›Das ist böse gesagt‹ – an diesen Worten, heißt das, haftet Bosheit, vielleicht eine Spur bloß, aber mit einer feinen Nase mühelos zu erschnüffeln. Bosheit oder der Wille zu schaden, Schaden zu stiften: Das ist eines der Wörter, unter denen das Böse in seiner ganzen Zweideutigkeit hervorblinzelt. Bosheit kann böse – im Vollsinn – sein, sie kann aber auch jenes unerlässliche Lebenselement sein, ohne das der Mensch in seinen sozialen Beziehungen untergeht, während es zu Hause, im Bereich privater Intimität, eine vielleicht nicht auf den ersten Blick zerstörerische Kraft entfaltet. Bosheit, eine Spur von Bosheit zumindest ist vonnöten, um Bosheit zu erkennen – im Sinne der Antizipation der Bedrohung, die aus dem versteckten oder offenen Böse-Sein des anderen erwächst oder erwachsen kann. »Land (Staat, Nation) XY ist böse« – so etwas sagt – und schreibt – man heute seltener als zu Zeiten des ungebremsten Nationalismus, also sagt – oder schreibt – man: »A ist böse.«

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Wer ist A? Er kann der Präsident oder Ministerpräsident eines Landes sein, auf alle Fälle ist er sein ›Führer‹ und seine Personifikation: In ihm bündeln sich die negativen Energien des Landes oder der Nation. Er ist der Feind. Warum? Er ist ein Feind des Menschengeschlechts. Das kann auch eine Frau sein, aber dieser Fall ist weit schwerer zu handhaben, weil er nicht dem herrschenden Bild der Frau als Lebensspenderin und -bewahrerin entspricht. Sagen wir: Den Bösen umwittert eine Aura ›toxischer Männlichkeit‹. Blickt man auf die Galerie der ›Führer‹, die von den westlichen Medien im Lauf der Jahrzehnte niedergemacht wurden, so ergibt sich immer, mit leichten Variationen, dasselbe Bild zwitterhafter Virilität: bewundert, gefürchtet, gezeichnet. In Zeiten optischer Überpräsenz ist die Zeichnung denkbar einfach geworden – es bedarf keines verkrüppelten Arms und keines Blutschwamms mehr, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Das ikonifizierte, zig-tausendfach identisch reproduzierte Foto tut es auch. Die Bosheit des Bildes wirkt durch Wiederholung. Ironischerweise hat Wiederholung den ›Führer‹ in seine Position gehoben – Wiederholung des Wortes, Wiederholung des Bildes, Gebetsmühlenhaftigkeit der Auftritte: Nun ist er da und alle einschlägig Konditionierten wissen, er ist das personifizierte Böse, einer der Wiedergänger des Ur-Bösen.

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Das ist boshaft, kein Zweifel, es kann ein wenig boshaft sein und bleiben, die Bosheit kann über jedes Maß hinausgehen und Geschichte schreiben – auf diesem Feld ist alles möglich. Die boshafte Antizipation fremder Absichten, böser Absichten selbstredend, kann in die Irre gehen, sie kann furchtbar irren und just die Katastrophen auslösen, die sie verhindern soll oder zu verhindern vorgibt. Sie kann auch das Gegenteil sein – der dringend benötigte Weckruf –, die Menschen erfahren es in der Regel nie, es sei denn, es kommen Lügen ans Licht, die der Boshaftigkeit nachträglich den Boden entziehen. Und gesetzt einen solchen Fall – die Zeichnung bleibt. Sie findet immer neue Gläubige. Dabei kommt es hier weniger auf den Glauben an – eher gar nicht –, vielmehr auf das empfängliche Gemüt als solches. Jemand muss hartgesotten oder hinreichend abgebrüht sein, um der Zumutung der Zeichen des Bösen zu widerstehen. Genau das ist es, was die Welt von ›Führern‹ und die Menge von dem ihren erwartet: Hartgesottenheit. Er ist derjenige, der widersteht. Je ›härter‹ sein Aufstieg sich vollzieht, je mehr Verführer-Assoziationen er standhalten muss, desto mehr schält sich diese Eigenschaft heraus und desto stärker perfektioniert sich das Zwitter-Bild des Bösen auf Abruf.

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Zwitter deshalb, weil Hartgesottenheit diejenige ›Führungsqualität‹ ist, ohne die in der Regel nichts geht, jedenfalls nicht unter Verhältnissen grenzenloser Konkurrenz, wie sie für Massengesellschaften typisch sind. Der Hartgesottene weiß zu widerstehen und er ist derjenige, dem zu widerstehen als erste Bürgerpflicht gilt. Man sieht es an den Dramen, die abzulaufen beginnen, sobald sich der taffe Held an der Spitze als Weichling entpuppt, als sentimentaler Charakter, als Hamlet, als Weiberheld oder Menschenfreund. Gewöhnlich setzt sich genau dann die Zufallskette in Gang, die ihn über kurz oder lang das Amt kostet, während Massenliebe und -verachtung ganz neue Höhen erklimmen. Solche Fälle zittern lange nach. Die Katastrophe des Helden ersetzt gleichsam die ausstehende Katastrophe des Staates. Und zwar in mehrerlei Hinsicht: die Katastrophe, in die der ›Weichling‹ den Staat (oder seine Nutznießer) steuert, die Katastrophe, die der perfekte Bösewicht auf ihn herabbeschwören würde, schließlich die Katastrophe, die abzuwenden dem menschlichen Helden seine Anhänger wider allen Weltsinn eine Weltsekunde lang zutrauen, die Katastrophe, an welche die Macht sie scheinbar unaufhaltsam verrät.

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Dieser ›antike‹ Zug entspricht so sehr dem Charakter der Zeit, dass man sich unwillkürlich fragt, worin der Grund für die Gemeinsamkeit liegen könnte. Vielleicht liegt er einmal mehr in der attischen Tragödie, die so sehr die moderne Anschauung antiken Empfindens geprägt hat. Die Öffentlichkeit der Massenmedien, insbesondere der digitalen, stellt etwas wieder her, was es seit der klassischen Antike in den Machtstaaten so nicht mehr gegeben hat: den theatralischen Charakter der ›Begebenheiten‹ (lat. ›gesta‹) unter Teilnahme des ganzen Volkes, jedenfalls seines medial erreichbaren beziehungsweise privilegierten Teils. (An-)Teilnahme statt Teilhabe ist die Formel, unter der die antike Opfermythologie als Mythologie der ferngesteuerten ›User‹ resp. ›User*innen‹ ihre Triumphe feiert. Die Bedienung der Apparate als beinahe alleinige Bedingung des Dabeiseins verwandelt das Dabeisein in eine Art Purgatorium. Die Hoffnung bleibt draußen – vielmehr, sie irrlichtert über dem Spektakel der von anonymen Schicksalsmächten Begünstigten, deren Los jederzeit umschlagen kann und muss, denn das Drehbuch des Mythos ist längst geschrieben.

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Als Phänotyp ähnelt der Hartgesottene dem Psychopathen, dem Menschen ohne ›soziale Primärkompetenz‹, sprich Empathie. Wer sich daran erinnert, dass Willy Brandts Niedergang als öffentliche Figur begann, als seine Redenschreiber ihm ›Compassion‹ als Triebfeder seiner Politik ins Manuskript schrieben, der findet hier eine Linie: Der empathische Mensch muss gehen, damit die Politik ihren Gang geht. Ein kleiner Schritt darüber hinaus und in der Politik wimmelt es von Psychopathen, jedenfalls dann, wenn die Psychologie des Bösen das Wort ergreift: Macht macht nicht nur krank, sie befindet sich in der Hand von Kranken. Es muss also, soll Politik gesunden, eine übergeordnete, meta- oder transpolitische Instanz geben, die mit ordnender Hand jene Kranken von der Macht fernhält oder sie, falls es dafür zu spät ist, kurzerhand heilt. Diese Instanz kann nichts anderes als ein Board von Psychiatern sein, dessen Kompetenzen – nicht zu vergessen die Ernennungsroutinen – bewusst im Nebulösen gehalten werden, um den Erwartungskern nicht bereits im Vorfeld zu zerstören. Was von solchen Fiktionen zu halten ist, demonstrieren mit schöner Regelmäßigkeit die Ferndiagnosen, mit denen eitle Zunftgenossen die Kür politischer Kandidaten begleiten. Die platonische Fiktion der interesselosen, allein aufs Gemeinwohl fixierten Kompetenz wird mühelos ausgehebelt, sooft die Reihen der wissenschaftlichen Gutachter gegeneinander aufmarschieren.

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Ist der Hartgesottene ein Psychopath? Mag sein, mag nicht sein. Das eine ist eine rhetorische, das andere eine psychologische Kategorie. Die aufgebrachte Psyche empfindet den Hartgesottenen, sie ist sich ihrer Sache sicher, denn sie befindet sich in einem Prozess, in dem sie an seinen Auftritten und Taten teilnimmt. Das ›emotional gefärbte‹ Urteil ist ein Teil des Prozesses, es befindet mit über Aufstieg und Fall der öffentlichen Person, deren Tragödie vor den Augen aller abläuft. Tragödie – was denn sonst? Die Form des Prozesses, der den Machtmenschen formt und am Ende entsorgt, nennen wir Tragödie. Welches Wir? WIR, die Zuschauer dieser kolossalen, nicht selten kolossal schäbigen Schauspiele. Ohne WIR, das groß geschriebene WIR, das in der Seele jedes kleinen Ich fiebert, sich erregt, vor Befriedigung fast zu platzen droht oder fast das Atmen vergisst, dessen Sympathien und Antipathien die Arena der öffentlich geäußerten Gefühle flutet, ohne dieses WIR gäbe es keine Tragödien. Es gäbe nur gute oder schlechte Politik – gut oder schlecht für diese oder jene Interessengruppe, gut oder schlecht für den Einzelnen, gelegentlich auch entsetzlich, aber die Leitungsfiguren wären allenfalls Leitfiguren für ehrgeizige Nachrücker, ansonsten Namen für die Nachwelt.

 

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