Man könnte meinen, absurde Hassausbrüche gegen die Hochkultur eines Landes (in diesem Fall Russlands) gehörten in Europa definitiv der Vergangenheit an. Bei näherem Hinsehen relativiert sich das. Man mache sich da nichts vor: In gewissen Kreisen kursieren noch immer die Propagandabilder der ›feindlichen‹ Geistesgeschichte, die in den frühen Tagen des Ersten Weltkriegs entstanden und später den neueren Gegebenheiten angepasst werden mussten. Unterschwellig ist nichts beständiger als Ressentiments, die ihren Zweck bereits einmal erfüllten.

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Weniges liegt Intellektuellen näher als der Verrat (J. Benda). Auch er ist schließlich nur eine Weise, nach Aufmerksamkeit zu haschen und sich in den großen Strom einzuklinken. Und was verraten sie denn? Sich selbst? Das bleibt, wie immer man es dreht, doppelsinnig. Die gemeinsame Sache? Aber es gibt diese gemeinsame Sache nicht. Intellektuelle sind Einzelkämpfer, die darunter leiden, dass die Tröge so dicht beieinander stehen. Bleibt die Menschheit, die nie auf ihre Intellektuellen gewartet hat.

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Russophobie und Antisemitismus haben mehr miteinander zu tun, als ihren Glossisten bisher aufgefallen zu sein scheint.

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Ein Wort, geeignet, sich auf ewig einzuprägen: ›quasi-religiöser Hass‹. Man spricht es beiläufig, man lässt es fallen und geht am besten rasch weiter, weil man nicht sicher sein kann, was dann passiert. Jeder weiß, was er in praktischer Hass-Hinsicht von Religion zu halten hat: Sie ist die ewige Anstifterin, und wo sie sich dezent zurückhält, übernehmen andere Instanzen den Job. Aber Kultur und Religion sind nicht wirklich zu trennen, es gibt hier keine saubere Lösung.

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Nein, die Russen haben die Ukrainer nicht überfallen, wohl aber der russische Staat die Ukraine. Wie so oft verwechselt man die Konditionierung der Bevölkerung mit Anlass und ›Schuld‹. Doch auch das ist Konditionierung: Nur so entstehen kriegsbereite Armeen. Der Kern allen Kriegsgeschreis ist einfach – die Erzeugung der Bereitschaft zu sterben, weil es ein anderer befiehlt. Kein Wunder, dass unter denen, die mit dem Schreiben ihren Lebensunterhalt verdienen, ein solches Geschiebe herrscht. Die vorderen Posten überlässt man gerne dem illiteraten, dem gutgläubigen, dem patriotisch konditionierten Bevölkerungsteil.

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Medial befindet sich Westeuropa ›im Krieg‹. Informell hat man die bequeme Position der USA ›entre deux mers‹ übernommen und geht ›vorerst‹ nicht davon aus, dass der wirkliche Krieg auf die eigenen Länder ›übergreift‹ – nicht einmal auf die eigenen Armeen, die Gewehr bei Fuß stehen. Die einzige wirkliche Macht, die ›sich nass macht‹, ist Russland, also gerade das Land, das als Atommacht die Macht hätte, alle nass zu machen. Dieses Übergreifen der amerikanischen Publizistik auf europäische, vor allem deutsche Gehirne hätte etwas Erheiterndes, wenn es nicht so beklemmend wäre und das tägliche Krepieren an der Front in bloße Worthülsen verwandelte.

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›Eilfertig‹ ist ein Urteil, das feststeht, bevor es nach den Regeln einer fairen Prozessführung beschlossen wurde. Doch es hängt nicht am formellen Beschluss: Wie viele Urteile stehen schon vor Prozessbeginn fest, gleichgültig, nach welchen Regeln er geführt wird, wie viele stecken in den Köpfen der Beteiligten, um nie mehr herauszugehen, wie viele schließlich triumphieren bloß, weil es Schießbudenfiguren gibt, die umfallen, wenn ein Zufallstreffer sie berührt?

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Das Land, das Russland überlebt, muss noch erfunden werden.

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Russlands Achillesferse ist die Demographie. Gerade sie sollte es an die Seite der Westeuropäer bringen. Allerdings hat es, anders als diese, beschlossen, das Problem sehenden Auges anzugehen. Dieses sehende Auge ist den restlichen Europäern – mit ein paar Ausnahmen – ein Ärgernis: Sie würden es gern ausreißen. Im Grunde hängt das Schicksal Europas an der Frage, wer mehr sieht, genauer: wer mehr vom Gesehenen zulässt.

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Die Ukraine zählt zu den gepeinigten Ländern des Globus. Dass sie es ohne Not dahin gebracht hat, stellt ihrer Führung kein gutes Zeugnis aus. Sie hätte den Osten ernst nehmen müssen. Das gilt jetzt für den Westen insgesamt.

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Seltsame Erfolgsstrategie, bei der das eigene Land jeden Tag ein Stück schrumpft (gilt nicht nur in geographischer Hinsicht).

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Ein Land, das von seinen Eliten geplündert wird, wird immer zwei Nationalismen pflegen: einen gepflegten und einen ungepflegten. Der eine dient dazu, die internationale Gemeinschaft, der andere, das Volk bei der Stange zu halten. Die Deutschen, denen beide Wege versperrt wurden, sind auf den Ausweg verfallen, sich je nach Großwetterlage für eine Ersatznation zu erwärmen. Jetzt reden sie von der Ukraine, wie sie von Deutschland niemals zu reden wagen würden – sobald der Wind sich dreht, sind die tiefsten Überzeugungen zerstoben und es herrscht die Nüchternheit nach dem Rausch.

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Ein Hindu-Vertreter im fernen Nevada ermahnt den sächsischen Ministerpräsidenten, für die Absetzung der Dresdner ›Bayadère‹ zu sorgen und den verantwortlichen Direktoren einen Kursus in interkultureller Sensibilität zu verpassen. Man könnte diesen Satz so stehen lassen, enthielte die Begründung nicht eine solide Aufzählung praktisch aller Kitschelemente, die Kino- wie Bühnenkultur around the world zum Publikumsliebling werden ließen: patronizing flawed mishmash of orientalist stereotypes, dehumanizing cultural portrayal and misrepresentation, offensive and degrading elements, needless appropriation of cultural motifs, essentialism, shallow exoticism, caricaturing, etc. Vor allem im »etc.« steckt noch viel Sprengstoff. Wer ihn herausholte, könnte sich leicht selbst in die Luft sprengen.

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Wo es nichts zu erben gibt, gibt es keine Familie. Das ist der Kern aller Familienzerstörung. Ist sie weit genug fortgeschritten, kehren sich die Parameter um: Familie wärmt. Das ist der Kern aller Gesellschaftskritik.

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Wir wissen jetzt: Die Ausrufung einer Pandemie ist gleichbedeutend mit einer Kriegserklärung, bei der die Staaten sich automatisch in ausführende Organe verwandeln. Wer nach den Opfern der Operation fragt, wird mutatis mutandis zum Feind, der sie rechtfertigt. Unter Skeptikern: So macht Widersinn Sinn.

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Noch einmal: die komplexesten menschlichen Reaktionen lassen sich durch eine sorgfältige Positionsanalyse erklären. Erst der exponierte Mensch ist deutungsfähig.