Wenn die 1980 geborene Außenministerin der Bundesrepublik Deutschland sich öffentlich der Verbrechen des Zweiten Weltkriegs ›erinnert‹, dann überschreitet dies deutlich die Grenze zum Wunder. Aber natürlich hat sie nicht ›ich‹, sondern ›wir‹ gesagt – das große Kollektivbewusstsein umfasst die Zeiten und Weltläufe, ohne dafür die beim Einzelnen fällige Gebühr der Endlichkeit zu entrichten.
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Die Dame ist nicht die erste, die so redet und damit die Differenz zwischen Erinnern, Informiertsein und Gedenken verwischt. Es ist, wie man so sagt, im Lauf der Jahre eingerissen und eines von vielen Signalen des in die Zentren der Politik zurückgekehrten Kollektivismus, der mit dem Individuum auch seine Begriffswelt peu à peu zu beseitigen trachtet. Wer die Paradoxie der Phrase nicht mehr empfindet, in dem ist die Abtötung bereits vollzogen.
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Der Kollektivismus, die Schande des Kollektivismus (die Schande eines Jahrhunderts der präzendenzlosen Massenverbrechen) kommt nach Jahrzehnten emsiger ›Aufarbeitung‹ so unzerstör- wie unbelehrbar daher, quasi als Unschuld vom Lande. Jedenfalls ist das die trügerische Gestalt, in der er sich erneut aufmacht, die ›Welt‹ in die Zukunft zu katapultieren.
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Gestern las ich das Wort ›Denkpest‹ und zuckte zusammen: Darf man so weit sinken? Gemünzt auf ›Impfskeptiker‹, erklärt da einer die Skepsis, den einzigen Ansatz zum unabhängigen Denken, den die Menschheit entwickelt hat, zum Menschheitsfeind. Doch ist es wirklich Skepsis, die diese Menschen bewegt? Eher ist es die Sorge um sich und die Ihren, um Leib, Leben, Gesundheit, also gerade dasjenige, wofür von Staats wegen gesorgt sein soll. Die Sorge ist wirklicher als der verordnende Staat, wer sie ausradieren möchte, der muss den Menschen ausradieren. Da sind mehr Mächte von der Partie, als die einzelne Vorstellung verkraftet.
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Woher die applaudierende Mehrheit? Wie lässt sich der Mensch in mir flächig ausradieren? Wie wirklich sind Umfragen? Sicher ist eines – sie folgen dem Motto: Wer viel fragt, bekommt viele Antworten. Diese Antworten legen sich dann als Firnis auf die Oberfläche der Sorge, das übliche Abwehrverhalten nach dem Motto: »Wie soll’s schon gehen? Gut geht’s!« Nichts geht gut, gerade darum geht’s ja.
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In einem Land zu leben, in dem die Mehrheit sich zur Religion der Maske bekehrt hat, ist sinnlos.
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Was für eine Religion ist das? Wer nach einem religiösen Leben fahndet, der fahndet vergebens. Von der Religion haben sie nur die Schikane behalten und den Anspruch, alleinseligmachend zu sein. Dazu die weltliche Macht, sie gegen jedermann durchzusetzen.
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Natürlich bleibt das Maskentragen nicht ohne psychische Folgeschäden. Eine tendenziell der Kritik entwöhnte Schamgesellschaft wird über die Unterscheidung schön / hässlich gesteuert. Das nackte Gesicht wirkt hässlich, wenn das Tragen von Gesichtsmasken erst lang genug sanktionsbewehrt ist. Alles nur eine Frage von Zeit und Gewöhnung. Der nackte Mund wird zum schamlosen, der ausspricht, was niemand hören will, bloß durchs Vorzeigen. Wer will, mag das Evolution nennen, so wie die Nazijahre eine Evolution des Deutschseins bewirkten.
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Die achtlos fortgeworfene Maske im Treppenhaus: zertretene Blüte am Wegrand. Jede Bewegung der letzten sechzig Jahre zur Rettung der Welt hat einen neuen Konsum geschaffen, neue Klassen von ›Gütern‹, neue Müllberge. Das bleibt.
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›Sich ehrlich machen‹ – für den Einzelnen eine Befreiung, für die Politik ein Albtraum. Leichter fällt es ihr, Realitätsdurchbrüche mit Narrativen abzufedern, die eben noch als unsinnig abgetan wurden.
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Just an einem Lieferwagen gesehen: »Ich bin ein e-Berliner«. Diese Welt gehört den Gestörten.
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Mittagsstunde vor einem Bürohaus: Zwei Frauen in lebhafter Unterhaltung, mit klammen Fingern ihre Togo-Becher schwenkend, treten beim Anblick des Fremden routiniert auf den vorgeschriebenen Abstand zurück, als hätten sie dergleichen von Geburt an geübt. Es ist die Routine darin, die erschreckt.
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Dantes Höllenstrafen haben Zuwachs bekommen: Zwei Jahre Berliner Verkehrsdurchsagen (»Pliess, wära Mask!«) und der Durchschnittshauptstädter wäre ein Fall für die Klapse, herrschte dort nicht, wie man immer mal wieder liest, Aufnahmenot (›Triage‹). Andernorts, wie in Potsdam, meldet man Vollzug: von 22 – 6 Uhr ungeimpftenfrei. Das ist doch schon was.
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Die Politik als Geisel der Medizin hat etwas Widersinniges, um nicht zu sagen Grausames. Politik darf niemandes Geisel sein, sie kann es nicht ohne aufzuhören, Politik zu sein. Aus demselben Grund ist es gar nicht möglich, ihre Rolle überzubewerten, gleichgültig, was Systemkritiker dazu sagen.
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Die besten Fragen sind Meißel, geeignet, die Wand aus Nichtwissen aufzubrechen, die jeden Menschen mehr oder weniger deutlich umgibt. Andere drücken den Wunsch nach Aufklärung aus. Wieder andere – und damit sind wir beim Thema des Untertanen – haben die Aufgabe, die selbstgewählte Unwissenheit abzuschirmen. Sie sind mächtige Instrumente der Ignoranz, der Hörigkeit und der Scham, sie dienen allein dem Wunsch, nicht auf Abwege zu geraten.
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»Sozialität schlägt Realität, soziale Bindung schlägt Wirklichkeitssinn«: So könnte man den Mechanismus beschreiben, der in bedrückenden Zeiten bei der Menge den Ausschlag gibt. Jeder kennt die Helden und ihre Phrasen, die dabei zum Einsatz kommen.
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Das Stakeholder-Dogma der sogenannten vierten industriellen Revolution (man las schon ›Steakholder‹ und … es ist was dran!) wurde zur Parole für die großflächige Korruption der in Verbänden, NGOs, Aktionsbündnissen und Kirchen organisierten Zivilgesellschaft und ihrer Medien-Propagandisten. Die Wirtschaft wird ihr altes Ziel, das Ende der sozialistischen Grundwelle, erreicht haben, sobald sie sich deren letzte Akteure einverleibt und ihre Ziele ad absurdum geführt hat. Aktuell gilt: Überwiegend linke Ideologen haben den Bock zum Gärtner gemacht und siehe da, es funktioniert. Es funktioniert aber nur um den Preis einer irrealisierenden Politik. Vermutlich wird nicht der Aufstand der Massen diese Politik zu Fall bringen, sondern der Aufstand der Dinge, der sich in den materiellen Krisen ankündigt.
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Folgt man dem Orakel der Börse, dann steht die Covid-Impfsaison vor einem baldigen und vermutlich unrühmlichen Aus. Das ist der Augenblick, in dem deutsche Verantwortliche auf das Faust-Anathema umschalten: »Verweile doch, du bist so schön.« Sie haben sich schon mehrfach in der Geschichte so benommen und gut aus ging es nie. Dafür bemühen sie dann den Spruch: »Die Hoffnung stirbt zuletzt.« Vermutlich darf sie vorher das Licht ausknipsen.
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Die aktuell schrumpfende Mittelstandsgesellschaft wurde nie, wie von Soziologenseite behauptet, durch gleiche Interessen geprägt, sondern durch gemeinsame: Freiheit, Friede, Wohlstand. Daran dürfte sich, der feindlichen Aufteilung in Globalisierungsgewinner und -verlierer zum Trotz, nicht viel geändert haben. Nur der Freiheitswunsch scheint schwächer geworden zu sein.
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Wie schnell die Phrasen verschleißen: Es wäre an der Zeit, dass sich der Deutsche Bundestag des vor Jahren selbst verordneten Mottos »DER BEVÖLKERUNG« entledigte, um an seine Stelle die Gleichung »FREIHEIT IST UNTERWERFUNG« zu setzen. Jedenfalls liegt der Gedanke nahe, wenn schon ein Minister, ohne den Widerspruch des Hohen Hauses zu ernten, den falschen, von Friedrich Engels lancierten Hegel-Satz die eigenen Pläne flankierend in den Raum stellen darf: »Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit«. Immerhin glaubte Engels noch an den notwendigen Gang der Geschichte. Schwer zu sagen, woran die Heutigen glauben. Stattdessen klingt das selbstherrliche Die Notwendigkeit bin ich durch.
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Was heute in den ideologischen Erlebnishorizont einrückt, ist das immer wieder aufgeschobene Ende von ’68. Dieses ominöse ›68‹ des Westens, die in den sechziger und siebziger Jahren angestoßene Kulturrevolution (der das politische Revoluzzertum kaum mehr als ein Schaumkrönchen unter vielen aufsetzt) ist in ihr groteskes Endstadium eingetreten und frisst ihre Enkel. Gleichzeitig prallt es mit dem anders gestrickten ›68‹ des Ostens und seinem 89er Erbe zusammen, dessen Revitalisierung zum Verdruss der Trommler in vollem Gang ist. Das also ist die Zeit des zweiten Deliriums. Hoffentlich geht es nicht ganz so schlimm aus wie das erste.