Abgebrochene Psychen

Pychologie und Moral handeln von allerlei seelischen Fehlentwicklungen, aber sie sparen den Fall der abgebrochenen Psyche aus. Es ist vielleicht auch weniger ein Fall als ein Konzept. Natürlich entwickelt sich eine abgebrochene Psyche weiter, wenngleich … anders. Da man nicht wissen kann, wie es ursprünglich weitergegangen wäre, vollzieht sich der Abbruch mehr oder weniger in einer Dunkelzone. Letztlich begnügen alle, die es angeht, sich damit, das Thema auf die Ebene individueller Lebensentscheidungen herunterzubrechen oder gleich das Schicksal zu bemühen, das dem Einzelnen gelegentlich übel mitspielt. Doch wo Entwicklung ist, da ist Abbruch möglich, und wo Abbruch möglich ist, da sollte diese Möglichkeit in Betracht gezogen werden.

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Um ein naheliegendes Beispiel zu nennen: eine auf Alterslosigkeit getrimmte, das Alter als eine eigene Lebensphase und -form negierende Gesellschaft spielt der Psyche des Einzelnen anders mit als eine, in der das Alter als feste Größe betrachtet wird, mit eigenen Aufgaben und Riten und einer eigenen Wertschätzung. Da dem alternden Menschen die Möglichkeit fehlt, nicht zu altern und einfach einen anderen Weg einzuschlagen, gleichgültig, was sein Arzt und die sieben Ratgeber ihm erzählen, geht zwar der biologisch unabänderliche Teil des Prozesses weiter, nicht aber der psychisch ergiebigere Teil, der einer entsprechenden kulturellen Stimulation bedürfte. Der Weg ist versperrt, die Psyche stagniert und entwickelt sich in der Stagnation weiter, die zwar auch Prozesscharakter besitzt, aber doch einen sehr speziellen.

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Es gibt einen anderen Fall von vergleichbarer Drastik, der mit vielleicht noch tiefergehenden Folgen einhergeht. In einer kinderfeindlichen Gesellschaft zählen Kinderkriegen und Kinderaufzucht nicht mehr, wie in aller bisherigen Menschheitsgeschichte, zu den selbstverständlichen Gegebenheiten des Lebens. Im Gegenteil: ein meinungsprägender Teil der Gesellschaft ist der Auffassung, es handle sich um eine entbehrliche und grosso modo schädliche Tätigkeit. Wenn zum Beispiel ein Drittel der gebärfähigen Bevölkerung dauerhaft aus dem Geschäft der Fortpflanzung ausgestiegen ist, dann lässt sich davon ausgehen, dass neben den vergeblich auf Nachwuchs Hoffenden und den aus Gründen der Persönlichkeit, der sexuellen Orientierung oder durch Lebenszufall kinderlos Gebliebenen ein beträchtlicher Menschenanteil übrigbleibt, der sich dem Druck der allgemeinen Kinderfeindlichkeit beugt und vielleicht sogar mit den üblichen ideologischen Begründungen als ihr Sprachrohr fungiert.

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Eltern wissen: Es gibt ein Leben vor der Elternschaft und es gibt ein Leben, das mit dem Stichwort ›Elterndasein‹ nur unzureichend umschrieben wird, nicht zuletzt deshalb, weil gerade die Komponente darin fehlt, die dieses Dasein grundiert. Mutter werden, Vater werden bedeutet nicht nur die Übernahme einer ›Aufgabe‹, sondern den Übertritt in ein neues seelisches Dasein, einen Entwicklungsschub der Psyche, der jenen ›anderen Menschen‹ hervorbringt, den es ohne das Ereignis nicht geben würde. Dabei hat die Rede vom ›anderen Menschen‹ in der Regel etwas Skeptisches – nicht hier, wo die Enttäuschung Ent-Täuschung ist, ein Abschied von der Illusion, die Person, die man vorher kannte, sei bereits der Mensch gewesen. Eine abgebrochene Psyche wäre also gerade eine, der dieser Übergang verweigert wurde, obwohl er in ihr angelegt war. Die Ursachen mögen differieren, das Ergebnis bleibt dasselbe.

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Wird das Übergewicht des Gesellschaftlichen so stark, dass die Kinderfeindlichkeit der Gesellschaft die individuelle Disposition in großer Zahl überspielt, dann geschieht etwas mit den Menschen. Anders als bei den Alten, bei denen man die Lösung ihres Problems vom Ableben erwartet, gilt das gesellschaftliche Leben selbst als Lösung. Es ist anzunehmen, dass die zur Bereichung umpropagierte Amputation als gesellschaftliche Triebkraft wirkt, auch wenn sie im Mix der unterschiedlichen Faktoren nicht oder kaum zu isolieren sein dürfte. Offensichtlicher ist das, ›was sie mit den Menschen macht‹. Sie schafft eine Selbstdistanz, die, anders als jede reflexive Distanz, vom durchschnittlichen Individuum nicht durchschaut, sondern großenteils erlitten wird. Die Skala ist riesig. Sie reicht von subtilen Substitutionsprozessen bis zum großen, durch nichts zu kompensierenden Unglücklichsein.

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Die Vermutung liegt nahe – und müsste durch Untersuchungen gestützt werden –, dass Kinderfeindlichkeit irgendwann zum Paradox der freien Geschlechterwahl drängt. Was liegt näher als der Wunsch, die Bürde des Geschlechts vollends abzuwerfen, wenn es sich nicht in der Kinderaufzucht realisiert? Die Bürde, wohlgemerkt, nicht die Freuden: ein Geschlecht aus Freuden, aus reiner Triebbefriedigung, um den Gedanken der Reinheit nicht zu kurz kommen zu lassen, ist per Vorstellung ein anderes als das der Vorfahren. Sie haben also in diesem Punkt keine Stimme, es sei denn, es handelt sich um jenen umsichtigen Elterntypus, der dem Kind das eigene Schicksal ersparen möchte und deshalb auf jedes Symptom von sexueller Alterität schielt, um ihm so rasch wie möglich Erfüllung zu verschaffen.

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Wie gesagt, beweisen lässt sich hier nichts, schon deshalb, weil das Instrument der Befragung in einem solchen Fall zur Gänze versagt. Denn diese Dinge werden vollständig über ideologische Rede geregelt, im Kampf der Ideologien, sprich: zu Dogmen geronnener Wissenschaft, wobei die Dogmatisierung idealiter an der Grenze zwischen innerwissenschaftlichem Diskurs und öffentlicher Rede Raum greift. Innerwissenschaftlich ergibt der radikale Konstruktivismus Sinn – er ist eine theoretisch legitime, wenngleich verkürzte Weise, den sprachlichen Aufbau der Welt zu verstehen –, während er in öffentlicher Rede und Praxis in offenbaren Un-Sinn abstürzt (wie der Unterschied zwischen dem Wort ›Stechmücke‹ und einer Stechmücke anschaulich belegt). Was die Herren der Diskurse nicht daran hindert, sich der dadurch geschaffenen Möglichkeiten nach Kräften zu bedienen, sobald erst einmal das rechtliche Umfeld bereitet ist.

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Doch vielleicht ist Kinderfeindlichkeit einfach das falsche Wort und es sollte besser von Kindermüdigkeit die Rede sein. Dann bekommt die Sache ein anderes Gesicht. Kinderfeindlich ist immer der Einzelne (der die ›Schuld daran‹ weit von sich schiebt), kindermüde ist die Gesellschaft im Ganzen, wenn sie sich, durch tausend Bedenklichkeiten gefesselt, nicht dazu aufraffen kann, der Kinderaufzucht so entgegenzukommen, dass sie ihren organischen Platz im Leben der Einzelnen einnehmen kann. Die erste dieser Bedenklichkeiten ist (wie die zweite, dritte etc.) ökonomischer Natur: Bei reduziertem Zufluss ist die Arbeitskraft des Einzelnen, vor allem der Frauen, zu kostbar, um sie für diesen Nebenzweck abzuziehen. Die nächste liegt, wie bekannt, im Konsum: Im Universum des Konsums wäre das Kinderkriegen die Alternative, eine Art Ausstieg auf Raten und daher gefährlich.

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Niemand beziffert den künstlichen Aufbläheffekt, der durch diese Komponenten entsteht. Stattdessen soll die Übervölkerung des Planeten den Menschen den Kinderverzicht als ökologische Maßnahme schmackhaft machen. Real daran sind die Populationszuwächse, die in anderen Weltregionen anfallen und die Furcht vor dem globalen Bedeutungsverlust der westlichen Sphäre nähren. Das klingt zwar widersinnig, aber es entspricht der Logik des politischen Kampfes. Die Politik steckt voller Gegenmaßnahmen, welche die Übel nähren, die sie bekämpfen sollen. Daran wäre also nichts Besonderes. Die Angst vor den Kindern der anderen als Treiber der eigenen Kinderlosigkeit: Dieses seit Jahrzehnten praktizierte, als ›Facharbeitermangel‹ bekannte Modell befriedigt mittlerweile so viele Bedürfnisse, dass der Mangel an Seele dagegen, falls überhaupt thematisiert, als mittelalterliches Relikt der öffentlichen Müllabfuhr anvertraut wird – viel Worte um nichts. Doch auch das Nichts ist eine Macht.

 

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