Die beliebteste Tätigkeit der Achtundsechziger hieß: Schreiben über die Achtundsechziger. Das bleibt insofern bemerkenswert, als die Selbstikonisierung einer Generation zu den konservativen Tätigkeiten gezählt werden muss. Diese Generation hat so viele Lernprozesse durchlaufen, dass am Rande des Grabes ihre Allzuständigkeit außer Frage steht. Stets war ihr Markenzeichen das Ick bün schon da aller, die das Heft nicht abgeben können. ›’68 heute‹ steht über dem Eingang zu einem Trödelladen, aus dem jeder sich gerade die Stücke mitnimmt, die er gebrauchen kann. Die gefragtesten Objekte werden hintenherum nachproduziert – mit charakteristischen Änderungen, versteht sich, schließlich geht auch Tradition mit der Zeit, um nicht komisch zu wirken. 

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So ist auch diese Bewegung zur Religion geworden, mit Heiligen, Märtyrern, Renegaten und einem Katalog an Heilsversprechen, in dem leicht durcheinanderkommen kann, wer allzu blauäugig glaubt. Wo es Heilige gibt, da muss es das Heilige geben, den mysteriösen Glutkern aller Religion, um den die Frömmigkeit kreist, solange sie nicht im Ritual erkaltet ist. Dieses Corpus mysticum ist die Gemeinschaft selbst –: die Gemeinschaft der Gläubigen, könnte man annehmen, aber wie bei jeder säkularen Sekte liegen auch in diesem Fall die Dinge nicht so einfach. Jemand kann glauben und dennoch fallen. Der Glaube an die große Veränderung hat etwas Volatiles, er ändert seine Inhalte über Nacht und es empfiehlt sich nicht, den Zeitpunkt zu verschlafen. Das Gespräch der Linken (das Wort nicht im parteipolitischen Sinn genommen) mit sich selbst ist eine Folge von Bann- und sonstigen Flüchen, so dass sich, mit leicht paradoxem Zungenschlag, behaupten ließe, der charakteristische Linke sei Renegat. Renegat ist der ernüchterte Mensch, der seine Ernüchterung nicht für sich behalten kann: Er muss Zeugnis davon ablegen, dass er den Rausch für etwas Verderbliches hält, und die restliche Menschheit davor warnen. Nichts befremdet die Nüchternen beider Seiten mehr als so ein Ernüchterter. 

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Ein großes Thema: ’68 als Sündenbock. Es gab eine Zeit (ich spreche vom alten Westen der Republik), da hatte einer nicht gelebt, falls er nicht just aus diesem Stall gekrabbelt kam. All die ungelebt gebliebenen, weil im voraus für ungültig erklärten Leben, die da zusammenkamen, vereinte der stumme Schrei nach Rache. Rache an wem? Bei einigen unvollendeten Alten ist das noch immer die Frage. Dabei haben die Verhältnisse, die berühmten Verhältnisse, sich längst an den Achtundsechzigern gerächt. Nichts mutet die Gralshüter der Vergangenheit fremder an als der eigene, sich jetzt in Amt und Würden befindende Nachwuchs. Merkwürdig ist das, weil er sich längst in jener Zukunft befinden müsste, in die sie ›Wege eröffnen‹ wollten. In der Geschichte der ausgebliebenen Zukünfte beansprucht ’68 einen Logenplatz – klein, aber fein, mit einem 360-Grad-Schwenk hat man alle Optionen im Blick. Wer hätte je bedacht, dass die Superreichen auch nur Achtundsechziger-Zöglinge sein könnten? Und doch ist es … wahr. 

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