Klammheimlich hat sich in die öffentlichen Debatten ein Gegensatz eingeschlichen, der in der Vergangenheit niemals ganz ausdiskutiert wurde: jener der einst von Willy Brandt gegen Ende seiner Regierungszeit propagierten öffentlichen Tugend der ›Compassion‹, des leidenschaftlichen Miteinanders der öffentlichen Akteure und letztlich aller Bürger und der inzwischen gebetsmühlenhaft von der Politik in Anspruch genommenen ›Empathie‹, der einfühlenden Sorge für die Benachteiligten, die Gefährdeten und die Zurückbleibenden, kurz alle, die sich unter den Begriff des ›Opfers‹ subsumieren lassen, ohne dass jemand für die Täterschaft in Anspruch genommen werden könnte, es sei denn ›die Unverantwortlichen‹, ›die Kaltherzigen‹ oder ›die Privilegierten‹, wobei, immerhin, anzumerken bleibt, dass diese Rede durchgängig als Privilegierten-Rede dem weniger privilegierten Volk verabreicht wird, das zur Kasse gebeten und zum miteifernden Gehorsam angehalten wird.

Wie gegensätzlich ist dieser Gegensatz? Bildet nicht Empathie, das Erbarmen mit den Schwachen, den Kern genau jener Leidenschaft für die öffentlichen Dinge, die einst Brandt vorschwebte? So könnte, so soll es scheinen, doch bei einigem Nachdenken wachsen die Bedenken. Eine Welle im öffentlichen Bewusstsein wie die ›Querdenken‹-Bewegung, über deren politisches Schicksal noch nicht entschieden ist, während ihre Forderung »Weg mit den Corona-Verordnungen und Rücktritt der Regierung, die sie verhängt hat«, sich an Deutlichkeit kaum überbieten lässt, klärt gerade darüber auf, dass hier nicht allein die Bedenken einiger Weniger im Spiel sind, denen überbordender Müßiggang die Beschäftigung mit spekulativen Fragen nahelegt, sondern die bohrenden Fragen Vieler an alle, mit denen sie die gesellschaftliche Existenz teilen und mehr und mehr zu Konditionen teilen müssen, die ihnen nicht schmecken.

Auf den einfachsten Nenner gebracht, fordert ›Compassion‹ als politische Leidenschaft das Subjektsein aller am gesellschaftlichen Prozess Beteiligten – ganz im Sinne einer Politik der Selbstbestimmung, die einmal im Westen als das Nonplusultra einer fortschrittlichen Gesinnung gehandelt wurde –, während ›Empathie‹ – Erkennungszeichen einer neuen, ›weiblicheren‹ Politik – immer neue Klassen von Objekten des politischen Wollens auffährt, um damit die alternativlose Vorherrschaft von Konzepten massentauglich abzusichern, deren erklärtes Ziel darin besteht, jene Subjekte erst zu erschaffen, die dann – in einer ungewissen Zukunft – als glückliche Träger der Botschaft vom selbstbestimmten Leben zu Konditionen vor sich hinleben dürfen, die andere für sie geschaffen haben und die von ihnen, als unverzichtbar, weder in Frage gestellt noch anderweitig angetastet werden können. Eine ungewisse Zukunft allerdings ist eine Zukunft, deren Eintreten keineswegs gewiss ist, während die zu ihrer Herstellung ergriffenen Maßnahmen sofort wirksam werden. Ein ›Lockdown‹ – um das naheliegende Beispiel zu wählen –, dessen wissenschaftliche Grundlage schütter, dessen Erfolg ungewiss bleibt, dessen zerstörerische Wirkung jedoch unmittelbar und für jedermann sichtbar abrollt, der nicht durch Propaganda geblendet wurde, ist, was immer man über ihn denken mag, kein Instrument der Freiheit. Dasselbe lässt sich von der Politik der Empathie im Ganzen sagen: Sie zerstört die Grundlagen der Zustimmung, auf denen sie errichtet wird. Wie schnell dies geschieht, hängt von den ergriffenen Maßnahmen und der Vehemenz der Folgen ab, die sie heraufbeschwören. Kein Wunder also, dass die beteiligten Regierungen längst dazu übergegangen sind, sich Überlebenszeit zu kaufen. Nichts anderes bedeutet ihre Spendierbereitschaft auf Kosten kommender Generationen.

Auf ihre Weise haben politische Klasse und Juste Milieu den Gegensatz nicht nur längst akzeptiert, sondern zu einer Waffe umgeschmiedet, mit deren Hilfe das andere Lager nicht nur mundtot gemacht, sondern zunehmend dehumanisiert wird. Das begann mit der pauschalisierenden Verächtlichmachung von ›Wutbürgern‹ und hat mit der sinnfreien Markierung von ›Covidioten‹ noch längst nicht seine Zielmarke erreicht. Soll heißen: das erste wirkliche, erreichbare und in Teilen bereits erreichte Ziel ist die Blockade der öffentlichen Vernunft. Wir haben uns auseinandergesetzt heißt heute unter Machtinhabern, die sich bei ihrem ›Job‹ nichts weiter denken, als ihn zu machen: »Redet, was ihr wollt, argumentiert, wie ihr wollt, trommelt, schreit, gestikuliert, fordert, was ihr wollt, seid friedfertig wie die Lämmer oder gebärdet euch wilder, als ihr in Wirklichkeit seid – es ist uns vollkommen gleichgültig. Wir werden euch im Grunde immer nur ein Wort entgegenhalten: verantwortungslos. Denn die Verantwortung haben wir und wir denken nicht im Traum daran, sie abzugeben oder uns zu verantworten.« Heißt Compassion, übersetzt in die Sprache des Alltagsgemüts, »Ohne Freiheit ist alles nichts«, so bedeutet die private Tugend der Empathie, politisch zweckmäßig instrumentalisiert: »Freiheit ist ein schöner Traum – träumt weiter. Wir schaffen Fakten.«

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