Wie entstehen Projekte? Durch Mimesis. So etwas will ich auch haben. Man kann Mimesis als ›blindes Lernen‹ bezeichnen, als Lernen durch Nachahmung, also als Prozess, in dem der eigentliche Vorgang des Lernens abgeblendet bleibt. In jedem Projekt gibt es so etwas wie die Lilienthal-Intuition: Fliegen wie ein Vogel? Also eifre ihm nach! Es ist der Eifer, der den planenden Menschen von seinem Vorbild unterscheidet und zwischen beiden ein inniges Verhältnis stiftet. Der Vogel kann fliegen, der Mensch nicht. Wenn der Unterschied im Können liegt, dann liegt im Können die Möglichkeit, ihn aufzuheben: Der Vogel kann fliegen, der Mensch kann alles. Oder doch fast alles, aber der verbleibende Rest entzieht sich seinen gierigen Blicken. Über ihn nachzudenken wäre – jedenfalls in der Phase des Aufbruchs – kontraproduktiv.
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Blinde und sehende Mimesis: Wo liegt der Unterschied? Blinde Mimesis sieht das Objekt und will es haben, ohne Gedanken daran, wem es gehören könnte. Der Vogel fliegt, also will ich fliegen. Die natürliche Form dieser Art von Aneignung ist der Raub: Ich eigne mir seine Flugeigenschaften an. Die Eigenschaft des anderen betrachte ich als eine Art Objekt, das den Vorzug besitzt, dass ich es mir nehmen kann, ohne ihm etwas wegzunehmen. Ganz stimmt das nicht, weil ich ihm damit den Luftraum streitig mache – ›Vögel sind Wesen, die fliegen, Wesen, die fliegen, nennen wir Vögel.‹ Aber das kommt später. Ich positioniere mich nicht als Feind, sondern – vorderhand unabsichtlich – als Konkurrent. Es liegt mir nicht im Sinn, ihn zu vertreiben. Ich will fliegen wie er, das ist wahr. Aber vorerst will ich nur fliegen können. Der Fokus liegt auf dem Können, nicht auf der Konkurrenz. Der Himmel ist für alle da, darum mache ich mir jetzt keine Sorgen. Sehende Mimesis macht sich da nichts vor: Von Anfang an tritt sie als Konkurrenz auf. Was der andere hat, gerade das will ich haben. Ist es sein Luftraum, so soll es meiner werden. Dafür braucht es Berechnung.
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René Girard, der im Mechanismus des ›versöhnenden Opfers‹ die anthropologische Grundlage der Kultur zu sehen lehrte, konnte oder durfte nicht sauber herausarbeiten, dass er damit die Funktionsweise aller Kultur beschrieb oder keiner. Das Erschrecken über das verhaltensbiologische Muster, das er anhand der Menschheitsmythen herausarbeitete, war groß genug, um die erlösungstheologische Volte gleich mitzuliefern: Ein einziger Mensch, dem es gelang, den archaischen Vorgang zu durchbrechen, der aus einer Clique von Mördern eine Gemeinschaft formt, in der Ordnung herrscht, sprengt das natürliche Universum, in dem der Mensch als eine Tiergattung unter anderen ihr gruppenspezifisches Verhalten auslebt. Für ihn konnte dies nur der Jesus der Evangelien sein, dessen wahre Botschaft unter dem Schutt der theologischen ›Reiche‹ verborgen lag. Dass er damit implizit zur doppelten Verstandestheorie Freuds zurückkehrte – Ratio als Rationalisierung und Ichwerdung –, blieb im Zeichen der verblassenden Psychoanalyse weitgehend unerörtert. Überhaupt scheint das öffentliche Unbehagen angesichts der Perspektiven, die sich hier auftun, zu überwiegen. Heute ist Girards Theorie ein toter Hund. Jedenfalls scheint es so. Doch unter der Decke ist sie quicklebendig.
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Ist die ›natürliche‹ Natur des Menschen nichts weiter als ein Bann, der durch die Kraft des Geistes zu brechen wäre? Ist die menschliche Gemeinschaft, zu biologischem Gruppenverhalten verdammt, demnach als Schuldgemeinschaft zu begreifen? Wer aufmerksam die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre beobachtet hat, der greift gern zu solchen Vorstellungen. Dabei ist ein Antagonismus nicht aus ihnen zu entfernen. Ein Bann kann gebrochen werden und gleichzeitig fortbestehen, ein Mechanismus, an dem ein Rädchen entfernt wurde, ist außer Funktion. Die freudianische Triebdefinition, die sich mit der allgemeinen Disposition zufriedengibt, baut eine verbale Distanz zum Instinkt auf, die versinkt, sobald das menschliche Gruppenverhalten in den Blick gerät. Anders als der Einzelne verfügt die Gruppe nicht über die Freiheit der Deliberation, wie jeder bestätigen kann, der einmal einer Gruppensitzung beigewohnt hat. Das ›Konzept‹ der Kollektivschuld ist ein Machtmittel erster Ordnung. Auch die Gruppe kann sich opfern – im Wahn, damit das Problem aus der Welt zu schaffen, das durch ihr Schuldsein entstanden ist. Das Opfer kann sich gewaltsam oder schleichend, gleichsam hinter dem Rücken der Akteure vollziehen, da auch die abzuarbeitende Schuld eine Schuld im Rücken des Einzelnen ist, der sich als Einzelner einer spezifischen oder keiner Schuld bewusst ist, während er sich zur Gruppenschuld verhalten muss, ohne sie realiter zu teilen.
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Die Theorie des versöhnenden Opfers sieht vor, dass der Kampf der feindlichen Zwillinge unumkehrbar in die Opferselektion und schließlich in den Ritualmord mündet, aus dem die Einmütigkeit des Kollektivs mit derselben Pünktlichkeit neu ersteht, mit der jeden Morgen die Sonne aufs Neue aufgeht. Der Terminus ›Mechanismus‹ steht für die quasi-newtonsche Zwangsläufigkeit des Geschehens. Im zerfallenden Kollektiv, so soll man das wohl verstehen, wirkt die biologische Triebstruktur ungebrochen, da kopflos, und greift ihre Opfer blind. Das mag den zusammengelaufenen Straßenmob zutreffend charakterisieren, der nach Lynchjustiz schreit. Aber beschreibt es auch die Realität einer hoch differenzierten Gesellschaft, welcher der Gemeinsinn abhanden gekommen ist? Schon diese Charakterisierung wirft Fragen auf. Eine Gesellschaft der Teilnahmslosen ist weitgehend Projektion. Genauer gesagt: Sie ist eine Lieblingsvorstellung des intellektuellen Mobs, der ohne Feindbild nicht auskommt, um sich überlegen zu fühlen. Viel eher explodiert der Gemeinsinn in diesem Mob selbst. Er ist bereits unterwegs, den Teil der Gesellschaft zu opfern, der sich, vielleicht nur aus Gründen der Selbsterhaltung, vielleicht aus einem realistischeren Verständnis der menschlichen Dinge heraus, seinen ideologischen Zielvorstellungen widersetzt.
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Gesellschaftliche Kämpfe sind Geltungskämpfe. Das heißt, sie sind ohne dazwischengeschaltete Ratio nicht denkbar. Entweder gelingt es also, die Theorie des versöhnenden Opfers in eine Bewusstseinstheorie zu überführen, oder sie bleibt die Beschreibung einer unnennbaren Barbarei, an die sich der überlebende Einzelne nur in Trauma-Sitzungen zu erinnern vermag. Gesellschaftliche Freund-Feind-Verhältnisse entstehen nicht im spontanen Griff nach den Waffen, sondern im Kopf, soll heißen, in einer Region des Bewusstseins, die im Moment der Krise anspringt und sich der Ratio zu ihren Zwecken bedient. Das erinnert entfernt an die doppelte Ratio der Psychoanalyse. Allerdings gibt hier nicht der versteckte Trieb, sondern das offene Wertebewusstsein den Takt vor. Anders als in der Schein-Friedensformel ›We agree to disagree‹ muss es hier heißen: We disagree to agree – je weniger uns trennt, desto weniger kommen wir zusammen. Am Ende bleibt die nackte Identität als das absolut Trennende übrig. Die Vorstellung ist zwar abstrakt, aber hilfreich. Was sonst an Trennendem bleibt, wird auf jeder Stufe der Eskalation beliebiger.
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Was ›gilt‹ überhaupt in einer zerfallenden, von Zwillingsfeindschaften durchzogenen Gesellschaft? Viel und wenig zugleich. Viel, wenn man auf das rhetorische Arsenal der Parteien, wenig, wenn man auf Gemeinsamkeit achtet. Dieses Wenige existiert in der Regel nur, solange es in der Auseinandersetzung keine Beachtung erfährt. Was man die ›halbierte‹ Vernunft genannt hat, die technologische Rationalität, steuert die Apparate im Hintergrund und sorgt dafür, dass ›nicht alles zusammenfällt‹. Im Vordergrund hingegen gibt sie die Rolle der Bedrängten, deren jederzeit möglicher Ausfall das Ende bedeute – finis Germaniae vs. finis mundi. Ihr gegenüber reklamiert die ›volle‹ Vernunft der Wissensgläubigen ein essentielles Wissen um den Missstand der Dinge – Ursachen, Risiken, Remedur –, das nicht mit sich handeln lässt. Hinzu kommen die partiellen Vernunft-Attitüden der verschiedenen Opfergruppen, die den eigenen Machtgewinn als Allheilmittel für die Gebrechen der Gesellschaft preisen. Sie alle reklamieren Geltung für sich und ihre Aussagen – was sonst? – und lehnen rigoros die entsprechenden Ansprüche der Gegenseite ab. Geltungsanspruch steht gegen Geltungsanspruch – an sich nichts Neues, nur sein Herabsinken auf eine bloße Formalie lässt für die nahende Zukunft nichts Gutes erwarten.