Unter den verschiedenen Möglichkeiten des Zu-Kreuze-Kriechens ist die philosophische immer die angenehmste, weil spielerischste: die philosophische Tradition kennt unfassbar viele Formen, unter denen sich klangvoll und unauffällig vollziehen lässt, was in aller Nacktheit immer auffällig bleibt und durch die Fetzen der Alltagssprache nur notdürftig gedeckt ist. Wenn man begriffen hat, dass praktisch die gesamte Politik nach den Trögen geht und jeden verschreit, der unberufen – ›selbsternannt‹ – in ihre Nähe gerät, dann versteht man, dass auch der Denker gefordert ist, sobald sich eine gewisse Skepsis in der Bevölkerung breitmacht – sei es, dass einigen Leuten die ›Maßnahmen‹ nicht schmecken, deren Nützlichkeit gerade an ihr erprobt wird, sei es, dass ein paar in Ehren ergraute wissenschaftliche Kindsköpfe rufen »Der Kaiser ist nackt!«, wenn die pure Willfährigkeit gegenüber Firmen und Fürsten in der Forschung regiert, sei es, dass gerade eine Bewegung im Lande entsteht, die, der aus Geistesträgheit gezeugten Heuchelei und der auf sie gegründeten Machtspiele überdrüssig, eine neue Politikergarnitur an der Spitze des Landes verlangt und dementsprechend nach dem vielfältig einsetzbaren Motto ›Wehret den Anfängen!‹ Gegenwind bekommt. Der Philosoph Peter Sloterdijk, der es vor Jahren unternahm, das deutsche Fernsehpublikum in die Abgründe des Denkens blicken zu lassen, als handle es sich um Honigtöpfe, und seither als einer der tiefen gilt, hat das Stück, das in diesen Jahren landauf landab in der Bundesrepublik gespielt wird, früh durchschaut und, nebst dem Text zu einer bombastischen Oper, das feine Wort ›Lügenäther‹ zu ihm beigesteuert. Allerdings musste er erleben, dass die Kanaille keinen, der sie herausfordert, verschont: Das lässt einen, der gerade noch Liebkind des Feuilletons war, schon ins Grübeln kommen. Und so sieht das Ergebnis dieses Nachdenkens aus: »Man wird mehr und mehr verstehen, dass Immunität keine Privatsache ist. Sekurität ebenso wenig. In Europa begann die Aufklärung unter anderem mit der Behauptung, der ›bon sens‹ sei die am besten verteilte Sache der Welt. Man hat Gründe, an der Wahrheit der These zu zweifeln. Auch Immunitäten und Sekuritäten gehören durchaus nicht zu den am besten verteilten Sachen der Welt. Umso mehr muss man für ihre bessere Verteilung sorgen – und für ein neues Bewusstsein für humane Diskretion und nichtaristokratischen Abstand.« (NZZ vom 29.8.2020)

Verstehe das, wer will. Was ist schon Privatsache, wenn der Staat eine Maskenpflicht für alle vorschreibt und in die letzte Familienfeier hineinschnüffelt, als sei ritueller Altenmord neuerdings zum Gesellschaftsspiel avanciert? Wann wäre Sekurität eine Privatsache gewesen? Beides muss hergestellt werden, in beiden Fällen handelt es sich um ein so hohes und schwer zu bewahrendes Gut, dass, neben dem Verhalten der Einzelnen, immer auch das Verhalten aller und damit des Staates gefordert ist. Der Philosoph mag das anders sehen. Aber vielleicht wäre an dieser Stelle auch sein Verhalten gefordert, zumindest die Besinnung auf Menschenrecht und Verfassung: Man muss schon einigermaßen gedankenimmun geworden sein, um nicht zu wissen (oder vergessen zu haben), wie heikel Eingriffe in den privaten Bereich sind und wie rasch sie sich immer wieder als das probate Mittel erwiesen haben, die Hölle auf Erden zu errichten. Der eigentliche Skandal allerdings steckt in der Bemerkung über die ungleiche Verteilung des ›bon sens‹, den man im Deutschen gern ›gesunden Menschenverstand‹ nennt – nicht weil am Ausmaß seiner ungleichen Verteilung zu zweifeln wäre, sondern weil der Philosoph (man muss immer wieder auf dieses Wort verweisen) tatsächlich vorschlägt, für seine bessere Verteilung Sorge zu tragen. Das eben nannte man in geraderen Zeiten Aufklärung: freies Denken, freie Rede, freier Austausch, freie Schrift, freier Informationsfluss, wit & humour (Shaftesbury). Hier kommt es als Angriff auf sie daher und verlangt nach Maßnahmen, nicht zufällig jenen, mit denen der Staat neuerdings den Teil seiner Bürger, der Packungsaufschriften lesen kann und ein bisschen Statistik und Psychologie in petto hat, vielleicht auch nur Kinder sein eigen nennt, ohne darüber dem Masochismus verfallen zu sein, auf die Barrikaden treibt, mental zumindest, also im Bewusstsein, dort, wo der Philosoph sein segensreiches Werk zu verrichten gedenkt. Philosophisches Doublespeak demnach vom Feinsten. Doch so fein auch wieder nicht, bedenkt man, dass selbst für den abgehobenen Denker die Information, die er bräuchte, um in der Sache mitreden zu können, nur ein paar Mausklicks und ein paar Stündchen Nachdenken entfernt liegt. In Zeiten wie diesen könnte es sich ergänzend empfehlen, einfach vor die Tür zu gehen, die Leute zu beobachten und gelegentlich mit ihnen zu reden. Die Leute, gewiss – der Denkakrobat, der bloß reflexhaft über die guten Leutchen zu höhnen gelernt hat, die nun humane Diskretion lernen sollten, hat schon verloren. Aber vielleicht ist das alles auch nur ein Missverständnis und Sloterdijk wollte in Wirklichkeit Vernunft und Augenmaß bei den Regierenden anmahnen. Dann allerdings…

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