Der Fisch stinkt vom Kopf, aber was tun, wenn keiner da ist?
Anonymus

I

Im vierzigsten Jahr der Kakodemie zogen die Leute blank, wo immer sie das Bedürfnis ankam. Hatten anfangs nur einige gemurmelt: »Was soll der Scheiß!«, woraufhin sie hastig ihre spitzen Mäulchen bedeckten, so brüllten es jetzt die Vielen: die Mutigen, die singend durch die Straßen zogen und sich der Staatsmacht entgegenstellten, die weniger Mutigen, die es ihrem Nachbarn ins Gesicht schleuderten, sobald der eine Miene verzog, die ganz Feigen schließlich, die ihre Abgabenflut auf der häuslichen Toilette einer täglichen Inspektion unterzogen und feststellten: So geht das nicht weiter, plärrten es ihren Spiegelbildern entgegen, die sich darüber beschlugen und für eine Weile unsichtbar blieben. Erkenne dich selbst, einst die Parole einer gebildeten Bürgerschaft, die aber, soweit sie nicht Selbstmord begangen hatte, inzwischen ins Ausland stiften gegangen war, müde der stinkenden Häufchen, die sich immer häufiger vor ihren Haustüren fanden und sich langsam, aber sicher den Weg durch die Hausflure bahnten, so dass absehbar war, wann sie die oberen Stockwerke erklimmen würden, – diese Parole war jetzt das offizielle Regierungsmotto, unablässig wiederholt von den Repräsentanten des Staates, gleichgültig, ob sie auf Pressekonferenzen wortreich Rede und Antwort verweigerten oder ob sie, als mindere Staatsbedienstete, gespenstisch leere Seuchenbusse durch Innenstädte kutschierten. Die Innenstädte, einst die begehrtesten Orte der Welt, voll des schäumenden Lebens, hatten den Gestank der Zeit in sich aufgesogen. Verlassen lagen sie da; keiner wusste, ob sie trauerten oder ein Gelächter in ihnen rumorte, das irgendwann aufbrechen und das Häusermeer in eine Schuttwüste verwandeln würde, vielleicht auch in etwas anderes, ein Orchideenparadies oder einen Palmenhain.

Dabei waren sie noch immer bewohnt. Die Leute huschten aus ihren Häusern, schwangen sich auf Fortbewegungsmittel aus Draht und Gummi, Überbleibsel aus der Zeit der großen Konvulsion, und suchten, von Deckung zu Deckung radelnd, Arbeit. So jedenfalls hieß das Wort, das sie sich zuflüsterten, am lärmendsten hinter vorgehaltener Hand. Das war, nüchtern betrachtet, Quatsch, da überall Sender herumlagen, Wunderwerke der Technik im Virenformat, zahllos wie der Sand an den Stränden der Kindheit oder in den Wüsten der Welt, aus denen einst der Stoff sprudelte, der das Leben in den Zentren in Gang hielt. Das Wort Arbeit hörte sich ebenso verboten an wie die Sache selbst. Dennoch kamen die Menschen, vermutlich von auswärtigen Mächten fremdgesteuert, immer wieder darauf zurück, als handle es sich um eine Art Zahnschmerz und bedürfe dringend einer Wurzelbehandlung. Nur die politisch Sensiblen, falls es ihnen denn zu Ohren kam, wandten sich bebend ab und wählten die Nummer ihrer Putztruppe, um sich für den nächsten Einsatz buchen zu lassen. Die Zahl der Putztruppen hatte sich im Lauf der Jahre beträchtlich vermehrt. Sie kontrollierten die ideologisch bedeutsamen Kreuzungen und legten auch sonst alle naslang Hand an, damit der durchdringende Geruch, dem sie ihr Lebensgefühl verdankten, noch die entlegensten Viertel erreichte.

II

Städte und ihre Bewohner – manches wäre zu sagen davon. Und damit hätte man das Landleben mit seinen unerhörten Komplikationen noch gar nicht berührt. Die Leute vom Lande … sie haben ein ganz eigenes Kapitel in der Geschichte unseres Landes aufschlagen helfen. Auf riesigen Traktoren waren sie in die Hauptstadt gezogen, hatten dort wochenlang, den ohnehin kaum existierenden Verkehr lahmlegend, ausgeharrt. Heraus kam dabei nichts außer der üblichen Ansage: »Abstand halten!« Die Regierung schwieg, die privaten Medien bissen sich auf die Zunge, die Regierungssender drehten den veganen Anteil am Sendegeschehen ein wenig auf und die Sache war gegessen. Wo blieben die Volksvertreter? Auf der Toilette? Gut möglich, auch da wachsen die Schlangen exponentiell. So geht es, wenn alle zu allen Abstand halten, vor allem zu sich selbst, denn im Selbstverhältnis stinkt es am mächtigsten. Nur die schrägen Vögel legen Trauergebinde mit Kondolenzstreifen vor dem Regierungsgebäude nieder und behaupten etwas zu wittern, bevor sie ihre ungefügen Flügel ausbreiten und, gerade noch rechtzeitig, davonschweben. Ein loses Maul soll einmal vom Himmel gefallen sein und sich verbrannt haben. Umsonst! Niemand nimmt Selbstverbrennung noch ernst.

Im Jahre 41 UZ sollen übrigens Wahlen stattfinden. Die Parteien bereiten sich bereits fieberhaft darauf vor. Es gibt Rundumschutz für alle von der Wiege bis zur Bahre sowie Kandidatenlisten, geeignet, auch Widerspenstigen den Wunsch auszutreiben, einer solchen Lappalie wegen die häuslichen vier Wände zu verlassen und eine der stinkenden Kabinen zu betreten, in deren engem Geviert sich angeblich das Schicksal ihrer sogenannten Welt entscheidet. Über die Kabinen ist viel geschrieben worden. Kürzlich wurde entdeckt, dass schon ihr bloßes Aufsuchen den Unglücklichen fürs Leben zeichnet. Er trägt dann auf der Stirn das Kainsmal: »Geheime Gedanken!« Geheime Gedanken? Die kennen wir, damit braucht ihr uns gar nicht zu kommen. Die Zeichen der Zeit stehen auf Fernwahl, transparent und aseptisch, da weiß man doch, was man an seinen Nächsten hat. Partys mit Musik und Tanz zum gemeinsamen Ausfüllen von Wahlzetteln gelten als trendiges Mittel gegen die Trübsal. Sie sind nicht bloß, entgegen der allgemeinen Verordnungsflut, zugelassen – sie werden sogar von Gesetzes wegen als Schutz gegen die Gesetzlosen nachdrücklich empfohlen. Es ist wahr: Das Gesetz rät den Bürgern, was zu tun sei, es ist zum guten Hirten mutiert, stets zur Stelle, sobald sich ihr Tritt verlangsamt und der Blick zu schweifen beginnt.

Der Widerspenstigen Zähmung wird noch eine Weile in Anspruch nehmen, da alle Bühnen des Landes geschlossen sind. Im luftleeren Raum der ruinösen Überalleinheit gespielt, weist das Stück unübersehbare Schwächen auf, an deren Beseitigung noch gearbeitet wird. Die größte von allen ist vielleicht, dass es zwar Höhepunkte, aber keinen Schluss besitzt. Und einmal muss doch Schluss sein.

 

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