Die europäische Kultur ist eine Kultur des Zweifelns. Das ist übrigens fast schon ein Alleinstellungsmerkmal, wie jeder im Selbstversuch leicht erproben kann. Alle sind sich einig, dass Europa am Ende ist – abgewirtschaftet, ausgeblutet, unfähig, seine Zivilisation oder auch nur seinen Bevölkerungsstand zu wahren. Zweifeln Sie diese Aussage an und Sie werden sehen, dass man Sie umstandslos als den letzten Europäer beschimpft, geschlagen mit allen Illusionen einer blind ihrem Untergang entgegenwankenden … Population. So geht Zweifel. Zweifeln Sie an Amerikas Sendung und Sie werden merken, was Ihnen blüht, je nachdem, wo Sie sich gerade aufhalten. Sicher, auch in den USA regen sich hier und da Zweifel, aber, um Heine zu variieren, was ist schon ein amerikanischer Zweifel, gehalten gegen einen europäischen? Sie zweifeln? Nun, dann sind Sie ein transmoderner Europäer, der an nichts zweifelt außer an der Singularität Europas. Nein, zweifeln, ohne mit einem Fuß bereits im Gefängnis oder einem shitstorm zu landen, dürfen Sie nur in Europa. Jedenfalls galt das bis vor wenigen Wochen. Inzwischen ist aus dem piefigsten Zweifler ein Leugner geworden und Leugner werden vom Mob … fast hätte ich geschrieben ›verfolgt‹ und damit ein Tabu gebrochen: Kein Zweifel, wer im heutigen Europa Verfolgung wittert, ist des Zweifels nicht wert, seine Schuld gilt als unbestritten und was ihm blüht … das zu denken sollte auch dem letzten Zweifler nicht schwer fallen. Ich kenne ihn übrigens, den letzten Zweifler Europas. Ich kenne ihn persönlich, falls es Sie beruhigt. Ich hege keinerlei Zweifel daran, dass er der letzte ist, und er … in einer ruhigen Stunde hat er mir gestanden: Man hat ihm, mit seinem Unternehmer-Konto zusammen, auch den letzten Zweifel genommen, dass … hier erbleichte er flüchtig, seine Lippen bebten, seine Ohren standen ein wenig weiter ab als normal (wahrscheinlich fürchtete er verborgene Lauscher) … dass hier etwas nicht stimmt. Kein Zweifel, so lauteten seine Worte. Er, der sonst wissend Zweifelnde, sah ratlos drein wie noch nie. »Fragen Sie Ihre Frau!« Das war’s, was ich ihm raten wollte, doch ich sah, dass ihm nicht zu raten war. Er hatte den Rubikon überschritten, fast wäre er hineingefallen, weil er nicht aufgepasst hatte, und seither lebt er im Land der Gewissheiten, in einer heiteren Atmosphäre gebotener Dissonanz. Er hat mir geschrieben, dass er jetzt Brennesseln anbaut, Marke »Europax«. Er bedauert seine Zweifel, jetzt, wo sie ihm genommen sind, zutiefst, und versteht gar nicht, wie er so lange bei ihnen ausharren konnte. »Zweifle nicht«, schreibt er mir, »rette.« Was soll ich retten, was kann ich retten, wo ich doch ihn verloren geben muss?

 

Notizen für den schweigenden Leser

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