Man könnte sie für die personifizierte Sorge halten. Gewiss wäre sie das, hätte sie den Kreis der Familie nie verlassen. Wäre das eingetreten, dann läge die Zahl ihrer Kinder vermutlich höher und sie wäre das, was man unter Yagirianern als Paria handelt, ohne das Wort jemals in den Mund zu nehmen (denn es erinnert an ein fernes Kastensystem und hier handelt es sich um das eigene). Die Freundinnen würden sie meiden und sich hinter ihrem stämmigen Rücken das Maul zerreißen – nicht über sie, denn so etwas gälte als frauenfeindlich, aber über die ungebärdigen, so schlecht zu den eigenen passenden Kinder. Die Regelzahl für statthafte Kinder liegt im Yagir bei 1 + x, wobei die x-Norm zwischen 0 und 1 liegt. Auch in Zweit- und Drittzusammenschlüssen, wenn die Kinder bereits früher anfielen, gilt das als goldene Regel, zumindest als silberne, denn das reine Gold bleibt dem 0 : 0 vorbehalten, der Formel partnerschaftlicher Vollendung. Man könnte daraus schließen, im Yagir habe das Sexualleben sich zurückentwickelt. Aber damit erläge man einem Irrtum. Mit etwas besserem Recht wäre es hypertroph zu nennen (liefe die Summe der einschlägigen Aktivitäten nicht allerorten auf dasselbe hinaus), bloß das Wort ›Geschlecht‹ ist tabu, ebenso wie das lange Zeit einschlägig gebrauchte ›Sex‹ –: vielleicht – aber das wäre nur eine Vermutung –, weil in dem einen offenkundig das Wörtchen ›schlecht‹ steckt und man die Sexualität von allem Negativen befreien wollte, während aus den anderen der oder die ›Ex‹ herausblickt, also jemand, auf deren Blicke man nun wirklich in einer Beziehung nicht scharf ist. Vielleicht täusche ich mich. Dann teile ich dieses Los mit allem, was im Yagir kreucht und fleucht, aus keinem anderen Grund als dem, dass man sich nun einmal über diese Dinge zu täuschen pflegt, gleichgültig, welche Haltung man gerade zu ihnen einnimmt. Um die Täuschung zu perfektionieren, hat sich für ›diese Dinge‹, fern aller hergebrachten Obszönität, ein neues Wort eingebürgert. Es klingt wie ›touch‹ oder ›Tuchte‹, wird aber anders geschrieben: ›Tajr‹. Ein Kunstwort, kein Zweifel; es hat den Yagir im Sturm erobert und von gehobenen Yagiritinnen wird erwartet, dass sie sich einige Jahre dem Studium des Tajr verschreiben, bevor sie in der Gesellschaft die ihnen zustehenden Positionen beziehen. Warum erzähle ich das? Ach ja, auch Herma hat einige Jahre aufs Tajr-Studium verwendet. Sie war klug genug, um anschließend in eine Praxis einzutreten, die ihr ein gesundes Auskommen sichert. Ich verwende das Wort ›gesund‹ ganz bewusst, da sie sich bereits im Studium ganz und gar auf das Teilfach ›Gesundheit‹ spezialisiert hatte. Diesen Weg wählen viele junge Frauen, denen die härteren, sprich ideologisch anspruchsvolleren Gebiete der Wissenschaft vom Tajr nicht so liegen, obwohl natürlich auch sie angemessen geschult ins Leben zurückkehren, das sie nie verlassen haben. Übrigens liegen, yagirgeschichtlich gesehen, die Anfänge der Tajr-Wissenschaft im Nebel: einerseits handelt man sie als Errungenschaft des Yagir, andererseits tut man so, als habe es sie schon immer gegeben, jedenfalls lange vor seiner Entstehung, und das will etwas heißen.

 

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