Für die schlimmen Verirrungen des Zwanzigsten Jahrhunderts zeichnet Wissenschaft mitverantwortlich und nichts spricht gegen die Annahme, einige ihrer bizarreren Fehlleistungen könnten der Weltgesellschaft noch bevorstehen. Man muss damit nicht ins Detail gehen, die Dystopien sind davon voll. Eher lohnt es sich, das Prinzip ›Mitverantwortung‹ ein wenig unter die Lupe zu nehmen. ›Mitgefangen – mitgehangen‹? Der Mediziner Josef Mengele, der im Auftrag des Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Auschwitz an Häftlingen experimentierte, gewiss kein Beifang der Aufarbeitung, sondern Massenmörder aus eigenem Antrieb, hat es ebenso wenig wie seine Auftraggeber geschafft, die Wissenschaft (oder auch nur Teile davon) in Verruf zu bringen. Wo also bleibt sie, die Mitverantwortung der Wissenschaft? Was hat das emblematisch gewordene Wüten eines Mengele, nebst dem einer Reihe weniger prominenter Spießgesellen, sagen wir … zum Beispiel mit dem blütenreinen Ruf und der erhabenen Kompetenz der Berliner Charité zu tun? Nichts, nichts, dreimal nichts. Oder doch? Nichts! Gewiss, ein paar Fälle, die der breiten Öffentlichkeit wenig sagen, finden sich immer. Sagen ›wir‹ doch einfach, ›wir‹ sind … auf dem Weg zu einer öffentlich wahrnehmbaren Haltung zur eigenen Geschichte(BZ am 29. 9. 2015). Das klingt zwar einigermaßen unterbelichtet angesichts des allgemeinen Hangs zu systemischen Entgleisungen, der vor Wissenschaft nicht Halt macht, aber Haltung, Haltung… Gewiss, ›Haltung‹ ist wichtig. Wer sich an nichts hält, wie weit kommt der? Was hätte die ›Haltung‹ von ein paar Instituten mit Wissenschaft zu schaffen? Nichts. Wissenschaft, die Bezeichnung deutet es an, schafft nun einmal Wissen und sonst nichts. Was sie sonst noch so schafft, ist, folgt man ihrer leyenda blanca, ein Schaffen von Beteiligten auf eigene Faust und Rechnung und wird nicht durch ihren hehren Namen gedeckt: Pseudo-Wissenschaft. Mit Entgleisungen ›in ihrem Namen‹ hat sie ebenso wenig zu schaffen wie die Rechtsprechung aller Zeiten und Länder mit ihren ›im Namen des Volkes‹ ergangenen Schandurteilen. Andererseits … wo bleibt dann die Verantwortung? Vielleicht wäre etwas gewonnen, wenn auch Wissenschaft die Ergebnisse ihrer Forschungen ›im Namen des Volkes‹ präsentierte, nicht im Sinne einer deutschen, französischen, amerikanischen etc., sondern einer Menschheits-Wissenschaft. So könnte man denken. Leider umfasst der Begriff der Menschheit nicht das, was den des Volkes so eigen wirken lässt: ›Volk‹ kann zur Not rebellieren, die Menschheit nicht. Das ist die bittere Lektion des vergangenen Jahrzehnts und es sieht nicht danach aus, dass sie bereits von allen Seiten hinreichend verstanden worden wäre. Am ehesten verstanden haben es jene, die dafür Sorge getragen haben, dass das ›Volk‹ sachte bis zu dem Punkt in Verruf geriet, an dem der Alltagsjournalismus und seine Konsumenten es zwanghaft mit ›Reichskriegsflaggen‹ und ›Reichsbürgern‹ zu assoziieren begannen. Dagegen spielt die feine, in keiner Sonntagsrede und keinem öffentlichen Projekt fehlende Bezugsinstanz ›Menschheit‹ offensichtlich fast ausschließlich Mächten in die Hände, die ohnehin bereits das Sagen haben. ›Menschheit‹ ist ein Elitenprojekt. Kein Wunder also, dass zu Beginn einer neuen Welt-Impf-Ära selbst die delikatesten Lehren aus der Vergangenheit bereitwilligst in die unteren Schubladen schlüpfen, aus denen sie erst wieder herausgeholt werden, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist.

Ist das klug? Ist das wissenschaftlich? Wissenschaft genießt den Vorteil, dass sie stets am Beginn einer neuen Ära steht und just im fraglichen Moment ihre explodierenden Möglichkeiten überschlägt. Gäbe es Gesellschaft, wenn es keine Wissenschaft gäbe? Zweifel sind angebracht. Nicht allein, dass Gesellschaft zu den Nutznießern von Wissenschaft zählt – der Nutzen der Wissenschaft ist ihr gemeinsames Fundament, ein anderes kennt sie nicht. Ohne den steten Zufluss wissenschaftlicher Erkenntnisse und den zivilisatorischen Sog, den sie entfalten, fiele Gesellschaft in räuberische Gemeinschaften auseinander, zusammengehalten durch die Knute der jeweils Herrschenden und sonst nichts. Deshalb sind die großen gesellschaftlichen Entgleisungen auch Entgleisungen der Wissenschaft, sei es, dass ihr Prestige nicht ausreicht, sie zu verhindern, sei es, dass ihre eigenen Fortschritte die Entgleisungen anstoßen und ›formatieren‹. Damit Gesellschaft sei, bedarf es einer offenen Zukunft, und Wissenschaft sagt in schöner Regelmäßigkeit: »Nimm mich!«

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