Auf den Weiden verdurstet das Vieh, Ernten fallen aus, an den Bäumen verdorren die Früchte, Brände lodern am Horizont: Untergangsstimmung. Allerorts tauchen Fremde auf, das Land ›ringsumher‹ versinkt in Chaos und Gewalt: Ein Schatten legt sich über das Land. So erscheint das Böse. Alte Geschichten, böse Geschichten. Prophezeiungen zuhauf. ›Nun‹ – in einem ausgedehnten Heute, das Raum für neue Geschichten lässt – ist es an der Zeit, die Zeichen zu erkennen und entsprechend zu handeln. Zu allen Zeiten versprechen Erzählungen dieses Typus reißenden Absatz; mancher Filmregisseur, mancher ›Aktivist‹ verhebt sich daran. Im Schatten des Bösen gedeihen die erfolgreichsten Geschichten – Leser wie Zuschauer folgen ihnen mit angehaltenem Atem. ›Aus der Hefe des Volkes‹ ersteht ein Retter, unscheinbar von Gestalt, Honig ist sein Gemüt, unsicher seine Herkunft, täuschend schwach sind seine physischen Kräfte – kein Wunder, denn er stammt aus dem Geheimnis. Nicht selten begleitet ihn Hohn… – man könnte die Liste der Eigenschaften, die gegen ihn sprechen, ad ultimum fortsetzen. Es nützt alles nichts, am Ende steht unerbittlich das Aber: Er ist der Gerechte. Niemand weiß, wer ihn ausgesucht, niemand weiß, wer ihn erwählt hat, aber er schlägt sich durch. Denn auf ihm ruht die Hoffnung der Welt.

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Der Schatten des Bösen: Was hat dieses Wort, dessen althochdeutscher Vorfahr nicht mehr und nicht weniger als ›schlecht‹ bedeutet, so überlebensgroß werden lassen, dass ihm nur wenige Negativwörter das Wasser reichen können, ›verworfen‹, ›teuflisch‹, ›satanisch‹, allesamt religiös-theologischen Inhalts, nur dieses eine verharrt im zwittrigen Dämmer des Man-weiß-nicht-so-recht, auch wenn es an Bemühungen nicht gefehlt hat, Klarheit zu schaffen, zumindest semantische. Nichts am Bösen ist klar und distinkt. Der kommode Böse, der Thomas Manns Adrian Leverkühn erscheint, entstammt der kommoden Religion, die sich Büchners Leonce einst so sehnlich gewünscht hatte. Am Volks-Bösen ist nichts kommod, es sei denn die Tantiemen für den Autor oder das Autorenteam, das sich unter dem Schirm einer öffentlichen Ikone versammelt. Der die das Böse, es ist alles eins. Kein böser Land in dieser Welt. Der die das Böse verschmutzt das Land, das ihm keinen Widerstand bietet. Es sind Einzelne, die ihm, geleitet durch einen feinen Instinkt, von Anfang an Widerstand leisten, während die Masse, nicht wissend, wie ihr geschieht, in ihm versinkt. Der wahre Widerstand erwacht spät, erst müssen die Opfer anfallen, die nötig sind, um das Gros der Leute von der Notwendigkeit der Wende zu überzeugen. Und auch dann bedarf es der Führer, überzeugender Führer, um sich durch ›Blut und Tränen‹ den Weg zu bahnen: den Weg zurück und vorwärts zugleich, denn beide sind eins.

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Der gedeutete Böse (maskulinum) ist Teil des männlichen Universums. Unter der Maske des Mannes entert er das weibliche Universum und verschwindet pünktlich, sobald beide Geschlechter zusammenlegen, bis dass der Tod sie scheidet – jedenfalls im Märchen, das in diesem Fall höchst praktische Züge trägt. Im Zeichen der neuen Geschlechtertrennung ist er wieder da – als ›toxischer‹ Mann. Wer sonst käme für die Rolle in Frage? Nun, wer glaubt, damit wäre alles geklärt, der täuscht sich gewaltig. Die Ökonomisierung des Weiblichen lässt auch diese Grenzen verfließen. Hinter dem Bösen erscheint, halb verdeckt, die Ikone der ›bösen Frau‹. Während sein Bild sich auflöst – fadenscheinig wurde es längst –, gewinnt das ihre an Deutlichkeit. Wo? Nun ja: in den Köpfen. Nein, da erscheint nicht die vertraute ›Hexe‹, es wird auch nirgendwo zur Hexenjagd geblasen – so weit geht die Liebe zur Vergangenheit nicht. Wie weit geht sie dann? Sie geht weiter. Peu à peu entwickelt sie sich zum Sammelbecken aller einschlägigen Bedrohungs-Imagines, die den langen Marsch der Menschheit auf ihre gähnenden Höhen säumen. Bislang wagen es nur wenige, diese Tendenz auszusprechen (ein Wink genügt, sie zum Verstummen zu bringen), aber mit einer wachsenden Zahl ist zu rechnen. Das Bedrohliche wächst – der Schatten, wie gesagt –, es legt sich auf die Gemüter, denen das Gemütliche ausgetrieben wurde.

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Hinter der dargebotenen Welt lauert die verbotene. Darin besteht der Sinn der Zeichen, den historisch aufzulösen man versucht hat, seit Bachofen die geheimnisumwitterten signa des Mutterrechts entzifferte und für seine Zeitgenossen neu kodifizierte. Die strahlende Welt des Mannes gegen die verhangene des Weibes – diese allzu einfach gestrickte Relation verlangte nach Umkehrung und sollte sie auch, wenigstens als T-Shirt-Aufdruck, nach dem Desaster Europas und dem Untergang seiner Kultur bekommen: Die Zukunft ist weiblich. Die zweite Umkehrung kam durch Nietzsches Konzept der ›Herrenmoral‹ (samt seinen desaströsen Implikationen). Dass die christliche Moral der Schwachen der Moral der Starken die Zähne ziehen konnte, erfordert eine Kraft sui generis hinter dem zum ›Sklavenaufstand‹ umgedeuteten Christentum und seiner ›Umwertung aller Werte‹: das Ressentiment. Diese verborgene, von Nietzsche ans Licht gezerrte Kraft verschiebt die Bedeutung des Bösen ins Dämonische. Es genügte nicht, die alten Werte als ›schlecht‹ zu entsorgen – im schlechten Alten, sprich: Bösen geht die alte ›Geltung‹ um und fordert zum Kampf der Gespenster heraus.

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Das Motiv der Umkehr (›metanoia‹) ist im Christentum fest verankert und endet nicht an den Grenzen einer vorgängigen ›Moral‹ – das wusste Nietzsche natürlich. Aber für den Philologen muss die Versuchung unwiderstehlich gewesen sein, den Tod der antiken Welt als großes Weltanschauungstheater zu inszenieren, ganz als habe das siegreiche Christentum jene Welt durch einen grandiosen ideologischen Schwindel zum Verschwinden gebracht. Gewitzte, die wir sind, wissend, dass es so nicht gewesen sein kann, empfinden eine gewisse, mit Ekel angereicherte Nostalgie angesichts tendenziös gefärbter Versuche, das ›Böse‹ der Gegenwart auf Weltanschauungszauber zurückzuführen. Es war nicht alles schlecht, was heute als böse gilt – ein Satz der Zeitenwende, kein Zweifel, ein Wende-Satz, der pünktlich dann auftaucht, wenn Vertreter zweier Zeitalter sich aneinander reiben und die aus der Zeit gefallene Seite ihren Aha-Moment durchlebt: ›Hoppla, wir leben noch!‹ Es muss auch nicht alles ›schlecht‹ sein, was ›böse‹ ist. Kein intelligenter Mensch hat das je behauptet. Es ist schlecht, mit dem Bösen zu gehen. Das zählt.

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Das ›Böse‹, verstanden als das ›umcodierte‹ Gute, erneut zur Geltung zu bringen, gehört zu den Grundmotiven der Neuzeit. Seit die Renaissance die Hände nach den Überresten der antiken Cäsarenwelt auszustrecken begann, verkam das meiste davon zum Schmuddel-Business. Ein paar Unentwegte, die es immer gibt, wittern hinter jedem entdeckten und zu entdeckenden Pyramidenschacht das nach Entfesselung lechzende Grauen pur. Währenddessen setzen die KI-bewehrten Nachkömmlinge der Alchimisten darauf, koste es, was es wolle, die Spezies in eine neue Daseinsform zu überführen, die alles bisherige Menschenwerk und Menschen-Gedenken in den Schatten stellen soll. Warum auch nicht? Schließlich ist es den Exekutoren des Weltgeistes bereits mehrfach gelungen, die Bibliothek des Grauens um zeitgenössische Varianten zu bereichern. Die ›Umwertung aller Werte‹ zieht ihre Blutspur um den Erdball und kaum etwas außer dem Bankrott scheint ihre zeitgenössischen Adepten daran zu hindern, weitere Varianten auszutüfteln oder zäh an den ererbten zu kleben, um sie bei Gelegenheit ein weiteres Mal auszuprobieren. Das menschliche Gedächtnis ist kurz und die Denkfigur überwältigend.

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Ohne Dämonisierung ist das Böse nicht zu haben. Das mag ob des Grauenhaften verwundern, das keine Steigerung zulässt, jedenfalls nicht durch phantastische Ausstaffierung, und doch nicht mehr und nicht weniger ist als vergangene und gegenwärtige Realität. Es hat sich herumgesprochen, dass der Begriff des Bösen in öffentlichen Auseinandersetzungen nicht länger hält, was er verspricht –: ein säkularer Versager. Das erklärt den überwiegenden Unernst in seinem Gebrauch. Wer ihm mittels Dogmatismus und ›Aufklärung‹ entgegenzuwirken unternimmt, der trifft auf eine praktisch undurchdringliche Wand aus Skepsis und Ironie. Auch Wörter erleiden Schicksale. Wer in den trockenen Begriffswelten der Vergangenheit lebt, der sollte sich gelegentlich darüber Rechenschaft ablegen, für welche Arten von Kämpfen die geliebten Wörter Form und Schliff erhielten. Nicht ohne Grund hat der Staub der Geschichte sich über sie gelegt. Niemand verdrängt den Unterschied von Gegenwart und Vergegenwärtigung unge-… straft, möchte man schreiben, doch die Peiniger der Gegenwart gehen ihre eigenen Wege und die Theorie sollte sie nicht bemühen. Die verabreichte Geschichte, soviel scheint gewiss, vergiftet die Gehirne, hat der historische Sinn erst frei.