Was tun?

Das Geheimnis des ›Was sollen wir tun?‹ liegt im Wissen. Man muss wissen, was zu tun ist, und daran glauben. Wie kann man wissen, was zu tun ist? Indem jemand es einem sagt. Dieser Jemand muss keine Person sein. Die innere Stimme des Sokrates, der Appell des Gewissens, die Mahnung der Toten, der Aufschrei der Menge, das Brodeln der Mehrheit, die scharfe Sprache des Instinkts, der schneidende Weckruf des Gottes: Es schwirrt im Menschen von Stimmen, die allesamt wissen, was zu tun ist, so dass nur die Aufgabe der Entscheidung bleibt: Kopf oder Zahl.

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Man kann sich die Entscheidung als eine Art Endkampf zwischen zwei Stimmen denken, die alle anderen in den Hintergrund drängen und damit signalisieren, worum es wirklich geht. Aber das Bild geht in die Irre. Am Ende schweigen die Stimmen und lassen dem Ich den Vortritt – ich entscheide. Warum? Die Wissenschaft sagt: Weil ich schon entschieden habe, bevor die Alternative in mein Bewusstsein tritt. Die Trägheit des Bewusstseins erzeugt die Illusion der Willensfreiheit.

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Wenn das so stimmt, dann lautet die Antwort auf die Frage ›Was soll ich tun?‹: entschieden sein. Das klingt paradox, aber es spiegelt die Situation der Menge, die eine Entscheidung fällen muss: Sie fällt dem Entschiedenen zu. Sind mehrere von seiner Art anwesend, entscheidet die soziale Qualität der Auftritte. Die Frage ›Was sollen wir tun?‹ enthält ein Sprachspiel: Sie stellt die Situation her, in der die Menge entscheidet (oder auch nicht, falls sich kein Entschiedener meldet). Deshalb ist die Übersetzung der Aussage ›Ihr habt euch entschieden‹ in ›Jeder Einzelne von euch hat sich entschieden‹ schlicht falsch. Die Entscheidung der Menge ist ein Prozess, an dem der Einzelne beteiligt ist – nicht mehr, nicht weniger. Parteien sind Organe der Verantwortungslosigkeit. Sie können gewählt oder abgewählt, sie können abgestraft, aber nicht bestraft werden. Zur Frage der Schuld haben sie nichts zu sagen, es sei denn, sie schreiten zur Schuldfeststellung bei anderen: dem Gegner, dem ›Volk‹, den ›Umständen‹ oder auch nur dem Schicksal, hinter dem sich, wie man weiß, unklare Mächte verbergen.

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Die einmal gefällte Entscheidung ist bindend – jedenfalls bis zum nächsten Termin. Das kann der andere Tag oder ein Zeitpunkt in ferner Zukunft sein. Wichtig ist bloß der Abstand zwischen den Terminen. Entscheidungstermine müssen angesetzt werden, andernfalls fehlt die Autorität, die jeder Entscheidung innewohnt. Entscheidung und Geltung sind untrennbar miteinander verbunden. Eine Entscheidung, die keine Geltung erlangt, ist keine. Entscheidungen von kurzer Dauer können hohe und höchste Geltung erlangen, solche von langer Dauer können wirkungslos verpuffen, obwohl sie sich förmlich in Geltung befinden. Von der Macht gefällte Entscheidungen können bei Einsichtigen als verbrecherisch gelten und dennoch unverrückbar bestehen bleiben, das heißt gelten. Sie durchzusetzen ist dann Aufgabe der Polizei und einer machtgebeugten Justiz.

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Eine Justiz, die der Macht nach dem Munde redet (und entsprechend entscheidet), ist ein Unding, etwas, das zwar existiert, aber sich seiner Definition (mancher würde hier sagen: Aufgabe) verweigert. Aufgabe und Existenz der Justiz fallen ineins. Die Justiz ist da, um Recht zu sprechen und nicht zu beugen oder zu leugnen. In diesem besonderen Fall greift die Schuldlosigkeit der Menge nicht, obwohl es sich zweifellos um einen vielköpfigen Apparat zur Herstellung von Urteilen handelt. Die Verantwortung des Richters für das ergangene (oder verweigerte) Urteil ist absolut. Es gibt keinen Vorbehalt, in den er sich nachträglich flüchten kann. Wer Beruf und Karriere gleichsetzt, sollte den Richterberuf meiden. Der antike Spruch Tempora mutantur et nos mutamur in illis besitzt für ihn keine Gültigkeit. Man kann die richterliche Verantwortung durch Schöffengerichte mindern, aber das ist und bleibt ein Sonderfall, der daran erinnert, ein wie weites Feld Gerechtigkeit doch ist.

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Eine Person, welche die Entscheidung an sich zieht und damit persönliche Verantwortung für die Folgen übernimmt, kann, als befugter Entscheidungsträger, von den Folgen der Übernahme freigestellt werden, was nichts anderes heißt als dass der Justiz in diesem Fall die Hände gebunden sind. Aber das ändert nichts an der persönlichen Schuld. In diesem besonderen Fall werden viele Menschen schwankend und setzen – aus Bequemlichkeit oder Opportunismus – die Freistellung von Verfolgung mit Schuldlosigkeit gleich. Loyalität und Scheu vor der Macht treten an die Stelle des Rechtsbewusstseins, das kein exklusiver Besitz der Organe sein darf, wenn Recht gelten soll. Sobald sich die Decke des Schweigens über den Rechtsstaat legt, wird der Rechtsfrieden rasch zu einer Gestalt der Friedlosigkeit, denn unter der Decke brodelt es. Auch für das Rechtsbewusstsein des Einzelnen gilt: Es lässt sich nicht aus der Welt schaffen, durch Drohungen nicht und nicht durch Verheißungen. Es ist die Stimme, die, auf Dauer gesehen, immer durchdringt, es sei denn, alle sind tot und die Verantwortung für das Geschehene fällt auf die Nachwelt.

 

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