die Karrenfurchen und Schlaglöcher der Alten Welt erprobend, die Länder Europas wie Beinkleider wechselt, weiß, dass die Empfehlungsschreiben und Schmähbriefe, diese fliegenden Blätter des Ruhms, schon bereitliegen, wohin er sich immer wendet: ein Emigrant, der auf die Institutionen seiner Vaterstadt nichts kommen lässt, ein lebendiger Garant überdies für die Richtigkeit seiner Botschaft, dass die Welt keine Mauern hat, den einzelnen, der weiß, was er will, und der die Gelegenheit zu ergreifen versteht, an der Ausführung seiner Pläne zu hindern – die Frauen vor allem hören es gern, und die Wissenden schweigen. Ein Emigrant aus der Reihe derer, die, unter den Bedingungen des Exils, sich ihrer Provinzialität zu entledigen wissen um der Durchführung der Person willen – »vorausgesetzt, man beginnt rechtzeitig und hat eine feste Konstitution.«

 

29.

Doch unten hin die Bestie macht mir Grauen. – Paris und Bern, Avignon, Nizza, Marseille, Genua und Wolfenbüttel, London, Berlin, Warschau, Köln, Petersburg und Madrid, Saragossa, Montpellier, Wien – überall Beziehungen; glanzvolle Auftritte, Triumphe und Ausweisungen. Ein solches Leben muss ein Geheimnis bergen, muss seine Hintergründe haben, weil es soviel Vordergrund bietet. Welchen anderen Zweck verfolgt also wohl, neben dem der Selbstdarstellung, jene monumentale Histoire de ma vie, die erotische Lebensbeichte, als den, beiläufig abzulenken von den obskuren Geschäften, den geheimen Aufträgen und verschwiegenen Dienstleistungen, den großen Intrigen und kleinen Machenschaften, Stationen einer Karriere im Verborgenen, im Schatten der Mächte, deren Effizienz er an sich so eindrucksvoll hatte erfahren dürfen? Ein Libertin auf Abruf, sozusagen. Man muss nur die Proportionen zurechtrücken, die Hinweise dechiffrieren und die Gerüchte, die ihn umgeben, als Teil des Rufs nehmen, der ihm vorauseilt und die Großen und Halbgroßen wissen lässt, an wem sie sind, welche Art von Umgang mit ihm sich empfiehlt, von geschäftlichem Umgang, so wie man mit Pfandleihern verkehrt. In der Tat: sein stets wacher Blick, seine Menschenkenntnis, seine Umarmungstaktik, sein moralisch-technisches Geschick, seine sozialen Vorlieben – schwer zu entscheiden, in welchen Kreisen er sich lieber aufhält: unter Leuten von Stand oder solchen, die sie mimen –, dies alles, zusammengehalten mit seinen unbestreitbaren, grenzüberschreitenden Erfolgen, qualifiziert ihn, vor jeder bestimmten Handlung, zum Spion in einem Jahrhundert, klatschsüchtig und geheimniskrämerisch, universal und sesshaft wie das seinige. Ganz außer Zweifel ist die Aura des Zweifelhaften, die ihn umgibt und die selbst das Unbezweifelbare durchtränkt, sein Format. Der Ruf dieses Mannes ist sein Charakter. Zwischen den Ochsenkarren der Händler, Schaustellerfuhren und gelegentlichen Equipagen die eigenen Mittel von Poststation zu Poststation überschlagend, reiht er sich in den nie versiegenden Strom aus dienstfertigen Militärs, skrupellosen Abenteurern und undurchsichtigen Agenten, der die Residenzstraßen des alten Europa wässert und die Häuser der Mächtigen netzt, ein Mann des Zwielichts. Schließlich, so haben wir ihn am liebsten: mutig und beschlagen, häufig im Unklaren über das Gewicht seiner Erkenntnisse, präzise und anmaßlich, den abenteuerlichen Zug seiner Erkundungen eitel herausstreichend, wirkliche Gefahr dabei eher wegwerfend behandelnd, stets suggerierend, im Mittelpunkt der Ereignisse gestanden zu haben, ein Spion, unserer vielleicht, seiner Zeit, Freund oder Feind?

 

30.

Wenn er dir steht, so hast du’s weit gebracht. – Seine Moral ist die seiner Zeit, und dieser Gemeinplatz hört auf, einer zu sein, sobald man sich klarmacht, dass es tatsächlich eine Moral der Gemeinplätze ist, in der er sich sanft und sicher bewegt, eine Moral, wie sie die Spatzen von den Dächern schreien – und er hat ein waches Ohr für derlei Geschrei –, eine Moral, in der es Tölpel und Intriganten, Narren und Weise, Verführer und Verführte, Aristokraten und Gauner gibt, auch Weltflucht, gewiss, doch nicht jenes einwärts gekehrte Sich-in-sich-selbst-Fühlen des isolierten Gemüts, das jeden Augenblick ein moralisches Universum postuliert, weil ihm das natürliche abhanden gekommen ist – eine Moral ohne Moralität, dieses Markenzeichen des bürgerlichen Zeitalters. Die moralische Defizienz des Wirklichen ist kein Gedanke, der Casanova beunruhigt, er kennt ihn nicht und wüsste mit ihm nichts zu beginnen. Seine Beutezüge gelten dem Status quo, der noch zu seinen Lebzeiten zum Status quo ante wird: In ihm sammelt sich die Weltkenntnis des Ancien régime, um in einer nutzlosen, doch lustvoll überlieferten Anstrengung zu verpuffen. Über die Französische Revolution spricht er nie anders als über ein verdammenswertes Verbrechen, sie liquidiert seine Moral. Gleichwohl gehört er zu den Gestalten, welche die Irritationen einer neuen Epoche in die alte Gesellschaft hineintragen. Der Kavalier, der Spieler, der homme de lettres sind Vermummungen des Erfolgsmenschen Casanova, der seine Erfolge der Spezialisierung verdankt, einer Tugend im Werden. Wenn, nach dem Urteil eines späten Liebhabers alteuropäischer Adelsethik, es den Aristokraten vom Bürger unterscheidet, dass man fragt, was er ist, und nicht, was er kann, so trifft das den Nichtbürger Casanova, der zu sein prätendiert; was er kann, steht außer Frage, gerichtsnotorisch sind die Zweifel an seiner schillernden Existenz. Zum Dubiosen, das ihn umgibt, gehört der alchimistische Hokuspokus, der seine Opfer einlullt und ihm die Taschen füllt – hier plündert er Restbestände eines älteren Wissens, eines älteren Wissenschaftstypus. Vorausdeutend sind seine medizinischen Kenntnisse und der fulminante Gebrauch, den er von ihnen macht: »Ich fühlte mich immer für das andere Geschlecht geboren, daher habe ich es immer geliebt und mich von ihm lieben lassen, so viel ich nur konnte.« Der Satz enthält das naive Selbstporträt dessen, der mit seiner Begabung ernst gemacht hat. Das Studium des Körpers geht dem Studium der Körper voraus. Der Spezialist erkundet seinen Gegenstand und prüft seine Instrumente.

 

31.

Gern biss’ ich hinein, doch ich schaudre davor. – Das ländliche Milieu, Grafen und Gräfinnen, hält die Topoi des Liebesspiels schon bereit: Eine Pächtersfrau, neuvermählt und, wenn man’s glaubt, auffallend durch ihren Mangel an sozialer Intelligenz, über die Casanova nichts geht, erregt die Neugier des Siebzehnjährigen; ein sachkundiges Publikum applaudiert und ermuntert, nur die Schöne versagt sich; gleich schwillt der Kamm, wird der Verfolger zum Verfolgten. Die Heimfahrt von einer Lustpartie, aufziehendes Gewitter, weibliche Hysterie und entschlossenes Zugreifen, flüchtig als Galanterie getarnt, entscheiden das Spiel zu seinen Gunsten. Es ist sein Gesellenstück. Später wird die Sache leichter, doch auch gefährlicher: von einem Casanova verlangt man, dass er Erwartungen erfüllt, und er wäre der letzte, sich zu verweigern. – Ein groteskes Bild: die zwischen Blitzen dahinrasselnde Kutsche, peitschenschwingend der Kutscher und über die vor Entsetzen und aus anderen Gründen erstarrte Dame sich krümmend der Held, mit einer Hand den von Wind und Regen gebeutelten Mantel mehr allegorisch als tatsächlich über die Szene breitend, eine Szene an der Grenze zur Vergewaltigung, eine soziale Vergewaltigung, immerhin, und nach Fahrtende das Trinkgeld für den Kutscher. Es ist eines der Bilder, in denen sich die Zeit bespiegelt, und wie sie, gestochen von der Hand sachkundiger Meister, in den Kabinetten adliger Sammler zu vorgerückter Stunde, kennerhaft zwischen Daumen und Zeigefinger gedreht und gewendet, aufmerksame Blicke und anekdotenreiche Kommentare auf sich zogen. Eine Szene, vergleichbar der berühmteren, die den Abenteurer anlässlich der Hinrichtung des Königsattentäters Damiens am 8. März 1757 in Paris in der Rolle des Zuschauers zeigt. Casanova hat, dem Brauch folgend, Fensterplätze gemietet. Während drunten auf dem Marktplatz das Opfer königlicher Rachejustiz von glühenden Zangen zerrissen wird, hebt der Begleiter des Chronisten der leicht erhöht vor ihm stehenden, mit verschränkten Armen auf die Fensterbank gestützt unverwandt dem Spektakel beiwohnenden Dame die Röcke zu einem langwierigen Akt ohne Worte, dessen Höhepunkte der amüsierte Tatzeuge akribisch verzeichnet: »Ich bewunderte seinen derben Appetit und, mehr noch, die schöne Ergebung der frommen Dame.« Als das Stück aus ist, sind die Gesichtszüge des Herrn unverändert fröhlich und frisch, die der Dame eine Spur nachdenklicher als sonst. Das war’s. Der doppelte Tabubruch und seine Genüsse diktieren die Rollen; das Entsetzliche kulminiert mit dem Lächerlichen.

 

32.

Mordgeschrei und Sterbeklagen! / Ängstlich Flügelflatterschlagen. – Nie zetert Casanova hemmungsloser, als wenn sich ihm eine Frau aus moralischen Gründen versagt. Diesen Trick hat er den Aufklärern abgeschaut und ins Persönliche gewendet: seine Leidenschaft, seine Begier, das ist der Ruf der Natur, sich ihm zu verweigern ist Unnatur – kalte Berechnung und schnöder Eigennutz im einen, finsterer Aberglaube und kindische Gespensterfurcht im anderen Fall. Im ersten Fall ist die Frau – er wird nicht müde, es zu beteuern – ein Monstrum, aller Verachtung wert, im zweiten ein Opfer, bedauernswert, dunkler Mächte und Verschwörungen: die Jesuiten sind’s, die Antipoden, die der lachende Freimaurer in jedem der vermeintlichen Tugend, das heißt dem Vorurteil abgelisteten Geschlechtsakt übertölpelt – das ist sein Stil, großer Stil, der es ablehnt, mit trügerischen Versprechungen, der es vorzieht, mit handfesten Erfüllungen zu argumentieren. So im Fall der schönen Nichte, der fleischgewordenen Unschuld, der, kaum aus dem klösterlichen Gewahrsam entlassen – auch sie in jesuitischen Händen –, binnen eines halbstündigen Gesprächs am Kaminfeuer, nur halbwegs wissend, wie ihr geschieht, die Ehre widerfährt, den Samen des Unbekannten von ihren Fingern wischen zu dürfen, wenige Schritte von der konversierenden Tante entfernt – sie habe nun, doziert der Aufklärer, eine bestimmte Anschauung von etwas bekommen, das ihr bisher nur als nebelhafte Vorstellung geläufig gewesen sei; »eine sehr bestimmte Anschauung«, antwortet sie und beugt sich zum Feuer, um alsbald den prüfenden Griff des Doktors an ihrem Geschlechtsteil zu spüren: »Sie stand voll Würde auf, setzte sich wieder hin und sagte sanft und mit vielem Gefühl, sie sei ein Mädchen von Stand und glaube Achtung beanspruchen zu dürfen«;dieses Mädchen, Stand hin, Stand her, schreibt ihm wenige Tage später einen Brief, in dem sie ihm die Ehe anträgt, um der Zwangsheirat mit einem Kaufmann zu entgehen, den sie nicht kennt – einen Brief, der ihn rührt, ein Angebot, das er unmöglich ausschlagen könnte, es sei denn, die Umstände zwängen ihn dazu – tatsächlich tun sie’s. »Bleiben Sie ruhig und lassen Sie den Kaufmann nur kommen. Sie können unter allen Umständen auf mich zählen. An dem Tag, für den man die Vertragsunterzeichnung ansetzt, werden Sie nicht mehr im Haus Ihrer Tante sein.« Damit sind die Regeln geklärt, und die Liebenden versinken in Wollust. Die Philosophie – wohlgemerkt: Casanovas – unterbricht nicht das Geschlechterspiel, sondern schmeichelt es seinem Höhepunkt zu; sie vertreibt die Gespenster und schüttelt die Betten auf.

 

33.

Unschätzbar ist, was niemals wiederkehrt. – In die klassische Heldenvita – Aufstieg und Niedergang, Triumph und Fall – wählt Casanova den Nebeneingang. Der Heros erscheint mit Verspätung, vielmehr, er ist bereits da, bevor er bemerkt wird, bevor er bemerkt werden kann – ein blödes Kind, das spät begreift, doch dann umso rascher, um binnen kurzem die Gleichaltrigen zu überflügeln, so, als müsste das Genie erst gestaut werden, bevor es mit Macht hervorbricht. Lapidar teilt der Biograph das Datum seiner zweiten, seiner geistigen Geburt mit: »Das Organ des Gedächtnisses entwickelte sich bei mir Anfang August 1733; ich war damals acht Jahre und vier Monate alt.« – Das ›Organ des Gedächtnisses‹ gilt als der Ort des Begreifens – eine zweite, erhöhte Lebensbühne, auf der der Schauspieler zwischen Requisiten selbst Regie führt. Man ahnt unschwer die künftigen Hypertrophien dieses Organs, von denen sich die Eitelkeit des Schriftstellers nährt, seine letzte Potenz. Aus erinnerungslosem Dunkel tritt der kindische Genius übergangslos in die Taghelle des erinnernden Bewusstseins. Sogleich liefert er Proben einer umfassenden Denkkraft. Der gerade Neunjährige – es ist sein Geburtstag – macht eine Schiffsreise auf dem Brentakanal. Schlaftrunken erliegt er dem Wahn, die das Ufer säumenden Bäume seien über Nacht ins Laufen geraten. Von der Mutter darüber aufgeklärt, dass, ganz im Gegenteil, er sich mitsamt dem Schiff fortbewege, während die Bäume ruhig an ihrem Fleck verharrten, schließt er sofort, überraschend und per analogiam, dann sei es wohl möglich, »dass auch die Sonne sich nicht bewegt, vielmehr unsere Erde von Osten nach Westen rollt«: Nichts geringeres als die Kopernikanische Einsicht, den staunenden Erwachsenen – die in ihr, mit Ausnahme eines Poeten und ›freien Geistes‹, noch keineswegs zu Hause zu sein scheinen – aus dem Kindermund souffliert, vermag die Größe des Vorgangs zu illustrieren. Die Entdeckung gleichsam nachentdeckend, in der, als in ihrem Ursprung, sich die neuzeitliche Vernunft bespiegelt, entdeckt sich der neue Heros der Welt, der Memoirenschreiber der Nachwelt. Die Fackel der Vernunft wirft den Glanz magischer Illumination – ein alter Mann, versunken ins Zeremoniell des Gedenkens – als sei er der gewesen, von dem geschrieben steht –, entwirft in seinen Gedächtnisübungen planmäßig den Helden der Epoche und überliefert ihn dem Gedächtnis der Menschheit.

 

34.

Die Stellung, seh’ ich, gut ist sie genommen. – Schauspielerinnen, Prostituierte, Damen in Geldnot und auf dem Weg ins gesellschaftliche Abseits – zweitklassige Eroberungen, wie Ernst Jünger meint, der den Rat gibt, sich dann doch eher an das Vorbild Lord Byrons zu halten; dort finde man die Erotomanie mit Distinktion gepaart. Der Dichter, für den das Studium der Stammbäume dem sexuellen Rapport vorausgeht, er irrt, wie die Forschung dankenswerterweise enthüllt. Casanova beschläft auch, wenn er verschweigt. Diskretion ist Standessache. Doch in der Tat lassen nicht die Begehrlichkeiten des Snobs diesen Mann handgreiflich werden, sondern die des Reisenden; da gibt es Unterschiede. – Die Kutsche steht bepackt, die Gäule werden eingeschirrt, Casanova in Reisekleidern, letzte Verhandlungen mit dem Wirt, als der Kutscher sich nähert und unter Bücklingen, stockend erst, dann flüssiger redend, dem Ersuchen einer fremden Dame sein Wort leiht, einer Dame, die bitten lasse, den frei gebliebenen Kutschenplatz besetzen zu dürfen, welchem Wunsch sie mit finanziellen Angeboten Nachdruck zu geben wisse, aus einer wirklichen Notlage heraus, weswegen es wohl angebracht sei, ihm stattzugeben ... Man erregt sich, forscht weiter, beruhigt sich; die Unbekannte ist schön, ihr Begleiter abhanden oder im Begriff abhanden zu kommen, schon rollt die Kutsche, noch werden erste höfliche Floskeln getauscht, als der reisende Kavalier sich bereits entflammt sieht; er wird die schöne Unbekannte besitzen, und das darf er dann auch, zu wechselseitigem Entzücken, bis ihn die Verpflichtungen des Abenteurers aufs Neue einholen und er die Geliebte, die Angebetete, die Göttin einem befreundeten Baron in reiferem Alter verkuppelt – »wie hätte ich den Bedürfnissen meiner Göttin auf die Dauer Rechnung tragen, wie also hätte ich sie an mein unstetes Leben fesseln können, ohne mich an ihr zu vergehen?« In verschiedenen Varianten kehrt diese Geschichte wieder, eine simple Geschichte, mit Traumresten behaftet und erzählt in einem heiter-elegischen Tonfall, im Tonfall dessen, den unter seinen Geschichten diese vielleicht am ungreifbarsten verrät. Wem sie zu schlicht klingt, der lese sie als Allegorie: Während die distinguierten Wahrheiten von Staat und Religion hinter gelassener Maske unruhig die Ankunft des Aufklärers erwarten – misstrauische, in die Jahre gekommene Schönheiten –, durchträumt dieser das Märchen von einer neuen Wahrheit, einer, die sich seiner Sinnlichkeit unversehens enthüllt, und die er doch wird abtreten müssen – der Schriftsteller als Vorkoster der Mächtigen, kein unalltäglicher Fall.

 

35.

Ein schön Gebild, das sich so zierlich regt. – »Gegen Ende September 1763 machte ich die Bekanntschaft der Charpillon, und an diesem Tage begann mein Sterben.« Der dies schreibt, schickt sich an, die Geschichte einer Begebenheit aufzuzeichnen, die er ›entsetzlich‹ nennt, die Chronik eines befremdlichen, langwierigen und stummen Kräftemessens mit einer Londoner Prostituierten, in dem er immer neu unterliegt, bis zur letzten Demütigung, dem Entschluss zum Selbstmord. Sein ›guter Genius‹, ein befreundeter Kavalier, führt den Schwankenden – in seinen Taschen die Bleikugeln, sich zu ertränken – vom Themseufer fort und in das Lokal, in dem, vor aller Augen, die tot Geglaubte (tot durch seine Schuld) ein Menuett tanzt und es ihm, endlich, wie Schuppen von den Augen fällt. Es ist die Geschichte von Hybris und Sturz des Erfolgsverwöhnten, der sich erlaubte, eine Geliebte öffentlich zu annoncieren, und dem nun das Schicksal selbst in Gestalt eines weiblichen ›Dämons‹ in den Weg tritt. Hier ist alles bedeutsam: der Schauplatz, die ›Riesenstadt London‹, die Schuhschnallen, welche die Siebzehnjährige, einemakellose Schönheit‹, bei der ersten Begegnung trägt – Casanova hat sie ihr drei Jahre vorher, unter ganz anderen Umständen, gönnerhaft zum Geschenk gemacht –, die Vordeutungen, die Erinnerungen. Der erste Akt dieser klassischen Tragödie ist die Geschichte eines Gelegenheitskaufs, bei welchem dem hochfahrenden, bereits gewarnten Chevalier ein Missgeschick unterläuft: Er hat die Ware bezahlt, ohne sie zu bekommen, sein sportlicher Ehrgeiz erwacht. Der zweite Akt spielt, zu neuen Konditionen, im Haus der Ware: Eine lange Liebesnacht hindurch – zu der die Mutter der Dirne die Kissen geschüttelt und die Decken gelegt hat – verharrt sie unverändert in einer Pose, in der sie, »zusammengekauert, mit gekreuzten Armen, den Kopf auf die Brust gelegt, in ihr langes Hemd eingewickelt«, den zunächst liebevollen, schließlich brutalen Attacken des Bettgenossen trotzt. – Gelegenheitshure, ehrbare Dirne, Mätresse und Dame Schäferin – in jeder dieser Rollen perfekt, reizt sie den Gelegenheitschevalier auf bis zur Besinnungslosigkeit, um ihm das Eine, Entscheidende, zu verweigern, die Penetration. Nur einmal, als sie ihn aufsucht, ganz anspruchslose Geliebte, sperrt er sich – eine verpasste Gelegenheit, so meint er später, ein Zwischenidyll. In der strengen Folge der Auftritte, der Serie von Demütigungen, hat das Mobiliar seine eigene Stelle; so haftet am Ende das Bild eines Lehnstuhls, den man für Casanova heranschafft, um den Widerstand der Charpillon auf mechanischen Wege zu brechen: ein sinnreich erfundenes Möbelstück voll versteckter Federn, die sich lösen, »sobald ein Mensch sich hineinsetzt. Der Vorgang vollzieht sich sehr schnell – zwei Federn umklammern die Arme, zwei weitere bemächtigen sich der Knie und spreizen die Schenkel, die fünfte hebt den Sitz kräftig an«. Casanova verzichtet, doch ist die Beschreibung für unsere Kenntnis des Erfindungsreichtums in einem Jahrhundert, das die Freiheit erfand, unschätzbar.

 

36.

Die bloße Wahrheit ist ein simpel Ding. – Wäre es nötig, die Begegnung Casanova – Voltaire mit einem Emblem zu bedenken, es wäre das von Hahn und Pfau. Treffender könnte das Arrangement nicht sein: vom milden Haller kommend wendet sich das Abenteuer dessen unerschöpflichem Thema zu, den berühmten Mann in Les Délices aufsuchend, sich ihm stellend inmitten eines Hofstaats von Kavalieren und Damen – sie sollen auf ihre Kosten kommen. Was auffällt, ist dieses ungemeine Sichspreizen beider Parteien; es zeigt, worauf Casanova von Anfang an aus ist, und auch, dass Voltaire die Herausforderung routiniert annimmt – da ist keiner, der dem anderen den Vortritt lassen möchte, genau darum geht es. Und alles ist Theater: drei Tage Tragödie, die Helden schlagen sich um die höchsten Werte Europas – das Gewicht eines Ariost-Verses hier, eines Tassoni-Wortes dort –, und dann das Satyrspiel, der obligate Disput über die Menschennatur und den Aberglauben, diese ›Bestie‹, wie Voltaire ihn nennt, welche das Menschengeschlecht zu verschlingen drohte, worauf Casanova entgegnet, sie verschlinge niemanden, sei vielmehr notwendig zum Bestehen der Menschheit – über diese, Voltaire zufolge, ›furchtbare Lästerung‹ also wechselt man Formulierungen aus der Kladde: Hobbes und Locke, Notwendigkeit und Freiheit, der Souverän und die Stände. »Und Sie gehören doch zum Volk«, ruft Voltaire aus – Sie sind doch Volk, soll das heißen –, als Casanova die Monarchie verteidigt, die in den Augen des anderen ein Despotismus ist, unverträglich mit den Freiheitsrechten der Völker. Zwar speist man gut beim Dichter nach des Gasts Bemerkung, doch diesen Früchten vom Baum der Erkenntnis fehlt es an Frische des Geschmacks. Der Leser, beunruhigt, nimmt Zuflucht zu einer Hypothese: Aus welchem Grunde wohl provozierte Casanova diesen dürren Disput – denn das tut er, in der Tat –, einen Disput, in dem er sich darauf beschränkt, dagegen zu halten, wenn nicht eben das seine Absicht wäre: den anderen vorzuführen, späte, subtile Rache für erlittene Unbill in diesem Treffen der Eitelkeiten zu üben. Die Miniatur des Philosophen, der nicht in Form ist, mit spitzem Pinsel entworfen und sorgsam eingefügt in die Bestandsaufnahme der alten Gesellschaft, wie sie der Memorist erfahren hat und zu verstehen glaubt, sie denunziert den Denkstil des Antipoden als thetisch und revolutionär und erfahrungsblind; man kennt die Gleichung. Seine Form, fast überflüssig zu sagen, stellt er, Casanova, solange der Besuch dauert, allnächtens verschwenderisch unter Beweis – ein wohlgenährter Gast im Stall Epikurs.

 

37.

Wie das Geklirr der Spaten mich ergetzt! – Giacomo Girolamo Casanova, genannt Jacques, Sohn der Zanetta Farussi und des aus Parma gebürtigen Schauspielers Gaetano Guiseppe Casanova oder des venezianischen Edelmanns Michel Grimani, Raupe oder Schmetterling, stirbt am vierten Juni des Jahres 1798 als Bibliothekar des Grafen Waldstein, eines Nachfahren Wallensteins, auf Schloss Dux unweit von Teplitz, nach jahrelanger angestrengter Schriftstellerei – unter den Resultaten ein lateinisches Epitaph auf den Tod seines Foxterriers Melampyge, auch die Mitarbeit am Libretto des Don Giovanni ist verbürgt – infolge einer nicht diagnostizierten Krankheit, nachdem er sich ein Leben lang mit Diagnosen hervorgetan hat: Material für Biographen, die durch seine Memoiren dazu angehalten werden, ein Gleiches zu versuchen – sein oder ihr Leben, wer weiß das schon. Das unerhört Griffige dieser Memoiren dürfte nicht zuletzt darauf beruhen, dass der größte Teil ihres Materials Anekdoten sind, – Anekdoten, die durch vielfach wiederholtes Erzählen in die prägnanteste Form gebracht, zugeschliffen wurden, längst bevor ihnen der Autor ihren Ort im imaginierten Lebensgang zuwies. Sie sind das Handgeld des Abenteurers, der für seine Gegenwart mit klingender Münze bezahlt. Manche der Anekdoten darf der Leser im Entstehen erhaschen, wenn der Held bei Tisch, vor gereiftem Publikum, über den Fortgang seiner aktuellen Amouren berichtet. Doch man täusche sich nicht: Dieser Mann reist mit Papieren, in literarischer Absicht, er treibt seine Studien, er verliert keine Zeit, es ist ihm Ernst. Stücke wie die Flucht aus den Bleikammern sind Vorgriffe in strategischer Absicht, zweifellos wichtig, sie geben Kontur – doch zur geschmeidigsten aller Gattungen wird die Autobiographie im Riesengebilde der Histoire, in Wahrheit einem Kompendium der Gattungen, deren Konventionen der Autor gekonnt umspielt; der erfahrene Erotiker kennt auch hier die Neben- und Hauptzugänge und weiß sich ihrer souverän zu bedienen. Ein Meister der Variation, nicht der Nuance; ein böhmischer Bibliothekar am Ende, sich katzbalgend mit dem Gesinde, die derben Scherze seines einfältigen Herrn fassungslos, doch mit Würde ertragend, Pandekten ordnend, hier und da zwischen den Beständen einen Platz reservierend für Künftiges, die Werke des Chevalier de Seingalt.

 

Notizen für den schweigenden Leser

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