Wir haben uns an die Belagerung gewöhnt, ein paar Ausbruchversuche, die unternommen wurden, endeten tödlich im Schatten des Ungeheuers, das uns beherrscht, soll heißen, uns mit Angst und Schrecken in unseren Häusern hält und unsere gewohnten Beschäftigungen schleifen lässt. Das Ungeheuer – oder soll ich sagen: Monstrum? –, das Monstrum hält uns im Griff, seit es vor dem Weichbild unserer Stadt Stellung bezog und seine Tatzen in den märkischen Sand grub, der an dieser Stelle nur schwer zu erahnen, in unserm Bewusstsein, jedenfalls bis zu jenem Tag, kaum noch vorhanden war. Unser Bewusstsein … es steht nicht gut um unser Bewusstsein, es ist selbst zur Streusandbüchse geworden, auf deren Grund ein paar Münzen klappern, denn Klappern gehört nun einmal zum Handwerk der Parteigänger, wie sie das Monstrum verstreut über die ganze Stadt gefunden hat, auf diese Weise seine Augen und Ohren vertausendfachend: Niemand entgeht ihren argwöhnischen Blicken, ihrem jede Äußerung, selbst der unschuldigsten Art, verdrehenden und bis zur Unkenntlichkeit entstellenden Gehör (es muss das Gehör sein, unbedingt, keine auf sich gestellte Intelligenz kann diese Indulgenz vor dem Feind erzeugen, die sich im Alltag gegen die eigenen Leute kehrt).

Dabei wäre es so einfach, dem Spuk – denn ein Spuk ist es und nichts weiter – ein Ende zu bereiten: Jemand müsste allen Mut zusammennehmen, hinausgehen, sich in Rufweite des Ungeheuers postieren und klaren Verstandes seine verhängnisvolle Rätselfrage entgegennehmen, bereit, sie ohne Umschweife zu beantworten. Jeder kennt die Frage, sie steht in den Lehrbüchern, es gibt in unserer Stadt Spezialisten, mit öffentlichen Mitteln ausgebildet und seit Jahrzehnten die Stunde der Bewährung herbeisehnend, die dicke Bücher über sie geschrieben haben und jetzt mit zusammengebissenen Zähnen darauf warten, dass der Krampf nachlässt – aber so läuft das Spiel nicht –: Es ist vierfüßig am Morgen, am Mittag zweifüßig, am Abend dreifüßig. Von allen Geschöpfen wechselt es allein mit der Zahl seiner Füße; gerade dann, wenn es die meisten Füße bewegt, sind seine Kraft und Schnelligkeit am geringsten. Von welchen Füßen soll schon die Rede sein? Die Namen der vier lauten: Gier, Lüge, Käuflichkeit und Verdrängung, die der zwei Angst und Zensur, die der drei schließlich Willkür, Ausgrenzung und Gewalt. Der Name des Wesens aber, das sie alle bewegt, lautet: Tyrannei. So steht es in den Lehrbüchern unserer Stadt, so lernen es die Kleinen, so kreist es in den Köpfen der Großen. Doch die Angst davor, ihn auszusprechen, ist riesengroß, gerade weil alle Bescheid wissen, und so kommt es, dass die Sphinx uns nimmer verlässt.

 

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Sie sind essenziell für den Betrieb der Seite (keine Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.