Die sich am meisten über den Gesinnungswahn echauffieren, praktizieren ihn selber. Sie fallen übereinander her wie die Katzen.

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Gesinnung, Haltung, Moral: von Kollektiven einkassierte Begriffe, bei denen es schwerfällt, den persönlichen Sinn zu bewahren, ohne der Narrenwelt Tribut zu entrichten. Auf ihn, den Tribut, ist alles ausgerichtet: Du sollst nichts besitzen, ohne dafür zu zahlen, schon gar nicht Grundsätze. Am besten zahlst du mit deinem Namen: Du sollst dich deiner schämen.

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Scham: der weiße Elefant im Raum der Massenkommunikation.

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Scham, nicht Neugier bestimmt die Auswahl der täglichen Lektüren. Verbotene Neugier ist schamlos (Informationsüberfluss vorausgesetzt).

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Jede grenzüberschreitende Aktivität ruft unwillkürlich die Empfindung eines Verbotenen auf. Das fragt weder nach dem Willen noch nach dem Verstand des Täters. Es ist die bevorzugte Spielwiese für Manipulationen.

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Man stigmatisiert nicht Gedanken, sondern Quellen. Woher hast du das? Die Frage steht dem Gedankenkontrolleur mit glühender Kohle ins Gesicht geschrieben.

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In der Tat: Woher hast du das? Aus dir selbst? Das wäre der größte anzunehmende Unfall. So weit wollen wir doch nicht gehen, oder? Außerdem führt es zu nichts.

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Kontaktschuld, Schamschuld. Das Grundmotiv aller dystopischen Romane. »Adam, warum verbirgst du dich?« Nun, er hat Schande über sich gebracht, der Gute. Wer einmal mit der Falschen pennt…

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Unter den verschärften Bedingungen der totalen Mediengesellschaft genügt es, zusammengerückt zu werden. Verbal, nonverbal, scheißegal – es ist nie mehr gutzumachen.

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Bild, Schuss, Treffer: Was Erkennungssoftware recht ist, das ist den Verbreitungsmedien billig und der private Konsument zögert nicht, es ihnen gleich zu tun. Unter den Formen des Bescheidwissens gilt das Gesehenhaben als die überzeugendste. Man hat immer schon gesehen und die Bilder zirkulieren gemäß dem Gesetz der Psyche.

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»Der Andere, der meine Scham implodieren lässt – was soll er anderes sein als ein Träger des Bösen? Gestern noch schien er mir harmlos zu sein, ein Objekt der Fürsorge, ein Beweis meiner Offenheit. Heute weiß ich Bescheid. Er soll zahlen – für meine Schande und überhaupt.« So spricht der Getroffene, der nicht weiß, wie ihm geschieht.

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Zwei Arten von Zusammengerückten: Die einen juckt es wie Krätze, die anderen wie Verheißung. Die einen wollen den Anderen loswerden, um jeden Preis, wenn es sein muss, die anderen beäugen ihn wie ein gefährliches Wildtier, dessen Kraft und Unabhängigkeit man bewundert. Die einen wollen nicht ausbrechen, die anderen können es nicht.

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Fein heraus sind die Ausbrecher, sie lachen über jeden Verdacht, denn sie wissen. Sie allein befinden sich mit den Denunzianten auf Augenhöhe. Doch es nützt ihnen nichts, da diese bloß Augen im Kopf haben um zu stieren.

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Schameure: Vertreter des Juste Milieu der Schamgesellschaft. Täglich ein paar Takte auf dem Klavier der Scham geklimpert, so kommt man durchs Jahr und durchs Leben.

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Scham-Pandemien orientieren sich an kulturellen Grenzen. Wechselt die Schamkultur, wechselt auch der Erreger.

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Die Leute halten Scham für menschlich. Dabei ist sie tierisch. Man merkt es daran, dass der tierische Anblick keinerlei Scham erregt. Es ist das Tier im Menschen, das sich in fremder Umgebung unwohl fühlt.

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Nichts lässt sich leichter manipulieren als Scham. Sie ist ein soziales Verhängnis.

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Scham: das Gegenteil von Verantwortung.

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Verhängte Scham: eine Form des Impfbetrugs. ›Nie wieder‹, heult das Bewusstsein und trotzig beharrt der Eigensinn: ›Wirkt doch.‹

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Scham ist intrinsische Gewalt, sie schlägt dort zu, wo äußere Gewalt machtlos wird.

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Man bringt keine Schande über sich, ohne sie auch über die Gemeinschaft zu bringen. Überall dort, wo Gesellschaft zur Gemeinschaft tendiert, erinnert sie sich des schändlichen Treibens in ihrem Inneren und schwört Remedur.

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Deine Schande, meine Schande: Den Schändlichen darf man nicht gehen lassen, man muss ihn entfernen. Nur so bleibt nichts an mir hängen (hofft der Mensch der Menge).

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Man kann ganzen Gesellschaften Scham verordnen, aber man kann den Einzelnen nicht zwingen, Scham zu empfinden. Die Scham des Einzelnen darüber, die vorgeschriebene Scham nicht zu empfinden, ist das Paradestück aller gesellschaftlichen Nötigung.

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Auf der Verquickung von Scham und Schuld beruht die Sklaverei der Freien. Wo die Schuld nicht hinreicht, erhebt die Scham ihre Stimme und lügt: ›Du bist schuld.‹

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Klima-Scham: »Du bist schuld, du weißt bloß nicht wie. Woran bist du schuld? Am Klima? Schämst du dich nicht?«

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Öffentliche Zurschaustellung von Nacktheit bedeutet Stress. Warum setzen sich Menschen dem aus? Weil die Lust den Stress überwiegt? Welch ein Unsinn. Das Passieren der Scham als rite de passage der ›aufgeklärten‹ Gesellschaft markiert den Menschen, es verpasst ihm ein Gruppenbewusstsein, es hinterlässt ein Brandzeichen. So erschafft man Krieger und Sklaven.

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Wer sich dem Schamzwang nicht beugt, erlebt die ersten Grade der Freiheit. Der Appell an die Scham der Ungeimpften hat der Aufklärung Bahn gebrochen.

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»Verlass deine Lebensweise! Falls nicht, rechne mit Konsequenzen!« Da beugt der Beschämte das Haupt: Er wäre so gerne noch geblieben.

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Man kann die Scham nicht zum Verschwinden bringen. Aber gelegentlich springt ihr Richtungssinn um. Was gestern noch schamverhangen war, kann heute ein Tummelplatz positiver Empfindungen sein. Intimität schlägt Tabu.

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Eine Lektüre ist nie ganz tabu. Es bleibt die Lockung, es bleibt die Möglichkeit des Umschlags. Danach ist kein Halten mehr: Das Neue entfaltet seine verzehrende Gewalt. Im Grunde gilt das für jeden Gedanken.

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Hinter den großen Gefühlen lauert die Scham, ihrer nicht fähig zu sein. Sie wirkt wie ein Projektor, bereit, jedes Gefühl zu vergrößern, bis der Mensch vor sich selbst erschauert.