So wie es biologische Unsicherheiten an den Rändern des Geschlechts gibt, gibt es solche an den Rändern des Denkens – Unsicherheitszonen, die sich nicht den Sachen verdanken, sondern der ›Sache‹ des Denkens selbst. Da noch niemand das Denken gesehen hat, fällt es leicht, das Vorhandensein solcher Zonen zu bestreiten. Eine der Primärsuggestionen des Denkens lautet, es sei beherrschbar (vor allem das der anderen). Überhaupt sind die einfältigen Gedanken die verbreitetsten. Ihre Aufgabe besteht darin zu verhindern, dass einer auf dumme Gedanken kommt.

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Das Denken geht überall an seine Ränder. Was man einen gesicherten Gedanken nennt, ist wenig mehr als ein Instrument der Gedankenlosigkeit. Das herrschende Denken, jeder weiß es, ist identisch mit der herrschenden Gedankenlosigkeit. Wo jeder den anderen nachplappert, herrscht jene Leichtigkeit des Weltgefühls, die dem Einzelnen vorgaukelt, in der besten aller Welten aufgeschlagen zu sein. Solche Gesellschaften wirken wie Zentrifugen. Alles Schwere setzt sich nach unten ab. Man muss naiv sein, um die Leute für naiv zu halten.

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Instabile Gedanken, Gedanken, die beim Versuch, sie festzuhalten, zerfallen, produziert das Denken zuhauf. Jeder kennt sie, jeder belächelt den Versuch, ihnen etwas abzugewinnen oder gar ein Geheimnis lüften zu wollen, das sich in ihnen meldet. Was macht das sichere Denken seiner Sache so sicher? Vielleicht ist das, was die Menschen Sicherheit nennen, nur eine Unterklasse der großen allgemeinen Unsicherheit, die bei näherem Hinsehen in viele kleine und kleinste Unsicherheiten zerfällt. Es liegt etwas Großspuriges im seiner Sache sicher sein, das die andere Seite verunsichern, das heißt einer nicht unterworfenen Sicherheit berauben will. Wer im Soll-Gelten nicht den Peitschenschlag vernimmt, der ist seiner Sache nie sicher gewesen. Das Unfixierbare zu fixieren bleibt Aufgabe der Kunst.

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›… und vergiss nicht‹: So beginnt alle Einschärfung. ›Du darf vergessen‹ ist die Kernbotschaft aller Entschärfung. Vergessen dürfen ist ein Privileg, für das im Ernstfall teuer bezahlt werden muss. Eine Geschäftsführung, die vergisst, wofür sie bestellt wurde, weckt die Reihen derer, die nie vergessen und nach dem Grundsatz verfahren: Genug ist nicht genug.

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Irgendwann knallt es zwischen den engsten Weggefährten. Tragisch wird es, wenn die einen inzwischen an der Macht sind und die anderen in die Illegalität drängen. Sobald Konkurrenz in Verfolgung ausartet, kann man sicher sein, dass irgendeine Form der Verwandtschaft zugrunde liegt. Je hartnäckiger die Verfolgung, desto sichtbarer treten die Ähnlichkeiten hervor … noch immer sind es die alten, aber auf eine neue Stufe gehoben – die Stufe der Hässlichkeit. An die Stelle des Gesichts tritt die Fratze und verlangt, als Schönheit gewürdigt zu werden.

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Gehen Demokraten erst aufeinander los, als sei der andere aus Satans Küche entsprungen, verkehrt sich der antitotalitäre Konsens, der sie einst zusammenbrachte, Zug um Zug in sein Gegenteil: ›totalitär‹ ist, kraft eines intellektuellen Kippeffekt, immer die andere Seite. Und, beiseite gesprochen: Es ist was dran. Es ist (fast) immer was dran. Das gibt denen, die gerade am Drücker sind, die berühmte freie Hand. Nein, sie haben nicht ihre Ideale verraten. Sie bekriegen nur den Feind aus den eigenen Reihen. Wo sonst sollte er sich versteckt haben? Gerade so gleiten die Sieger der Geschichte in den Exzess.

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Exzess: Phase, in der ein Projekt in den Kontrollverlust gleitet. Um welches Projekt mag es sich handeln? Jenes ›unvollendete Projekt der Moderne‹, mit dem der Herold des herrschaftsfreien Diskurses ein paar Jahrzehnte lang hausieren ging, bevor er mit einem Schwenk die ganze Konstruktion wieder einriss? Die Moderne war nie ein Projekt … sie war die Moderne, die ›neue Zeit‹ anstelle der Zeit der Alten, der Erben der antiken Welt, der Ruinenbaumeister, deren Hinterlassenschaft heute den Tourismus der Massen beflügelt.

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Eine unvollendete Zeit in der Zeit gibt es nicht, hat es nie gegeben, also auch keine unvollendete Neuzeit und kein ›Projekt‹, das diesen Namen verdiente. (Die Zeit selbst ist die Unvollendete.) Projekte gab es in dieser Zeit genug und die meisten führten schnurstracks oder auf Umwegen in den Ruin. Emanzipation ist ein schönes Wort, ein wichtiges Wort, bedeutende Dinge sind unter diesem Etikett geschehen, aber, kein Zweifel: der Kontrollverlust ist unübersehbar, man möge ihn mit Beiwörtern wie ›identitär‹ und dergleichen schmücken, wie man will. Sie brauchen den Feind, nicht um zu überleben, sondern um sich von ihm den Sinn zu borgen, der irgendwo zwischen den Generationen verlorenging.

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Kein Exzess ohne Zwillingskonkurrenz, ohne den schlimmen Zwilling, den Feind, der man selbst wäre, wäre er nicht der Feind. Wenn sich ›die Welt da draußen‹ erst auf das Böse verengt, den Widerpart der ins Stocken geratenen Schöpfung, dann erliegt der Lernprozess, elementare Voraussetzung dafür, dass ein Projekt gelingt. Zwischen dem noch immer möglichen Sieg und dem Gelingen klafft eine Deutungslücke, die von Schmeichlern und Schmarotzern gefüllt, das heißt verewigt wird – verewigt im Medium der Unwahrheit, als unablösbarer Firnis der Macht, die, in die Zeitentiefe zurücksinkend, immer Aufklärung auf den Plan ruft oder, sofern sie ausbleibt, das Gerücht.

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Es strebt sich schlecht nach etwas, in dessen sicherem Besitz man aufwuchs.

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Der ästhetische Blick auf die Wirklichkeit verrät mehr über die Wahrheit des Gesagten als die Logik. Hier liegt übrigens der einzig stichhaltige Grund dafür, dass Menschen mit beschränkter Kenntnis dessen, was vorgeht, sich ein Urteil über das Ganze erlauben können. Es klingt wie ein Witz, aber es hat seine Richtigkeit: ohne das Schönheitsempfinden der Massen ist Demokratie nicht zu machen. Wo sie die Schönheit (oder ihr Gegenteil) finden – das allerdings bleibt ihr Geheimnis, vor dem einem immer leise graut.

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Die karnevalistische Fratze trägt die stumpf gewordenen Züge der Macht. Dem entspricht eine Komik ohne Komik, ohne die das karnevalistische Geschehen keinen rechten Sinn ergibt, es sei denn, man hält jede Art von Komik per se für gerechtfertigt. Doch diese Komik ist anders. Die abgelegte Würde kann sich nicht aufgeben. Die Parodie beharrt eisern darauf, das Parodierte zu sein. Ähnliche Züge treten zutage, ist erst die Linke an der Macht. Zum ersten ist sie nicht mehr links, zum zweiten streckt sie jedem, dem’s auffällt, die Zunge heraus.

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Länder, in denen über zu vieles nicht geredet werden darf, bekommen insgesamt etwas Schreiendes.

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Man kann die Wahrheit zwar unterdrücken, aber nicht aus der Welt schaffen. Die Psychoanalyse hat aus diesem Gedanken ein Geschäftsmodell entwickelt, aber auch sie war nicht imstande, die Wahrheit über sich aus der Welt zu schaffen. Die Politik, ohnehin unter Täuschungsverdacht, hat in dieser Hinsicht ganz schlechte Karten. Ihr großer Vorteil besteht darin, dass sie das Spiel immer weiter treiben kann. »Einmal wird abgerechnet«, knirschen die Verlierer. »Wahltag ist Zahltag.« Wenn sie sich da mal nicht täuschen.

 

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