Gibt es eine konservative Wahrheit, gegen die nicht anzukommen ist, es sei denn mit den Mitteln der Lüge und der Verdrehung? Ja sicher, sagt der Konservative: die normative Kraft des Faktischen ist eine Macht, der sich niemand entziehen kann, es sei denn, er nimmt zu Fälschungen des Bewusstseins Zuflucht. Aber damit ist immer erst von der Macht die Rede, allenfalls von ihrer unauflöslichen Verbindung mit der Wahrheit. Wahr ist alles, dessen Anblick man sich nicht entziehen kann. Das kann ein Regenguss sein oder die Aufzeichnung einer mathematischen Formel. Die Sinne, allen voran der Gesichtssinn, üben eine Macht über das Bewusstsein aus, die unter der Bezeichnung ›Wahrheit‹ läuft, obwohl jeder weiß, dass die Sinne trügen.

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Man blickt nicht ungestraft hinter die Dinge, soll heißen unter die Oberfläche der sinnlich gegebenen Welt. Die Welt verwandelt sich in ein Gewerke aus Hypothesen und Kontroversen, das teils als Wissenschaft auftritt, teils als wüstester Aberglaube. Zwischen beidem spielt die Mathematik die Rolle des Schiedsrichters. Aber auch sie gibt es in beiderlei Gestalt. Konservativ ist das Gefühl, das sich auf die Seite der sinnlichen Gewissheit schlägt. Alternde Religionen wissen das. Was als reine Spekulation beginnt, endet in Votivbildchen und der Zurschaustellung harmonisch gestalteter Oberflächen, in denen die Wahrheit sich verbirgt und offenbart, je nach Interpretationszweck, in dem das Bedürfnis nach sozialer Hierarchisierung steckt. Der Wahrheitsanspruch reißt die Wahrheit aus dem Tiefschlaf, in dem die Anbetung sie gefangen hält, und zwingt sie zur Gefolgschaft.

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Konservativ ist der Gestaltungsunwille, der sich als Kultur auslebt, das heißt, als Gestaltung. Man sieht es daran, wie rasch die progressiven Künste des zwanzigsten Jahrhunderts im Nirwana der Ideologien verschwanden, nachdem die erhaltende Substanz aufgezehrt war. Ideologien benötigen keine Kunst, sie besitzen einen unwiderstehlichen Hang zum Kitsch. Sie wollen ›in echt‹ gestalten, das heißt einen neuen Dreh in die Wirklichkeit tragen – wer sich darunter etwas Greifbares vorstellen will, landet unweigerlich beim Kitsch. Man verdunkelt diesen Sachverhalt, wenn man den Menschheitsprogress unter die Embleme des technologischen Fortschritts stellt. Auch die Marsrakete, dieses bewundernswerte Stück Technik, ist als Symbol der kommenden Menschheit nichts weiter als ein Stück Kitsch.

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Wen wundert’s, wenn im Zeichen des Great Reset die Künste schweigen? Es fällt ihnen nichts dazu ein. Auch dem Great Reset fällt zu den Künsten nichts ein, was über propagandistisches Blabla hinausginge. Nichts lässt den Zwillingscharakter des neuen Konservatismus kenntlicher werden als sein apathisches Verhältnis gegenüber den Künsten. In Wahrheit sind sie auch ihm gleichgültig. Sein Bekenntnis zur ›großen Kunsttradition des Abendlandes‹ (oder wie die Formeln heißen mögen) ist ein Teil der heißen Luft, die seine wirklichen Anliegen in die Höhe tragen soll. Niemals in der Geschichte Europas war Kunst so bedeutungslos wie in der Ära der ambitionierten Museen. Was an den Stätten der Musen zelebriert wird, ist eben diese Bedeutungslosigkeit, um die sich die Worthülsen der Ausstellungsmacher ranken wie einst der Lorbeer um das dichterische Haupt, das es bis in die Sphäre der Machthaber geschafft hatte.

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