7.
Das große Augsburger Stadtrecht aus dem Jahr 1276 räumt der Frau, die mit einer Vergewaltigungsklage vor Gericht geht, im Fall eklatanter Beweisnot die Möglichkeit ein, ihr Recht – buchstäblich – zu erstreiten: Falls niemand die Notzucht gesehen oder den Hilferuf der Frau gehört habe, der Beschuldigte ferner seine Unschuld eidlich versichere, steht es der Klägerin frei, den Beschuldigten zum Zweikampf zu fordern. Wie bekannt, gehören Zweikämpfe vor Gericht zum festen Bestand der mittelalterlichen Rechtspflege. Frauen, Unmündige, Greise, Lahme und geistliche Personen können, sofern sie auf dieses Mittel, Gerechtigkeit zu erstreiten, nicht verzichten wollen, einen Stellvertreter benennen, der für sie in den Ring tritt. Nicht so im Vergewaltigungsfalle. Was von der Frau am eigenen Leib erlitten wurde,muss auch ›mit ir selbes libe‹, mit dem eigenen Leibe, vor der Öffentlichkeit bezeugt werden. Klägerin und Beklagte, Opfer und Täter stehen sich im Ring gegenüber, dies allein gilt als zulässig.
Man muss das hohe Risiko sehen, das ein zum Zweikampf rüstender Kläger eingeht. Sollte er im Kampf unterliegen, so zieht er, gemäß einem noch intakten archaischen Rechtsempfinden, unweigerlich eben die Strafe auf sich, an deren Rand seine Klage den Gegner gebracht hat. Und die in Betracht kommenden Strafen sind, falls der Ausdruck als angemessen erachtet werden darf, empfindlich: Auf Vergewaltigung steht der Tod, das lebendig Begrabenwerden des Delinquenten (oder, falls die Klage abschlägig beschieden wird, der Klägerin). Differenzierter regelt das Freisinger Stadtrechtsbuch den Ausgang der Kraftprobe. Siegt der Mann, so ist der Frau die Hand abzuschlagen: »das ist darum gesetzt, dass nicht gewöhnlich ist, dass eine Frau einem Mann obsiegt.«
Der Punkt verdient zweifellos Beachtung.
»Ain weyb ist ein halber man«, heißt es im Apollonius von Tyrland des Heinrich von Neustadt, einem Versroman, der einen solchen Zweikampf schildert. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, hebt man inmitten des Gerichtsplatzes, auf dem der Kampf ausgetragen wird, eine Grube aus, tief genug, um den Beschuldigten bis an den Nabel stehend aufzunehmen, und hinreichend eng, »dass er sich um und um reiben möge«, wie die Freisinger Vorschrift lautet. Überdies richtet der Gesetzgeber sein Augenmerk auf die Art der zum Einsatz gelangenden Waffen. Bevor der Mann zur festgesetzten Stunde in die Grube steigt, empfängt er in die rechte Hand einen Stock von abgemessener Länge. Der Frau hingegen bindet man einen faustgroßen Stein ins Kopf- oder Brusttuch, ihr Kleid hat eng anzuliegen, so dass sie sich frei bewegen kann. Das Kampfziel ist fest umrissen: Gelingt es der Frau, durch einen gut geführten Schlag den Mann zu entwaffnen, so gilt er als überführt; im umgekehrten Fall ist er des Vorwurfs ledig. Wer unterliegt, ist gerichtet. Die Grube nimmt den Verlierer auf; er wird sofort in sie eingegraben. Die Vollstreckung duldet keinen Verzug.
Auch für den Zweikampf der Geschlechter gilt der Grundsatz allgemeiner Lehr- und Lernbarkeit. Hier wie andernorts besteht daher an Leitfäden zum Erfolg kein Mangel. So haben wir Nachricht von einem illustrierten Fechtbuch des 15. Jahrhunderts, geflossen aus der Feder eines »in dieser Kunst jedenfalls sehr unterrichteten Meisters« mit Namen Thalhofer. Die bildhaften Darstellungen unterschiedlicher Typen von Angriff und Verteidigung, zwischen denen die Kämpfenden wählen konnten, fügen sich zwanglos und anschaulich zu Stationen eines Kampfes, den es mit Johlen und Bangen zu verfolgen gilt: wie zu anderen Zeiten!
8.
»Die erste Abbildung zeigt uns Mann und Frau genau in der Kleidung, Bewaffnung und Stellung, wie sie das Augsburger Stadtrecht vorschreibt. Über der Gruppe steht: Da statt wie Mann und Frau mit einander kämpfen sollen. Und stand sie in dem Anfang. Bei dem Manne stehen die Worte: da statt die Frau frei und will schlagen und hat einen Stein in dem Schleier, wiegt vier oder fünf Pfund.
Auf dem zweiten Bilde steht neben der Frau: hier hat sie einen Schlag vollbracht, neben dem Mann: nun hat er den Schlag versetzt (parirt) und gefangen und will sie zu ihm ziehen und töthen. Der Mann steht noch in der Grube; er hat den Schlag seiner Gegnerin so gut pariert, dass sich ihr Schleier um seinen rechten Arm windet; da sie nun ihre Waffe nicht aus der Hand lassen will, so läuft sie Gefahr, in die Grube gezogen zu werden.
Auf dem dritten Bilde steht neben dem Manne: da hat er sie zu ihm gezogen und unter sich geworfen und will sie würgen. Die Situation der Frau ist eine bedenkliche geworden. Der Mann steht noch immer in der Grube, die Frau liegt auf dem Rücken vor ihm ausgestreckt. Mit der linken Hand schnürt er ihr die Kehle zu, mit der rechten begegnet er dem Gebrauch ihrer Waffe.
Auf dem vierten Bilde steht über Beiden: da hat sie sich aus ihm gebrochen (losgemacht) und unterstat (versucht) sie ihn zu würgen. Es ist ihr gelungen, sich aus der Umklammerung des Mannes loszumachen, selbst über denselben herzufallen und mit ihrem linken Arm ihm die Kehle zuzuschnüren.
Die fünfte Gruppe zeigt uns den Mann zwar noch in der Grube, allein die Frau fasst ihn in halb knieender Stellung mit beiden Armen um den Hals und sucht ihn aus der Grube zu ziehen. Gelang ihr das, so sollte – so berichtet Thalhofer – der Mann als überwunden gelten. Oben stehen die folgende Worte: hier hat sie ihn gebracht auf den Rücken und will ihn würgen und ziehen aus der Grube.
Auf Figur 6 hat sich jedoch die Situation gänzlich zu Gunsten des Mannes geändert. Es ist ihm gelungen, sich von der Frau loszumachen, durch einen raschen, kühnen Griff seine Gegnerin zu fassen und kopfüber zu sich in die Grube zu stürzen. Daneben steht: da hat er sie zu im gezogen und wirft sie in die Gruben. Damit sollte die Frau für überwunden gelten. Ob dieselbe lebendig begraben oder auf andere Art hingerichtet wurde, ist nicht angegeben.
Die drei letzten Abbildungen zeigen uns eine Situation, in der die Frau schließlich die Oberhand gewinnt. Der Mann steht wieder, wie in Fig. 1 in der Grube, die Frau dagegen fasst mit der linken Hand die Kapuze des Mannes und holt mit der rechten zum Schlag aus. Das Übrige deutet die Überschrift: als sie schlagen will, so ist sie ihm zu nah getreten, dass er sie ergreift bei dem Schenkel und wird sie fällen.
Fig. 8 zeigt uns jedoch das Misslingen dieses Vorhabens. Denn während der Mann die Frau mit der linken Hand am Schenkel fasst und mit der rechten einen Kolbenschlag auf die Brust versetzt, hat sie ihren Todtschläger um seinen Hals geschlungen. Neben der Figur des Mannes steht: so schlägt er sie vor die Brust, neben der Frau: da hat sie ihm den Schleier um den Hals geschlagen und will ihn würgen.
In der Schlussfigur hat die Frau den Sieg davongetragen, indem sie mit dem rechten Arm den Hals des Mannes umklammert hält, mit der linken Hand dessen Genitalien fasst. Mit einem kräftigen Ruck wird sie den wehrlos gemachten Mann aus der Grube ziehen. Überschrift: da hat sie ihn gefasst bei dem Hals und bei seinem Zeug und will ihn aus der Grube ziehen.«
9.
Soweit die Beschreibung, die wir Christian Meyer verdanken. Dass die Frau den Sieg davonträgt, hat den Reiz des Unerwarteten. Wie der Anblick muskelharter, geölter Frauenkörper den modernen Fitness-Studios, so treibt das Schlusstableau dem pfiffigen Fechtmeister seine Kundinnen zu. Man mag über mittelalterliche Gerichtsordnungen denken, wie man will: Ist der Ernstfall erst eingetreten, kommt jeder Ratschlag zu spät. Hier wie überall gilt der Grundsatz der Vorsorge. Die Stiche in Thalhofers Fechtbuch lassen von Fechtschulen träumen – ein wenig abseits der allgemeinen Plätze, um öffentliches Ärgernis zu vermeiden –, in denen durchtrainierte, sich der Begehrlichkeiten des anderen Geschlechts überdeutlich bewusste Frauen in ihren Mußestunden die Griffe üben, die es braucht, um immer wieder das ominöse Schlusstableau erstehen zu lassen, in dem sie ihn »bei dem Hals und bei seinem Zeug« gepackt hält, um als Siegerin – und endlich Gerächte – den Platz zu verlassen. Da wirkt auch der historische Hinweis keinesfalls störend, ein fleißiger französischer Gelehrter habe während des Ersten Weltkrieges die in tiefer Vergessenheit ruhende Geschichte aufgerührt, um die barbarischen Abgründe der Boches einmal aus ungewohnter Perspektive auszuleuchten. Als Waffe im Kampf der Kulturen will die wissenschaftliche Fußnote mit ähnlich vorlaufender Akribie geführt werden wie der Totschläger in der Hand einer auf alles gefassten Frau.