Unsere technikgetriebene Wissenschaft. Wenn das James-Webb-Teleskop ›impossibly early, impossibly massive galaxies‹ sichtbar werden lässt, die der Standardtheorie nach nicht vorhanden sein dürften (und damit Annahmen über die Entstehung des Kosmos über den Haufen wirft, die es gerade erst ins allgemeine kulturelle Bewusstsein geschafft haben), dann ertönt ein Gewisper: »Die Entdeckung ist der Irrtum«. Aber eine starke Stimme sagt: »Die Theorie muss sich ändern«. Wenn empirische Klimaforschung ambitionierte Beobachtungen beibringt, die sich prima vista nicht mit den aktuellen Standard-Klimamodellen vertragen, dann mutiert das Gewisper zum Aufschrei und die starke Stimme wird zur Stimme von Außenseitern. Was sagt das? Die Gleichung Wissenschaft = Wissenschaft geht nicht auf. 

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Es gibt Wissenschaften, die von geborgtem Prestige leben. Das muss man wissen, bevor man sich ihnen mit Haut und Haaren ergibt. Es ist nur von außen schwer zu begreifen. Noch schwerer allerdings von innen, wo alles seinen geregelten Gang geht. Soll heißen, das Begreifen und das Verstehen gehen getrennte Wege. Faustregel für Abhängige: Der Prestigegeber letzter Hand aller Wissenschaft ist die Physik. Wer behauptet, physikalische Einwände seien irrelevanter Nonsens, da ›fachfremd‹, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Scharlatan. Was nicht ausschließt, dass auch Physiker irren. 

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In epochalen Wissenschaftsfehden mutiert alles zum Glauben, selbst die Überzeugung, die Gläubigen seien immer die anderen und man selbst sei ein Vertreter des ›gesicherten Wissens‹. Das wirkt besonders grotesk, wenn das gesicherte Wissen das Übergewicht des sozialen Faktors in allem Wissen behauptet. Es ist ein Irrglaube zu denken, Glaube an sich sei irrational und Wissen sein rationaler Gegenpart. Beide erreichen unterschiedliche Grade an Sachhaltigkeit, vor allem dann, wenn sie, wie im Regelfall, einander durchdringen. Die Idee, das menschliche Bewusstsein sei eine Schichttorte, in welcher der Glaube unten, das Wissen obenauf zu liegen kommt, ist Kaffeeklatsch. 

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Dass sich nach dem Durchgang durch den Dschungel der Weltanschauungen die Frage des Glaubens mit neuer Heftigkeit erhebt, liegt weniger an den existierenden Glaubensangeboten als an der komplexen Struktur des Glaubens selbst, der sich durch alle menschlichen Regungen zieht. Jeder Glaube ist Wörterglaube, jeder Wortgebrauch setzt die Mechanik des Glaubens in Gang, jeder existierende Glaube zieht die Frage ›Was heißt glauben?‹ nach sich. Wer dann verstummt, will sich in seinem Glauben nicht beirren lassen, der Glaube hat für ihn entschieden und er hat diese Entscheidung akzeptiert. Glauben heißt ›für etwas stehen‹. Unverbrüchlich glauben heißt aus Entscheidungskonserven leben.

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Wer erlebt hat, wie Theorien die Annahme verweigert wurde, bloß weil sie zu komplex waren, der hat verstanden, dass es nicht bloß faule Wissenschaftler, sondern auch faule Wissenschaften gibt. Man sollte sie Aberwissenschaften nennen, in Analogie zum Aberglauben. Aberwissenschaften sind daran zu erkennen, dass sie das Aber nur an einer Stelle goutieren: als Rückkehr zum Gewohnten. Es gibt in den Wissenschaften einen Zwang zur Lehrbarkeit: Lehrbar ist, was der Intelligenz der Durchschnittstudenten erreichbar erscheint. Das variiert von Fach zu Fach beträchtlich. Modefächer, deren Nachwuchs zur Glaubensstärke tendiert, geraten dadurch in eine Abwärtsspirale, die nur gestoppt werden kann, wenn die Öffentlichkeit das Interesse an ihnen verliert.

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Nichts verräterischer als die Rede vom mühsam erworbenen Wissen, das die Gegenseite ›verschleudert‹ (oder in den Wind schlägt): Es steht ja gerade im Verdacht, kein Wissen zu sein, allenfalls eine falsche Hypothese. Wissenschaftler, die zu diesem Argument greifen, haben entweder ein Lebenswerk zu verteidigen oder die Gruppenloyalität hat sie ebenso überwältigt wie einen x-beliebigen Schüler, der eine Fehlhandlung seines Kumpels deckt. Es gibt aber noch einen dritten Fall und er ist der zwiespältigste von allen – der Fall der ›Koryphäe‹ auf der Suche nach einer Sache, für die sich zu leben und zu sterben lohnt. Endlich hat sie eine gefunden, sie ist angekommen in der Gemeinschaft der wahrhaft Strebenden, deren Programm in nichts weniger besteht als der Rettung der Welt, sie ist mit im Boot.

 

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