Untersucht man die im Beziehungsmodell sozial realisierte Trennung von Sexualität und Reproduktion, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass die rigorose Durchstreichung des ›zweifellos gegebenen‹, aber durch den Einsatz mechanischer und chemischer Mittel unbegrenzt manipulierbaren biologischen Zusammenhangs den kulturell zweifellos ebenso ›gegebenen‹ Zusammenhang überblendet, in dem der Kinderwunsch als Summe aller auf ein individuelles Optimum ausgerichteten Steuerimpulse fungiert. Es ist nicht ganz richtig – oder doch nur in einem rein statistischen Sinn –, zu sagen, der Kinderwunsch habe sich mit dem Abschied vom ›traditionellen‹ Familienmodell ›reduziert‹ oder sei ›generell zurückgegangen‹. Angemessener wäre es wohl, zu sagen, er werde durch das Beziehungsmodell stipuliert oder dauerhaft aufgeschoben: jedenfalls entspricht dem eine in allen Befragungen wiederkehrende Auskunft der Frauen, während Männer häufig rigorosere Sprachregelungen bevorzugen. Seltsamerweise dient die Auskunft der Beruhigung der Gesellschaft – nach dem Motto ›aufgeschoben ist nicht aufgehoben‹ –, während die Daten eine etwas andere Sprache sprechen. Offenkundig besitzt der projektierte Aufschub eine rationale, durch Ausbildung und berufliche Orientierung der Frauen gegebene und allseits gewollte Seite. Aber ebenso offenkundig besitzt er eine andere, von den Akteuren nicht durchschaute und nicht gewollte Seite, auf der ›es‹ ihnen passiert – das Verfehlen des Kinderwunsches –, so wie es ihnen vor der Perfektionierung der Verhütungstechnik nach der anderen Richtung passierte – gemäß der dröhnenden Nachkriegsweisheit: Kinder kriegen die Leute von alleine. Der wahlweise auf die menschliche Natur oder eine psychische Disposition zurückgeführte Kinderwunsch ist von vornherein in Bedrängnis: die kompakte Rationalität der gesellschaftlich geforderten Entscheidung steht gegen die berufene, aber sprachlose und durchsetzungsschwache Natur, das aufgeklärte Interesse am internen Verrechnungssystem der Psyche gegen die naive Verwirklichungsabsicht in Bezug auf den ›gefassten‹ und sich geschmeidig anderen Fassungen des Begehrens anpassenden Wunsch. Dass eine so einflussstarke Institution wie die Katholische Kirche der angeblich bedrohten Natur auf die bekannte Weise beispringt, ist eher geeignet, die Opposition zu verschärfen statt aufzulösen, weil sie das naturalistische Scheinargument indirekt zementiert: Feindschaft, vor allem eine so gediegene wie die zwischen Naturalismus und Supranaturalismus, verbindet. Der Aufschub lässt sich insofern als eine respektable Weise begreifen, mit einem Dilemma umzugehen, dessen Auflösung unumgänglich, aber mit gegenwärtigen Mitteln nicht erreichbar erscheint.
Wenn das Beziehungsmodell die Gleichwertigkeit der privaten Lebensformen und die Freiheit des Einzelnen in Wahl und Gestaltung seiner Lebensverhältnisse sichert, wenn daher aus rechtlichen und sozialen Gründen keine Alternativen zu ihm in Sicht sind, es also nur darum gehen kann, seine Lebbarkeit auf Dauer zu stellen, dann bleibt keine andere Wahl als die, überall dort, wo die Reproduktion der Bevölkerung stockt, die Entgleisung in der besonderen Art und Weise zu suchen, wie es gelebt wird. Ein erster Schritt auf diesem Weg besteht darin, die durchgehende Tendenz zur Kinderlosigkeit und zur Ein-Kind-Beziehung nicht länger dem irreführenden Deutungsschema des ›verminderten Kinderwunsches‹ zu unterwerfen. Vielmehr hat man es, solange man sich auf der Ebene des Wunsches bewegt, mit unterschiedlichen, tendenziell entgegengesetzten Impulsen zu tun. Wer sich kein Kind wünscht, wird schwerlich in der Ein-Kind-Beziehung die Realisierung dieses Wunsches erblicken, wer sich eines wünscht, dürfte die Kinderlosigkeit nicht als Erfüllung empfinden. Vorgängig ist im kinderlosen Fall der idealiter beiderseitige Wunsch, die Beziehung frei vom Druck irreversibler und materiell folgenreicher Entscheidungen zu halten, im Ein-Kind-Fall der Wunsch einer – in der Regel der weiblichen - Seite, den reversiblen Charakter der Beziehung mit dem erfüllten Kinderwunsch zu vereinbaren. Beide Male richtet sich die Entscheidung implizit gegen das Kind: das eine Mal gegen seine Existenz, das andere Mal gegen seine als bekannt vorausgesetzten Bedürfnisse. In keinem Fall wird ein spezifischer Kinderwunsch erkennbar, der gelebt würde; stattdessen dominiert die Absicht, die Beziehung rein zu halten von Deutungen und Abhängigkeiten, die durch das traditionelle Bedeutungsfeld ›Familie‹ aufgerufen werden. Selbstverständlich sind auch immer andere Hintergründe (medizinische, berufliche, finanzielle, ethische etc.) berufbar, doch bleiben sie für die Tendenz, um die es hier geht, bedeutungslos. Sub specie der biologischen Reproduktion entgleist die Beziehung am ehesten dort, wo sie am entschiedensten gegen vorgängige Formen des Beisammenseins abgegrenzt wird, wo sie als Alternative zum Herkommen, das durch das elterliche Lebensmodell oder durch Hörensagen diskreditiert erscheint, stilisiert und ›absolut‹ gesetzt wird. Der Umkehrschluss lautet, dass sie dort am erfolgreichsten praktiziert werden kann, wo sie gegenüber den herkömmlichen Erfahrungen und Praktiken offen bleibt, wo sie als Modifikation oder Modulation der familiären Melodie den Sinn für das, was möglich und an der Zeit ist, weiterträgt. Ob das geschieht, ist weniger eine Frage weltanschaulich motivierter Lebensentscheidungen als praktischer Lebensklugheit, gepaart mit Fairness und einer gehörigen Portion Gleichmut gegenüber den medialen Zumutungen der Lebenswelt. Gesellschaften, die als ganze an dieser Stelle eine gewisse Unfähigkeit verraten, müssen sich den Verdacht gefallen lassen, wirksame Blockaden zu unterhalten, die über bloß persönliche Abneigungen und Vorlieben hinaus die privaten Lebensstile beeinflussen. Es versteht sich von selbst, dass jede Theorie, die sich diesen Bereichen nähert, auf von Mutmaßungen umrankte Vorschläge angewiesen bleibt. Auf einer etwas allgemeineren Ebene mag das anders aussehen.
Die kulturelle Matrix hält einige Beschreibungsmuster bereit, die, jedes für sich und alle gemeinsam, helfen können, die zugespitzte Interpretation einer so allgemein gefassten Tendenz, die persönlichen Dinge zu ordnen, durch die bestimmte Gesellschaft zu verstehen. Der von Jörg Büsching referierte wirtschaftsanthropologische Vorschlag (Emmanuel Todd), die Differenz von ›Kern‹- und ›Stammfamilie‹ mit ihren unterschiedlichen Erbpräferenzen für den unterschiedlichen ›Erfolg‹ einzelner Länder im ökonomischen System des Westens und, in umgekehrter Relation, für Erfolg und Misserfolg im Bereich der biologischen Reproduktion verantwortlich zu machen, hat mit dem hier vorgetragenen das Konzept der ›unsichtbaren Familie‹ gemein. Paradoxerweise enthält er selbst die Kulturrevolution der sechziger Jahre mitsamt dem folgenden Übergang von hohen zu niedrigen Geburtenraten als unsichtbare Größe: offenbar verträgt sich die mit dem Typus der Stammfamilie verbundene Weise des Wirtschaftens sowohl mit hohen wie mit niedrigen Reproduktionsraten. Es muss also etwas hinzukommen, etwa die oft kommentierte Neigung der Deutschen, abstrakte Konzepte – wie das der Beziehung – ›eins zu eins‹ umzusetzen, die allerdings als klassisches Element der Selbstbeschreibung den Nachteil hat, jeweils nur die Mitmenschen zu meinen und die eigene Lebensweise auszusparen. Ähnliches gilt für den angeblichen Hang zur negativen Selbstbeschreibung und zu Weltbeglückungsphantasien, in denen der Pferdefuß steckt – während die Beispiele ins Uferlose führen, beschränkt sich der Ertrag auf die allgemeine Feststellung: Da ist was dran. Handfester erscheint demgegenüber das Argument, das unvorhergesehene Altern der vorhergehenden Generation und das damit einhergehende lebenslängliche Nebeneinanderherleben im Modus der Ablehnung und des Widerspruchs habe den Spielraum der Lebensentscheidungen auf familiärem Feld für signifikante Bevölkerungsgruppen empfindlich eingeschnürt.