Zurück zur Aussage Die Politik steckt voller Gegenmaßnahmen, welche die Übel nähren, die sie bekämpfen sollen. Daran wäre also nichts Besonderes. Sie bedeutet nicht, dass das Normale zu bestimmten Zeiten nicht gehäuft auftritt. Es soll Zeiten geben, in denen es vollends überhandnimmt und damit eine neue Qualität gewinnt. Der Gründe dafür sind viele, aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ist das Phänomen der abgebrochenen Psyche daran beteiligt. Der Exzess (genauer: ›Excess‹) bedarf einer rigiden Bewirtschaftung des Wahrheitsdiskurses – seiner Zurückschneidung auf die allgegenwärtige Lüge: Mein ist die Wahrheit und jeder, der von ihr abweicht, ist böse. Wer so redet, denkt, fühlt, handelt, dem fehlt etwas, teils, weil es ihm von Natur, teils weil es ihm von der Gesellschaft verwehrt wurde. Im ersteren Fall ist die Rede von Psychopathen, im letzteren von abgebrochenen Psychen. Es gibt keinen Wahrheitsdiskurs ohne den ungebrochenen Wahrhaftigkeitssinn des Einzelnen, das lebendige Gefühl für die Wahrheit des Anderen (oder wie die Formeln lauten mögen). Anders als häufig behauptet bedeutet Schweigen an sich nicht Zustimmung. Es muss schon das Schweigen dessen sein, der nichts weiter zu sagen hätte, ließe man seiner Rede freien Lauf.

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Auf der Suche nach den Ursachen einer solchen Deformation der Massenpsyche wird man bei den Konstituentien von Öffentlichkeit fündig. Die Rede ist von der ›offiziellen Wahrheit‹. Wer scharf argumentiert, könnte behaupten, Öffentlichkeit existiere nur deshalb, weil eine offizielle Wahrheit existiert. Wer immer sich an der Öffentlichkeit beteiligt, äußert Meinungen, vorzugsweise die eigene, die sich zwar im Lauf der Zeit ändern kann, aber immer dieselbe geronnene Form der überzeugten Rede beibehält. Schnell stellt er allerdings fest, dass auf in die Öffentlichkeit getragene Meinungen unsichtbare Hindernisse warten, nahezu unbegreifliche Blockaden bisweilen, während auf der anderen Seite Magnetpole existieren, Zentren der Meinungsausgabe und -formierung, gegen deren sortierende Kraft praktisch nicht anzukommen ist, es sei denn, dem Einzelnen gelingt es, eine Meinungspartei um sich zu scharen und sich auf diese Weise offensiv am Spiel zu beteiligen. Das sind die endlosen Spiele der Meinungsmacht, und es wäre seltsam, beteiligte sich die formale Macht im Staate nicht an ihnen – verdeckt oder offen, indirekt oder per Verordnung, jedenfalls in der Absicht, dem eigenen Handeln einen Rückhalt im Denken der Bürger zu verschaffen.

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An sich wäre die Tatsache, dass Machthaber eine Meinung propagieren, um sich Autorität zu verschaffen, nichts Besonderes. Zur ›offiziellen Wahrheit‹ mutiert Meinung in dem Moment, in dem sie sanktionsbewehrt auftritt und Behörden mit der Aufgabe sie durchzusetzen befasst werden. Offiziell gewordene Wahrheit und Sanktionskult gehören zusammen, entsprechend die ›abweichende Meinung‹ und die Gefahr, dafür ›zur Rechenschaft gezogen‹ zu werden, auch wenn sie vorerst eher unbestimmt wirkt und in weiter Ferne zu liegen scheint. Spuren dieses Wirkzusammenhangs durchziehen selbst das liberalste Regime. Doch erst unter autoritären politischen Vorzeichen kann sich, fein abgestuft, seine volle Härte entfalten. Wer dann nicht widersteht oder zumindest bedeutungsvoll verstummt, wer sich der Autorität distanzlos anschließt, ohne die Nötigung weiter zu empfinden, wer nicht am falschen Wahrheitsanspruch wächst, von dem darf man mit Fug annehmen, dass auch er über eine abgebrochene Psyche verfügt – oder besser, dass sie über ihn verfügt. Ist ein solcher Zustand erst einmal üblich geworden, dann kann die aufgeklärteste Gesellschaft ins Unglück gleiten, einfach deshalb, weil die amputierten Massen den Widerstand nicht mehr aufzubauen wissen, der aus dem empfundenen Widerspruch kommt und sich in Widerworten konkretisiert.

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Schockhafte Veränderungen der Lebenswelt, mit Tempo durchgedrückt und zur Überhärte tendierend, so dass sie von der Bevölkerung als Willkürregime empfunden werden müssen, es sei denn, man schließt sich den ausgegebenen Parolen bedingungslos an, sind das klassische Mittel, solche Amputationen erfolgreich durchzuführen. Sie finden sich daher mit schöner Regelmäßigkeit im Übergang zu autoritären Regierungsformen und gelten als ›Umsetzung‹ der machiavellistischen Maxime, Grausamkeiten müssten am Anfang einer Regierungszeit begangen werden. Doch manchmal sind erst sie es, die, als Notmaßnahmen durchgewunken, den Appetit der herrschenden Kreise und ihrer Scharfmacher auf mehr stimulieren. Man muss nicht immer die Geschichte des alten Rom oder der italienischen Renaissance bemühen, die Moderne ist voll entsprechender Beispiele und es fragt sich gelegentlich, ob die Rede von historischen ›Menschentypen‹ sich nicht hin und wieder unwissentlich an solchen Effekten orientiert. Wie immer ist die Gegenwart die einzige Quelle fundierter Mutmaßung, wenn es darum geht, die Seele des Einzelnen zur Erkundung kollektiver Prozesse heranzuziehen – meist zum Unwillen derer, die überzeugt sind, die Logik geschichtlicher Prozesse besser zu kennen als ihr eigenes Inneres.

 

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