Was die Schamgesellschaften des Westens von den Schamkulturen des Ostens unterscheidet? Vielleicht dies: Sie stürzen das Individuum in Konflikte, die durch Schamkultur geglättet, vielleicht sogar vermieden werden, vornehmlich deshalb, weil sie den Individualismus als solchen nicht kennen und dort, wo er auftritt, nicht anerkennen wollen. Der Individualismus ist aber das Kennzeichen des Westens, sein Wasserzeichen, das immer wieder, auch und gerade in Zeiten des brandenden Kollektivismus, durchschlägt. Hand aufs Herz: Das Individuum auf der Leiter der Rechte-Inhaber ganz nach oben zu setzen, dazu bedarf es einer gewissen Schamlosigkeit, eines Dauerkonflikts mit der Scham, die dem Einzelnen dazu rät, ins Glied zurückzutreten, gleichgültig darum, was das Kollektiv gerade wieder an Zweifelhaftem ausbrütet. Ein biologisches Erbe lässt sich nicht abschütteln, nur austarieren. Das Individuum, das ist nicht diese einzelne Person, sondern der ganze Mensch, durch das Medium der Vereinzelung gesehen: Nicht, als müsste es nun als radikal Vereinzeltes, als ›bindungsloses Subjekt‹ durchs Leben gehen, wie die gezinkten Beschreibungen von links und rechts vermuten lassen – die Probe vielmehr besteht darin, den Einzelnen im Anderen zu sehen (nicht den Fremden oder gleich seine Herkunft). Diese Probe erzeugt Paradoxien in Fülle, allen voran die, dass sie von Her- oder Abkunft um der Vermeidung der Abstraktion willen zu abstrahieren verlangt. Das konkret Individuelle verdankt sich schließlich nicht zuletzt den allgemeinen – und keineswegs abstrakten – Zügen, die es teils zur Schau trägt, teils vor den Augen der anderen verbirgt. Die Scham sagt: »Schau nicht hin!« Gleichzeitig brennt sie das, was keiner sehen darf, fest ins Gemüt des Einzelnen. Du hast es ja doch getan, also bist du schuldig. Worin liegt die Übertretung? Für den unter der Ursünde ächzenden Christen bereits in der Kenntnis des ›eritis sicut deus‹, also in der Wahrnehmung des sakralen Textes, im schlichten Gelesen- oder Vernommenhaben der Botschaft, es sei denn, jemand bleibt so sehr Schaf, dass die Wörter ihm nichts weiter eingeben als einen blinden Schauer. Auch so etwas soll es geben. Schämt euch gefälligst! So spricht keine Schamkultur.

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Sie sind essenziell für den Betrieb der Seite (keine Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.