Der Sommer 2020 wird, passend zum Infektionsgeschehen, als Sommer der kalten Füße in die Medizingeschichte eingehen. Ein bewahrenswertes Dokument fröhlicher Ergebenheitswissenschaft las ich gestern durch Zufall: eine ›Stellungnahme‹ des Dekans der Medizinischen Fakultät der Kieler Christian-Albrechts-Universität zur ›SARS-CoV2-Infektion‹, adressiert an die Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Schleswig-Holstein vom achtzehnten August dieses Jahres, nachzulesen auf den Internet-Seiten der Universität. Das Dokument trägt drei Unterschriften: neben dem Dekan melden sich der Sprecher eines medizinischen Exzellenzclusters sowie der ›Vorstandsvorsitzende und Vorstand für Krankenversorgung der UKSH‹ zu Wort. Damit ist die Interessenlage, der sich das Schriftstück verdankt, einigermaßen geklärt. Doch worum geht es in dem eineinhalbseitigen Werk? Die Kieler Nachrichten, nicht direkt als rechtsversifftes Revoluzzerblatt berüchtigt, hatten demnach zehn Tage zuvor das Professorenehepaar Reiß und Bhakdi interviewt, wobei letzteres die Thesen seines jüngst erschienenen Buchs über die Corona-Pandemie und ihre Handhabung durch die Politik (Corona Fehlalarm?) erläuterte. Das Buch ist ein Bestseller, alle Welt weiß darüber Bescheid, die Querdenker betrachten es als ihre Bibel, es handelt sich, streng genommen, um kein wissenschaftliches, sondern um ein populärwissenschaftliches, auch Laien verständliches Werk mit aufklärerischer Intention. Warum distanziert sich der Dekan einer medizinischen Fakultät, übrigens ohne Angabe irgendwelcher wissenschaftshaltiger Gründe, von einem medizinischen Ratgeber, weil er, man lese und staune, »die wissenschaftliche Sorgfalt medizinischer Forschung in Deutschland und international in Frage« stelle, noch dazu gegenüber dem eigenen Ministerium? Nun ja, Frau Reiß residiert an der Hautklinik der Welt-Universität Kiel (›Department of Dermatology and Allergology‹), während ihr renommierter Gatte, wie bekannt, die Freuden eines Mainzer Emeritus genießt, also in puncto Disziplin und Drittmittelbeschaffung frei hat. Das erklärt vieles, aber nicht alles. Man kann dergleichen ›postnormale Wissenschaft‹ nennen, man kann andere Vokabeln dafür wählen – man kann auch, zwei Monate später, die Frage stellen, wer hier wen blockiert: eine stur Kurs haltende Politik die vom Zweifel lebende Wissenschaft oder eine willfährige, von der Angst, auf der falschen Seite angetroffen zu werden, hypnotisierte Wissenschaft eine unsichere Politik, die dringend auf realwissenschaftlichen Beistand angewiesen wäre. Man kann das Fragen auch lassen, die Antworten purzeln einem vor den Füßen herum, so dass man leichter über sie stolpert als über die selbstverfügte Blindheit.
Ergebenste Exzellenz. Wie die deutsche Universität ihren Ruf verspielt
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