Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.
Als junger Mensch habe ich dieses Rilke-Gedicht bewundert. Es war von einer grausamen Eleganz, die ich sonst nur von Museumsstücken kannte: knapp, salopp, ein wenig verrückt und vor allem: überflüssig, denn ein weinender Tod war in meiner Welt nicht vorgesehen, jetzt nicht, morgen nicht und für alle Zeit: Der Tod, das war das Abschneidende, das Unrecht am Leben, das nicht weggeht, überdies ein Meister aus Deutschland. Nicht dass Rilkes Gedicht gegen diese Sicht der Dinge rebellierte, erregte mein Erstaunen –: nein, dass es überhaupt nicht rebellierte, dass es, gleichsam im Vorbeigehen, einen saloppen Tod dem monumentalen vorzog, darin lag, um ein damals beliebtes Wort zu benützen, das Skandalon dieser Verse. Zweifellos gehörten sie zu denen, die durch das Adorno-Diktum »nach Auschwitz keine Gedichte« gerichtet wurden.
»Wir sind die Seinen«, sagt Tukur der Schauspieler, er sagt es mit seidigem, kaum vernehmlichem Spott in der Stimme und einem Heben der Augenbraue, das andeutet, dass er zu diesem Punkt eindeutig mehr zu sagen hätte, forderte nicht der ›lachende Mund‹ bereits seinen Tribut, was ja, aus der Schauspieler-Perspektive, vollkommen richtig gesehen ist. Und nicht nur aus seiner. Gerade an dieser Stelle werden Schauspieler und Hörer eins, Komplizen geradezu, bereit, sich den Nonsens des Lebens nach dieser Verständigung von Grund auf anzutun – was dann ja auch geschieht. Die Frage, ob eine Tankstelle als systemrelevant offen bleibt oder ein Wirtshaus als systemirrelevant geschlossen wird, erscheint vielleicht nicht geeignet, dem weinenden Tod ›mitten in uns‹ Trost zu spenden. Aber ohne Zweifel ist sie ein gutes Mittel, den Abgrund an Bequemlichkeit auszuleuchten, in dem die 1a-Front derer, die uns schon länger regieren, im Laufe eines bereits allzu lang gedehnten Jahres versunken ist.
Und nicht nur sie: Man hört aus dem Off die Stimmen der berufenen Ausleger alteuropäischen Kulturguts, sie wispern und hüsteln und radebrechen, sie wollen es wieder einmal nicht gewesen sein und vertrauen auf die unverbrüchliche Kraft des Schweigens… Denn eigentlich – eigentlich! – sind sie im Großen und Ganzen einverstanden mit dem, was um sie herum geschieht. Ob der Tod dabei weint oder sich in die Hippe lacht, geht ihnen am A… vorbei, Hauptsache, die Scheuklappen sitzen und das Rilke-Seminar bleibt erst einmal ausgesetzt. Im Großen und Ganzen einverstanden – ich komme immer wieder auf das Ungeheuerliche dieser Phrase zurück, weil sie für alles steht, was meine Generation ein für allemal hinter sich lassen wollte: das ungenaue Hinsehen, das a priori für gerechtfertigt Halten dessen, was nun so einmal verfügt wird, nachdem es nun einmal verfügt wird, wie es nun einmal verfügt wird, das schnelle Fortwedeln der Gesichter, deren Nasen sich draußen an der Scheibe plattdrücken, weil ihre Besitzer nicht fassen können, was hier geschieht, das ganze hanebüchene Angstregime gerade bei den Verwaltern des Wortes, deren gewichtigstes lautet: dem Tod keine Gewalt über uns geben.
Sie haben dem Tod alle Gewalt über die Lebenden gegeben: Germanisten, Anglisten, Romanisten, Slawisten, Komparatisten (von Philosophen nicht zu reden), Theologen, Pastoren, Bischöfe, Prälaten und Kardinäle samt ihren Dampfgeschwadern vom Großen Reset, sie allesamt haben wie die armseligsten ihrer Seminar- und Kirchenmäuse der erlösenden Spritze entgegengefiebert und warten nun ergebenst, dass die versprochene Wirkung eintritt, sie sind nicht nur, wie der menschenfreundliche Schauspieler mutmaßt, an der Seele verhungert, sondern sie lassen verhungern, kalten Herzens und aller Vernunft bar, denn sie haben nichts zu sagen, übersehen aber dabei geflissentlich den Umstand, dass sie eben deshalb auch in Zukunft nichts mehr zu sagen haben werden. Warum auch?
Alles hat seine Zeit. Nur der Tod nimmt sich seine.
Ulrich Tukur: allesdichtmachen https://youtu.be/KQX79GqSAME