Der historische Fehler des Berliner Senators für Inneres und Sport, Andreas Geisel, die für den 29. August 2020 angesagte Querdenken-Demonstration zu verbieten, ist zu groß, um von einer Person allein verantwortet zu werden; in ihm konzentriert sich die Ausweglosigkeit einer Situation, die von langer Hand herbeigeführt wurde. Denn der Erfolg dieser Bewegung ist nicht aufzuhalten, gleichgültig, wieviel Fortune ihre Wortführer jetzt und in Zukunft entfalten: Er ist bereits da. Er liegt darin, dass die hektischen Spaltereien der letzten Jahre angesichts des sich in der Bevölkerung stauenden Unmuts in den Äußerungen von Verantwortlichen, deren Sinn für Verantwortung sich besser an anderer Stelle zeigte, einen Grad an Absurdität erreicht haben, der sie bereits heute als nicht vermittelbar ausweist. Wen die Bildzeitung abstraft, den bestraft das Leben – und nicht zu knapp in der Regel, aber was hält sich in diesem Land noch an Regeln? Die von den ›Querdenkern‹ in Gang gesetzte Bewegung bedurfte nur eines winzigen Anschubs und es wirkt lächerlich, sie zerstreuen zu wollen, indem man ihre Organisatoren und Wortführer mit dem üblichen Wortunflat übergießt, unter dem das Unwort des Jahres ›Corona­leugner‹ durch seine schlampige Perfidie besonders hervorsticht. Es mag tragisch sein, dass denen, die es bis zur Besinnungslosigkeit gebrauchen, jeder Sinn dafür abgeht, dass sie damit die Wette annehmen, die ihnen von der anderen Seite angeboten wurde: Wer ist hier der Leugner? Dahinter steht nicht die einfältige Frage, welche der beiden Parteien in Sachen Corona jetzt Recht hat, sondern die weit brisantere, welche die vollständigere Beschreibung des Desasters anzubieten hat. Die Leute wissen – oder spüren – längst, dass die auf Massenangst spekulierenden Verlautbarungen der Offiziellen geschönt sind, weil sie die Dimensionen des anrollenden Ungemachs, vor allem des ökonomischen, kleinreden oder, um ihre eigene Vokabel zu gebrauchen, ›leugnen‹. Wer wird in einigen Wochen als Coronaleugner dastehen? Dann wird es nicht darum gehen, welcher Geistesverwirrte die Existenz eines Virus leugnet, sondern wer die Spuren der eigenen Politik verwischen muss, um vor dem Wahlvolk, vielleicht sogar vor der Straße, bestehen zu können. Wer immer ›sich vorstellen könnte‹, künftige Wahlen zu gewinnen, indem er in Sachen Grundrechtsbeschränkungen den Fuß etwas länger auf dem Pedal lässt, als der enge Verfassungsspielraum dies vorsieht, der nährt die Bewegung, die er zu bekämpfen glaubt. In diesem Sinne ist er heute bereits ein Teil von ihr: Er schreibt, wie ihre Wortführer zu wiederholen nicht müde werden, hier und heute Geschichte.

Notizen für den schweigenden Leser

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