Natürlich beginnt Kultur dort, wo konserviert wird: Herdstellen, Sprüche, Gesänge, Gebräuche, Gebäude, Institutionen, Gemälde, Statuen, Fetischobjekte, Einstellungen… Insofern ist Kultur von Haus aus konservativ. Wobei zu den Einstellungen auch die verschiedenen Grade der Offenheit für das Neue und die Lust auf Neues gehören: Wo diese gegeben ist, kann man ohne Widerspruch von progressiven Kulturen reden. Kulturkonservatismus dagegen ist eine andere Sache. Es ist ein Konservatismus, der sich der Topoi der Kultur (und der Kulturkritik) bedient, um sein eigenes konservatives Anliegen vorzubringen, also eben kein politischer oder ökonomischer oder lebensweltlicher – wobei im letzten Punkt Abstriche erforderlich sind, weil Kulturkritik oft als Kritik der Lebenswelt auftritt und die Kultur für ihren Verfall verantwortlich macht oder als Remedium gegen ihn aufbietet. Wo eine Kultur in Bausch und Bogen für den falschen Zustand des Zusammenlebens herhalten muss, ist der ›Kulturmarxismus‹ in der Regel nicht weit. Doch natürlich lassen sich beliebige Stadien des Kulturverfalls ebenso gut für konservative Zwecke instrumentalisieren. Wobei als Faustregel gelten dürfte: Je theorielastiger die Kritik, desto größer die konservativen Einlagerungen und desto giftiger ihre ausschließlich lebensweltlich orientierten Widersacher.

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Dieser originäre Hass auf die Kultur, den man in den Leserkommentaren der Medien ebenso antrifft wie gelegentlich auf der Straße, vor allem dort, wo er sich mit einem eher unbedarften progressiven Bewusstsein vermischen darf, ist eine rätselhafte Größe, die sich nicht einfach mit dem Hinweis auf den autoritären Charakter und Ähnliches auflösen lässt. Eine Komponente ist sicher die spontane Abneigung vieler Menschen gegen Äußerungen einer höheren Intelligenz: Sie verstehen nicht richtig und fühlen sich dadurch sozial zurückgesetzt. Doch Kultur ist nicht durchgehend mit Intelligenz gleichzusetzen und was die einen als Schönheit bewundern, weckt bei anderen die Zerstörungswut. Prägnante Beispiele dafür liefert die Graffiti-›Kultur‹ der westlichen Städte: Auf jede hässliche Fassade, die durch Graffiti, wenn nicht verschönert, so doch dem Leben zurückgegeben wird, kommt ein ansehnliches Objekt öffentlicher Aufmerksamkeit, das auf diese Weise verschandelt und verhässlicht wird. Dabei gibt es Städte wie z.B. Berlin, in denen der Aspekt der Verhässlichung eindeutig überwiegt, während in anderen, oft südlicheren Kommunen in schmuddeliger Umgebung Kunstwerke entstehen, die nicht nur unter Kennern als bewahrenswert gelten. Selbstverständlich trifft auch Graffiti-Künstler wie -Schmierer der geballte Hass der kulturfernen Klientel, soweit sie nicht bereits in Gleichgültigkeit gegenüber den ästhetischen Qualitäten ihrer Umgebung versunken ist.

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Sobald sich der Hass auf die sogenannten Sitten und Gebräuche bezieht, wird auch die Stoßrichtung klarer: Es sind die Eigentümlichkeiten der Anderen, die neben der Neugier Abneigung und Aggression auf sich ziehen. Man ist befremdet und lehnt ab. Ohne ein elementares Gefahrenbewusstsein ist das wohl kaum erklärlich: der Fremde wird durch seine abweichenden Manieren kenntlich, er enttarnt sich sozusagen und provoziert dadurch seine Isolation. Es sind nie die Gebräuche an sich, die ganz schnell übernommen werden können, z.B. als kurzfristige Moden, ist erst die Gefahr gebannt oder als Pseudogefährdung ad acta gelegt. Ein solches Verhalten ist nicht per se konservativ, es ist präventiv, auch wenn die Weltzivilisation es weitgehend dysfunktional hat werden lassen – ein ärgerliches Anhängsel unserer Stammesvergangenheit, das sich praktisch auf jedem Pausenhof erneuert. Schon eher konservativ zu nennen ist die Verteidigung der eigenen Sitten und Gebräuche dort, wo sie unter Druck geraten, sei es durch zivilisatorische Angebote, sei es durch rohe Verunglimpfung oder Zwang. Hass, der dabei entsteht, kann sehr versteckte, aber auch sehr irrationale Züge annehmen, deren Herkunft sich nur schwer oder gar nicht entschlüsseln lässt. Er kann sogar mit Bewunderung der anderen Seite einhergehen – ein Fall, der gar nicht so selten vorkommt, z.B. wenn der Besiegte mit seinem Paria-Dasein im Kreise der Sieger hadert und liebend gern die Seite wechseln würde. Kollektiver Selbsthass, um es auf einen verkürzten Nenner zu bringen, ist ein konservatives Phänomen.

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