für Steffen Dietzsch

1.

Wer von Lügen spricht, der sollte sich nicht zu sehr auf den Volksmund verlassen, der da dekretiert, sie hätten kurze Beine. Es gibt ausgesprochene Langläufer in ihren Reihen, darunter hartnäckige, denen das Erwischtwerden nicht das Geringste ausmacht, aber auch solche, die sich schlechterdings nicht erwischen lassen, obwohl sich ganze Heerscharen von Aufklärern auf ihrer Fährte tummeln. Lügen mit langen Beinen – das war bekanntlich Nietzsches Definition der ›ewigen Wahrheiten‹, Zwecklügen höherer Ordnung, welche die Aufgabe der ›Setzung‹ erfüllen, damit etwas gesetzt sei, an dem sich die Menschen ausrichten und abarbeiten – aber natürlich nicht die Menschen, sondern Menschengruppen, Gemeinschaften, Populationen, ›Kulturen‹: das eben macht jene als Lügen kenntlich, dass sie ›geglaubt‹ werden müssen. Kein genetischer Code schreibt einem Denken vor: »So ist es« oder »So nicht!«

Wenn also Moderne, Kants Definition von Aufklärung gemäß, als ›Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit‹ zu bestimmen ist – woran ›bei uns‹, im aufgeklärten Westen, gewöhnlich niemand, selbst nicht der Unmündige, zweifelt –, dann unterhält sie in der Tat ein etwas merkwürdiges Verhältnis zur Lüge: man könnte sie geradezu die Epoche der radikalen Lügenvermehrung nennen, auch wenn zweifelhaft bleibt, ob in ihr mehr gelogen wurde als in anderen historischen Formationen. Aufklärung ist, ihrer trivialen Tendenz nach, die Erzeugung von Lügen: Was eben noch als Wahrheit glänzte, steht plötzlich unter Verdacht – es muss gerechtfertigt werden, und dort, wo die Rechtfertigung misslingt, steht eine Lüge mehr im Raum – genauer gesagt sind es deren zwei, denn neben dem widervernünftigen Festhalten an alten Überzeugungen enthält auch die Kritik selbst ein lügenaffines Element: die hochstapelnde Überzeugung, eine Auffassung oder ein Glaube sei schon deshalb abgetan, weil seine Rechtfertigung oder Begründung innerhalb eines Systems missraten muss, das zu seiner Depotenzierung, sprich: Entlarvung ersonnen wurde.

Entlarvung, soviel steht fest, verwandelt festes, auf scheinbar unhintergehbare Überzeugungen gegründetes Wissen in Glauben – in Überzeugungen, denen eine bewusst vollzogene Entscheidung zugrunde liegt. Das gilt vor allem dann, wenn sie die Motivationen aufdeckt (oder aufzudecken behauptet), die hinter einem allgemein akzeptierten Stück sprachlich artikulierten und damit mehr oder weniger fest umrissenen Weltverhältnisses ihr Wesen (oder Unwesen) treiben. Der Glaube springt dort ein, wo die rationale Rechtfertigung misslingt. Er entspringt also einer Notlage und erleichtert es seinen Gegnern dadurch ungemein, ihn als Not-Lüge zu demaskieren. Es bedarf dazu keiner anderen Einstellung als der des Unglaubens. In gewisser Hinsicht schafft sich der Unglaube seinen Zwillings-Gegner selbst, wenn er Wissen als Glauben denunziert, um sich – nicht zu selten, nicht zu knapp – anschließend auf wundersame Weise aufs Neue mit ihm zu identifizieren: credo quia absurdum. Identifikationsprozesse verlaufen selten einsinnig, sie haben ihre negativen wie positiven Phasen und in jeder von ihnen bleibt der Gegenpol sicht- oder spürbar – wie nicht zuletzt die politischen Bewegungen mit ihrem Leidenspotenzial an verratenen und verbogenen Überzeugungen den weniger Überzeugten mitteilen.

Selbstverständlich lassen sich, im Sinne Nietzsches, spezifische ›Lügen‹ der Moderne aufzählen. Bruno Latour hat sie einmal in eine Art Koordinatensystem gebracht – unter ihnen die ›konstitutionellen Garantien der Moderne‹, von denen er einige förmlich in den Rang von Verfassungsartikeln erhebt. In seinem Klassiker Wir sind nie modern gewesen klingt das dann so:

  1. Auch wenn wir die Natur konstruieren, ist es, als konstruierten wir sie nicht.
  2. Auch wenn wir die Gesellschaft nicht konstruieren, ist es, als konstruierten wir sie.
  3. Natur und Gesellschaft müssen absolut getrennt bleiben; die Arbeit der Reinigung muss absolut getrennt bleiben von der Arbeit der Vermittlung.

Was hier ›Reinigung‹ und ›Vermittlung‹ heißt, bezieht sich primär auf den wissenschaftlichen Prozess, in dem Begriffe wie ›Wahrheit‹ oder ›Lüge‹ angesichts der realen Usancen der ›Wahrheitssuche‹ eher als Residuen eines vorwissenschaftlichen Geistes zu gelten haben. Aber es spielt allzu sehr im Bereich der vorrangigen Überzeugungen zunächst der Klasse in diesen Prozess involvierter Individuen, dann der Epoche selbst, um nicht den hintersinnigen Stempel der Lüge, das heißt der forcierten Behauptung ohne sicheren Überzeugungshintergrund zu tragen. Dem entspricht die Stellung des »gesperrten Gottes«, der sich einmal für die eine, einmal für die andere Sache mobilisieren lässt und gleichzeitig aus dem Spiel ist, soweit es von den Akteuren als beherrschbar angesehen wird. Dass dieser notorische Gottes-›Begriff‹ vor allem eines ist, nämlich fundamental unglaubwürdig, erklärt die ungeheure Vehemenz der von Nietzsche ausgehenden Gott-ist-tot-Bewegung, aber auch ihren durchgehend sektiererischen Charakter: immerhin bildet dieser Gott das Scharnier zwischen der Wissenschaft als dem zuverlässigen Ort der Gedankenproduktion einerseits und der schieren Gedankenlosigkeit andererseits. Dieser privilegierte Ort kann nicht unbesetzt bleiben, wenigstens nicht auf Dauer. Denn das hieße ja, den Mechanismus der Identifikation an entscheidender Stelle stillzustellen, der aus kulturellen Analphabeten Teilhaber am zivilisatorischen Prozess generiert.

2.

Wenn die rousseauistische Linie der Kulturkritik lange Zeit zu betonen nicht aufgehört hat, der zivilisatorische Prozess lasse aus ›ganzen‹ Individuen fools entstehen, vergesellschaftete und als solche entfremdete Wesen ohne zuverlässige Verankerung in einem selbstverantworteten und -geformten Weltverhältnis, dann gehört dies ebenso wie der ›wissenschaftliche‹ Gottesbegriff eines Condorcet oder Harnack in die Klasse der wahren Lügen oder lügnerischen Wahrheiten. Das sehr besondere Verhältnis zwischen beiden lässt sich durch eine Überlegung konkretisieren, die bereits bei Montaigne anzutreffen ist und in der Fassung von Francis Bacon folgendermaßen lautet:

Wenn man es recht bedenkt, so bedeutet ›Jemand lügt‹ soviel wie ›Er ist verwegen gegen Gott und ein Feigling gegen die Menschen‹. Denn eine Lüge tritt Gott entgegen und schaudert vor den Menschen zurück.

Der ›Geist der Lüge‹, so ließe sich die Stelle übersetzen, bedarf ebensosehr eines schütteren Gottes wie eines schütteren Mutes oder jedoch, wahlweise, der Überzeugung Gott ist tot im Verein mit dem Beharren des Individuums auf Selbstbehauptung, die in Momenten wirklicher Not aufs physische Überleben beziehungsweise auf das soziale ›Dabeisein‹ zusammenschrumpft.

Unversehens findet sich, wer so argumentiert, im Lager der Moderne-Gegner wieder – keine kleine, keine klare Sache schon deshalb, weil jemand wie Bacon selbst zu ihren Initiatoren zählt. Symptomatisch ist seine programmatische Feststellung, man lerne mehr über die Kirche durch das Studium ihrer politischen Geschichte – Deschners ›Kriminalgeschichte‹ – und der Biographien ihrer Würdenträger als durch das Studium der von ihr vertretenen Dogmen. Aus fundamentalistischer Sicht ein gravierender Denkfehler: Wer Handlungen und ›Vorgehensweisen‹ ernsthaft beurteilen will, der muss die dahinter stehenden Überzeugungen nicht nur marginal zur Kenntnis nehmen, sondern mit ihnen in jenen Prozess ›geistiger‹ Auseinandersetzung eintreten, der allein gewährleisten kann, ›dass man sich richtig versteht‹. Unglücklicherweise erlaubt Fundamentalismus, sofern er dieses Etikett verdient, geistige Auseinandersetzung nur als Einbahnstraße, soll heißen als Missionierung, so dass sich unversehens, wer ›wirkliche‹ Auseinandersetzung nicht scheut, früher oder später in einem institutionellen und schließlich physischen Kräftemessen wiederfindet, das zwar in keiner Bergpredigt vorgesehen ist, aber einen der Kernaspekte realer Gesellschaften bildet.

Wer sich ohne Not gegen Gott, das heißt, nach allem, gegen seinen persönlichen Gott oder den Gott der Gemeinschaft, der er sich existenziell zugehörig fühlt, wendet, ist mehr als ein Tor: er ist, streng gesprochen, einer, der sich aufgibt, und daher ein Verworfener in jener besonderen Bedeutung, wie nur er selbst sie dem ›Sachverhalt‹ zu geben vermag, der als ›Personverhalt‹ unter die lebensbestimmenden Faktoren tritt. Dort fällt ihm, immer die fehlende Notlage und das dadurch induzierte Entscheidungsdrama abgerechnet, das sie mit sich bringt, insofern eine Sonderstellung zu, als er die Integrität der Person unmittelbar und ineins damit ihr Selbstbewusstsein nachhaltig beschädigt. Erst das Getriebensein in allen seinen Spielarten öffnet den Weg zur Lüge. Deshalb hat Nietzsches Gegenreligion des toten Gottes, historisch gesehen, das Rennen gemacht und nicht der seit der Antike geläufige und in der Aufklärung als Option immer anwesende philosophische Atheismus. Nietzsches zeitgeschichtlicher Affront bestand darin, dass er den negativen Gewissenszweifel der Kulturanthropologie und einer breit gefächerten Religionswissenschaft und die damit einhergehende Funktionalisierung des religiösen Bewusstseins im öffentlichen Raum zur theologischen causa belli erhob: das fein gewordene Gewissen erlaubte es nicht mehr, sich mit diesem Gott sehen zu lassen, als sei er noch immer der Lebendige, von dem bereits die hebräische Bibel spricht.

Aber natürlich lügt Nietzsche, vom Standpunkt der Frommen aus gesehen, denn natürlich ist ihr Gott der lebendige, darüber hinaus die lebenspendende Instanz, ohne die alles ›tot‹ wäre oder todgeweiht erscheint. Zwischen beiden Standpunkten kann nach praktischem Ermessen keine Vermittlung stattfinden, wenngleich das theoretische Ermessen hier einen seiner weitesten Spielräume findet. Und natürlich lügt ein ›modernes Bewusstsein‹, für das die ›Frage nach Gott‹ gestorben ist, während sie doch auf seinem Grunde brodelt und in existenziellen Extremsituationen immer wieder ›nach oben‹ gelangt. Kein Wunder also, dass jeder ›Existenzialismus‹ unter Frommen als eine Spielart religiösen Bewusstsein gilt, worin die Instanz ›Gott‹ aus Gründen ›durchgestrichen‹ wurde, die letztlich mehr mit innerweltlichen Motiven als mit dem Wort von dem, ›der da lebt‹, zu schaffen haben.

Um auf Bacon zurückzukommen: als Fundamentalist und Moderner lässt er bereits die Kehrseite der Metaphysikkritik erkennen: das zähe Festhalten an metaphysischen Grundentscheidungen im Dienst der Kritik, wie es dem unbefangenen Blick von Heidegger-Sartre bis Derrida immer aufs Neue ins Auge springt. Offenbar kann kein vernünftiger Mensch ›Fundamentalist‹ sein, sei es in der einen, sei es in der anderen Richtung – außer im Modus der Verstellung: soll heißen dessen, was an der gut augustinisch als willentlichem Sagen der Unwahrheit bestimmten Lüge – »Mendacium est enuntiatio cum voluntate falsum enuntiandi« – an erster Stelle auffällt. Das leistet (nach dem Modell von Latour) unter anderem die methodische Fiktion der Trennbarkeit von Natur und Gesellschaft: als Verstellung elementarer Sachverhalte erzeugt sie einen programmatischen Handlungsraum, in dem es von Hybridbildungen nur so wimmelt.

Auch Hybride tragen ja diese doppelte Signatur: sie sind gleichzeitig Überbleibsel und Produkte der Reinigungsverfahren, deren Latour die klassische Wissenschaft bezichtigt, die aber darüber hinaus den juristisch gesteuerten gesellschaftlichen Prozess vorantreiben. Der Fall des sozialdemokratischen Vordenkers, der nur knapp einem Parteiausschluss entging, weil sein Vorsitzender befand, Gene passten nicht ins Weltbild der Partei, bietet dafür, jenseits aller politischen Bewertungen, ein beredtes Beispiel. Und was heißt schon ›jenseits‹, wenn der soeben noch, wenngleich nicht allseits, geschätzte Genosse zum gesellschaftlichen ›Monstrum‹ mutiert, das in den einschlägigen Medien, sprich Medienformaten durch den Kakao, besser gesagt die Kloake gezogen werden darf, ohne dass irgendein ›kritisches Bewusstsein‹ dagegen Einspruch erhebt?

3.

Hybride, vulgo ›Monster‹, sind so etwas wie das Salz in der Suppe des gegenwärtigen Wissenschaftsdiskurses. Das mag auch daran liegen, dass sich Politik im 21. Jahrhundert, nachdem die Maschinerie der fortschrittlichen Visionen nachhaltig ins Stottern geraten scheint, vielfach hemmungslos über ›Monster‹ definiert und entsprechende Kritik erntet. Sicher lässt sich darin ein Erbe der großen Propaganda-Schlachten des 20. Jahrhunderts erkennen, aus denen jene noch immer rätselbehafteten Menschheitsverbrechen hervorgingen, zu deren paradoxen Folgen vielleicht die Ausbildung eines, wie auch immer schütteren, empirischen Menschheitsbewusstseins gehört. In ihnen mutiert die Lüge als machiavellistisches Mittel der Herrschaftssicherung zu ihrem – im Extremfall einzigen – Inhalt: denkbar nur dann, wenn sie imstande ist, das Potenzial der überschießenden Hoffnungen bei den Regierten zu bündeln. Andererseits sind die de- und postkolonialen Bezüge jener Politik nicht zu übersehen: das menschliche ›Monster‹ ist immer auch der Barbar, wie sich unschwer an der langen Liste mediengerecht aufbereiteter ›Schlächter‹ von Idi Amin bis Assad und Boko Haram ablesen lässt, während die Vertreter der modernen Leyenda negra, die sich an den Staatslenkern zivilisatorischer Kernländer vergreift, in der medialen Öffentlichkeit rituell unter den Verdacht fallen, dem Feind vorzuarbeiten. Dass ›die Barbarei‹ im Herzen der Zivilisation, in einem ihrer fortgeschrittensten Länder, ›aufbrechen‹ konnte und immer wieder aufzubrechen droht, schließt den Kreis der Wachsamkeit, aber eben auch der Verblendung.

Gegen ›Monster‹, das bekräftigen alle relevanten gesellschaftlichen Kräfte, wann immer ihr Bekenntnis gefragt ist (und dem Rest der Gesellschaft wird es mit allen Mitteln suggeriert), hilft nur Geschlossenheit – vorausgesetzt, die Auszeichnung geschieht durch die gesinnungsführenden Organe der Gesellschaft. Das erinnert vehement an Sündenbock-Theoreme, wie sie zuletzt René Girard in großer Eindringlichkeit ausgearbeitet hat. Irgendwie erzeugt die moderne ›Verfassung‹ auch kulturelle Differenz – realiter mit Hilfe unterschiedlicher Schul- und Rechtssysteme, ›irgendwie‹ deswegen, weil dem Verfahren die Tendenz zur Übertreibung innewohnt. Weit davon entfernt, den Bedrohungsfaktor Fremdheit abzubauen, schafft sie quasi rituell Bedrohungsszenarien, bei denen schwer oder gar nicht zu entscheiden ist, ob es sich um Wahngebilde oder Gefährdungen realer Art handelt. Nur dadurch kann – auf einer xenophobiegetränkten Alltagsebene – der Fremde gleichzeitig als Mitmensch, Freund, Geliebter/Geliebte, Mitarbeiter, Mitbürger und als kulturelles Hybridwesen, als ›Monster‹ ›wahr‹-genommen werden, gleichsam in der Konservenform einer der Lüge geschuldeten Wahrheit. Doch was für den Fremden gilt, gilt für den Nächsten nicht minder – vorausgesetzt, er erfüllt eines der Kriterien, nach denen sich mehr oder weniger beliebig ›Befremden‹ erzeugen lässt. Ein solches herbeiformuliertes, womöglich unter den beteiligten Akteuren abgestimmtes Befremden kann für Personen, auf die es zielt, den sozialen Tod bedeuten und soll es in vielen Fällen wohl auch; es hinterlässt aber im Gedächtnis der Beteiligten eine schwärende Wunde, die zu schließen in niemandes Macht steht, gleichgültig, ob es sich um eine private Affäre oder um eine staats- oder gemeinschaftsaffine Aktion handelt. ›Befremden‹ bedeutet: mit dieser Person oder diesen Personen da ist nicht mehr zu diskutieren. Was immer die andere Seite noch vorzubringen weiß, es fällt, von ›unsäglich‹ bis ›unerträglich‹, unter die obligaten Rubriken – und zwar ›ab jetzt‹: So soll es sein – so wird es sein (mit diesem Titel begann das Kölner Biermann-Konzert 1976: eine doppelte Provokation des damaligen DDR-Liedermachers, der, aus poetischer Eigen-Macht, die kollektive Ausschlussgebärde gegen das ausschließende Kollektiv wandte und damit schließlich und vorläufig letzten Endes, sich auf der ›richtigen Seite‹ der Geschichte wiederfand – wenngleich mit dem Zusatz, dass die ›rote‹ Utopie darüber irgendwann verlorenging. Dergleichen geschieht eher selten im Liede, die Prosa des Alltags sieht in der Regel nüchterner aus).

4.

Lügen als ›Signatur‹ der Moderne – das meint, wie gesehen, mehr und anderes als die vage Vorstellung, in anderen Epochen sei es womöglich wahrheitswilliger unter den Menschen zugegangen als unter dem übermächtigen Druck der bestehenden Verhältnisse. Latours griffiger Buchtitel Wir sind nie modern gewesen hebt ja gerade die suggestive Komponente am Modernsein hervor: Moderne wäre demnach die Epoche der vollendeten Selbsttäuschung ihrer Bewohner über ihr faktisches Tun und Denken. Diese Selbsttäuschung wäre aber, genau besehen, weder Wahrheit noch Lüge, vielmehr ein Gewebe aus beidem: schließlich hat sie mit gewissen Vorstellungen gebrochen, in deren Licht sie auf nichts weiter als einem Konglomerat aus Lügen beruht, weil sie vom unzureichenden Charakter jener Vorstellungen, die sie gut zu kennen glaubt, tief und redlich überzeugt ist. Das berühmte ›nichts als‹, mit dem Karl Marx alle existierenden Konzeptionen der Geschichte beiseite fegt, um sie als eine Abfolge von Klassenkämpfen zu ›begreifen‹, erinnert nicht von ungefähr an das ›non aliud‹ des Nikolaus von Kues, das ›Nichtandere‹, in dem sich niemand anderes als der Gott der Metaphysik verbirgt. Moderne als Metaphysik-Kritik ist immer auch Metaphysik-Zitat, wobei die Ur-Lüge des durchgestrichenen Gottes als Instrument einer Recherche eingesetzt wird, die sich nicht in den Formen der Tradition beruhigen darf, weil dies dem geschärften Wahrheitssinn zuwider liefe.

Man kann es dem Arbeitskräftehunger einer mehr den Rendite-Vorstellungen einer internationalen Anlegerschaft als den Belangen der Bevölkerungen verpflichteten Ökonomie nicht verdenken, dass sie sich an derlei Überlegungen nur mäßig interessiert zeigt. Das sollte das Nachdenken darüber nicht verhindern, dass und warum in der gegenwärtigen ›Flüchtlingskrise‹ auch solche Fragen virulent sind. Der massenhaften Einwanderung aus Ländern, die nicht etwa – wie die ländliche ›Arbeiterreserve‹ des europäischen 19. Jahrhunderts – in vormoderner Schlichtheit verharren, in denen vielmehr der Kampf gegen die ›gottlose Moderne‹ des Westens voll entbrannt ist, lässt sich mit zwei einander entgegengesetzten Hypothesen begegnen: die eine – meinungsbeherrschende – sieht in ihr den Exodus ›zivilgesellschaftlich‹ geprägter Bevölkerungsteile, die vor den fundamentalistischen Wirren ihrer Heimatländer in den sicheren Hafen des aufgeklärten, vom Geist der Moderne geprägten Europa flüchten, die andere, populismusverdächtige, meint in ihr die Ankunft fundamentalistisch geprägter Träger eines religiös-kulturellen Bazillus zu erkennen, der über kurz oder lang den Wertekanon und die kulturellen Errungenschaften der Gastländer in Makulatur zu verwandeln droht.

Über die Alternative lässt sich trefflich streiten, vor allem dann, wenn man die weltanschaulichen Entscheidungen kommender Generationen gleich mit zu antizipieren versucht. Mir scheint aber, dass man sich selbst damit einen gewichtigen Teil des Problems verdeckt, das heißt, in jener stratifikatorischen Selbsttäuschung befangen bleibt, die, mit Hilfe ebenso einfacher wie fundamentaler Negationsakte, Wirklichkeit bestimmt – oder zu bestimmen vorgibt –, um schließlich hilflos im Netz der selbstgewirkten Vorgaben zu zappeln. Das beginnt schon beim Wort, denn das Gros der Menschen, die in diesen Tagen in leicht gespenstisch wirkender medialer Einmütigkeit als ›Flüchtlinge‹ deklariert werden, teilt sich auf in klassische Flüchtlinge, also Vertriebene und Exilsuchende, auf der einen und Migranten, das heißt ›Aus-‹ bzw. ›Einwanderer‹ auf der anderen Seite. Auch wenn menschliche Neugier und die Wechselfälle des Lebens dafür sorgen, dass die jeweiligen ›Kontingente‹ nicht völlig disjunkt sind oder bleiben, so werfen die Gruppenzugehörigkeiten nicht nur unterschiedliche juristische und integrationspolitische Fragen auf, sondern lassen Rückschlüsse auf ganz unterschiedliche, durch keinen behördlichen ›Ansatz‹ homogenisierbare Motivationen zu.

Allerdings verschwinden die Unterschiede auf wundersame Weise, sobald man sich das postkoloniale Besteck zu eigen macht, das von den Kulturwissenschaften in den letzten Jahrzehnten entwickelt wurde. Dann ist es koloniales Denken, das von der Repeuplierung eines vergreisenden und mit schrumpfenden Bevölkerungszahlen hadernden Europa schwärmt, sei es aus Arbeitsplatzkalkül, sei es aus Motiven einer erhofften kulturellen ›Bereicherung‹, so wie, am anderen Ende der Skala, koloniales Denken die erhoffte ›Islamisierung‹ Europas in Angriff nimmt. Niemand übersieht dabei die imperiale Geste, den verdeckt oder offen vorgetragenen Machtanspruch, der sich, und zwar von beiden Seiten, die binnen weniger Jahrzehnte zu quasi-autochthonen Ethnien geschrumpften ›Staatsvölker‹, soll heißen, die nationformenden und -repräsentierenden Mehrheitsbevölkerungen zu unterwerfen gedenkt. Massenhafte und stetige Einwanderung aus kulturell differenten Gebieten ist die Achillesferse der ›klassischen‹ Nationalstaaten. Gerade das qualifiziert sie zu einem festen, wenngleich nicht gänzlich berechenbaren Partner des Postnationalismus, sei es der Gesinnung, sei es bürokratischer Verwaltungsgebilde mit Tendenz zu beginnender Staatlichkeit wie im Fall der EU.

5.

Kleine Digression: anlässlich der Feiern zum dritten Oktober konnten Passanten im Jahr 2015 auf dem Potsdamer Platz in Berlin ein Demonstrationsplakat besichtigen, auf dem sinngemäß zu lesen stand: »Die Mauer wurde beseitigt, damit wir zusammen Krieg führen.« Das klingt nach historischer Verblendung. Allerdings fällt auf, dass die Parole das politische Miteinander der Nation nicht als ideologische, sondern als reelle Größe behandelt – mit dem Zusatz, der Zweck der nationalen Veranstaltung sei der Krieg. Das legt den Umkehrschluss nahe, der Friede mache die Nation überflüssig. Diese – von vielen geteilte – Überzeugung einmal akzeptiert, bleibt die Frage: Macht er sie auch unsichtbar? Und, falls ja: wäre diese Art des Verschwindens gleichzusetzen mit ihrer Diffusion und letztlich ihrem Absterben? Auf jemanden, der die Nation für ein zu bestimmten Zwecken willkürlich ersonnenes Konstrukt hält, wirken solche Fragen selbstverständlich obsolet. Für ihn war vermutlich die ›alte‹ Bundesrepublik ein postnationaler Staat mit einer postnationalen Gesellschaft und die ›sozialistische Nation‹ der DDR ein Garant der internationalen Friedensordnung. Dass er sich selbst (und damit zwangsläufig andere) täuscht, also womöglich ›belügt‹, insbesondere dann, wenn er über Zugang zu wissenschaftlichen Denkweisen verfügt, sollte Anlass genug sein, die Aufmerksamkeit auf die Löcher und Lücken zu lenken, die unsere Weise, öffentlich zu denken, mit wiederkehrender Monotonie zu produzieren scheint.)

6.

Zurück zum Thema.

Jemand, der sich der Erforschung solcher Löcher gewidmet hat, in denen elementare Überzeugungen ebenso wie Individuen und Bevölkerungsgruppen oder ganze Nationen virtualiter verschwinden können, ist der Literaturwissenschaftler Homi Bhabha. In einem Roundtable-Gespräch an der Wiener Universität (2008, in: Über kulturelle Identität, 2012) stellt er der Einsicht in den Prozess der Hybridisierung und damit in die Binnenstruktur der Hybride, wie sie die kulturellen Strategien der Moderne zwangsläufig erzeugen, ein ›Narrativ‹ aus der klassischen Zeit des europäischen Kolonialismus voran, das die Bekehrungspraktiken britischer Missionare gegenüber der indischen Landbevölkerung und deren Reaktion darauf zum Gegenstand hat. Die indischen Kleinbauern, so Homi Bhabha, lassen sich von den Kolonisatoren das, was man heute ›soziale Errungenschaften‹ nennen würde, also »Bildung, Kleidung, medizinische Versorgung«, gern gefallen, verweigern aber, bei allem ›Respekt‹, den sie den fremden religiösen Führern entgegenbringen, die am Ende erwartete Konversion. Zwei Gründe geben dabei den Ausschlag: die zu erwartende Feindschaft der hergebrachten, religiös definierten Gemeinschaft und das Bewusstsein der eigenen Identität. »Man wollte auch deswegen nicht konvertieren, weil man ein gewisses Gespür dafür hatte, wer man war und was die eigene Gemeinschaft war«. Und er fährt fort: »Jedoch konnte man auch nicht sagen ›Vielen Dank, wir mögen die Medizin und die Bildung, aber bleibt uns mit der Bibel vom Leib‹.«

Ein recht vertraut anmutender Konflikt also, bei dem sich, den heutigen westlichen Standard zugrunde legend, der Medizin und der Bildung ohne weiteres die Freizügigkeit und die Grundsicherung, die Freiheit der Religionsausübung und der Meinungsäußerung sowie das Recht, sich zu politischen und sonstigen nicht-kriminellen Vereinen zusammenzuschließen, hinzufügen ließen, soweit das Lockpotenzial der zu Migrationszielen mutierten Kernstaaten der Zivilisationsagenda in Rede steht, während die Bibel bequem gegen die zivilreligiösen und konstitutionellen Grundtexte der jeweiligen Gesellschaften und ihr Deutungs- bzw. Geltungsmonopol ausgewechselt werden kann. Die Situation ist reziprok, denn natürlich hätten auch die europäischen Eroberer – in einer Art interkulturellen Gabentausches – sich zum Hinduismus oder einer der landschaftstypischen Religionen bekehren können. Doch davon ist, außer bei einigen als bizarr gehandelten Außenseitern, nirgends die Rede.

Wie lösen, Homi Bhabha zufolge, die indischen Kleinbauern den Konflikt? Wägen wir seine Worte:

In meiner Archivarbeit verfolgte ich insbesondere die Arbeit eines bestimmten Katecheten mit einer Gruppe von Leuten. Es war sehr schwierig zu bewerkstelligen, aber dann begann ich, einen roten Faden zu entdecken – der Punkt, von dem her ich die Theorie der Hybridisierung ausarbeitete, fand sich genau an der Stelle, an der die Menschen sagten: ›Danke, was ihr sagt ist vollkommen richtig, euer Gott ist wundervoll und gütig. Wir haben diese Gaben empfangen und wir würden sehr gerne übertreten. Warum auch nicht, ihr gebt uns so viel, seid so freundlich zu uns, aber trotz alledem können wir nicht. Es gibt da nämlich ein handfestes Problem: Ihr esst Fleisch und das Wort Gottes kann nicht aus dem Mund von Leuten kommen, die Fleisch essen. Es tut uns leid, denn wir lieben euch sehr.‹

Homi Bhabha bezeichnet das, was sich in dieser Rede zwischen den Kleinbauern und dem Katecheten auftut, als ›Dritten Raum‹, als ein neues semantisches Feld,

auch wenn es unter Druck aufgebaut worden war, und es ergab sich dadurch eine Möglichkeit, sich mit der Macht auseinanderzusetzen, auch wenn man selbst keine oder relativ wenig Macht hatte, aber dennoch über die Autorität der semiotischen Werkzeuge verfügte.

Die so gewonnene Autorität nennt er zwar ›subaltern‹, aber es ist klar, dass dies eine statische Beschreibung bleibt, die allenfalls den Anfang des damit eingeleiteten Kräftemessens charakterisiert, an dessen Ende, aufs Ganze gesehen, die sukzessive Emanzipation der unter Fremdherrschaft geratenen Bevölkerung des Subkontinents und das Scheitern des Kolonialsystems steht. Daher sollte auch der Gedanke, hier einer nicht-konfrontativen, da nicht-identitären Kommunikation auf der Spur zu sein, mit einer gewissen Vorsicht genossen werden.

Was ist geschehen? Die Kleinbauern, die begreifen, dass sie nicht einfach auf ihren Glaubensvorstellungen beharren können, weil die überlegene Macht der anderen Seite sie zum Taktieren zwingt, lassen sich auf die ihnen oktroyierte Wahrheitsfrage ein, indem sie eine neue, in keinem der beiden Glaubenssysteme vorgesehene Identität konstruieren: die von Personen, die zwar die Wahrheit gepachtet zu haben scheinen, aber unfähig sind, sie auszusprechen, weil ihnen dafür ein notwendiges Legitimationselement fehlt, das nur dem eigenen Überzeugungsfundus entnommen werden kann. Dies mag sich, das gegebene Beispiel vor Augen, ›witzig‹ oder ›listig‹ anhören, verweist aber indirekt auf eine nicht zu behebende Schwierigkeit: verhandelbar bzw. Gegenstand eines interkulturellen Gabentausches kann nur sein, was nicht zum Kernbestand des kulturellen Systems oder der jeweiligen religiösen Überzeugungen gehört. Die nicht-identitäre Rede, die jedoch neue Identitäten schafft, gewinnt ihre strategische (im Gegensatz zur elementar-semiotischen) Bedeutung daraus, dass sie Hindernisse auftürmt und dadurch Umwege erschafft, die auf den ersten Blick leicht zu bewältigen sind, auf lange Distanz hingegen den Gegner resignieren lassen, weil der argumentative Sinn in den nicht endenden Disputen verlorengeht, während der Zweck, die andere Seite durch Hinhalten zu zermürben, solange die realen Machtverhältnisse nichts anderes erlauben, immer deutlicher hervortritt. Dabei ist es letztlich gleichgültig, ob ein Kopftuch oder ein spezieller ›Fundamentalismus‹ die interkulturelle Debatte anheizt: die Frage, ob das eine oder andere die ›wahre‹ Religion repräsentiere, erweist sich als gerade gut genug, um einen Irrgarten aus Pseudo-Argumentationen anzulegen und stetig zu vergrößern, aus dem keinerlei Entkommen möglich ist, wohingegen ihre strategische Dimension sich erst dann völlig erschließt, wenn man die Kraft der Proselytenmacherei und die faktische Mehrung von Anhängerschaften in Rechnung stellt, die keine Schwierigkeiten damit haben, sich über durch Hybridisierung sekundär erschaffene Identitäten zu definieren. In diesem Sinn bringt etwa der Fundamentalismus den angestammten Reichtum einer Religion und ihrer diversen Auslegungsspektren zum Verschwinden – aber doch nur, um ihren Kernbereich zu funktionalisieren und sich – im Gegenzug – für ihren Behauptungswillen funktionalisieren zu lassen. Wie fanatisch und übereilt auch immer die jeweiligen Kämpfer zu Werke gehen mögen – am Ende stehen Geländegewinne von Instanzen, deren ziviles Beiseitestehen nicht mit Unbeteiligtsein verwechselt werden sollte.

Wenn Homi Bhabha auf die selbstgestellte Frage »Ist eine Migrantin ein hybrides Subjekt?« antwortet: »Ja, die Migrantin ist ein hybrides Subjekt, jedoch ist es für den Nachweis der Hybridität nicht hinreichend zu sagen, dass die Person teils Hindu, teils Christin, teils Parsin, teils Österreicherin, teils Slowenin usw. ist«, Hybridisierung vielmehr als »ein Prozess, eine Bewegung« zu verstehen sei, als eine Folge bzw. ein Geflecht aus ›Verhandlungen‹ bzw. ›Interaktionen‹, dann ist dies einerseits eine notwendige Klarstellung, die der falschen Frage nach unauflösbaren Identitäten eine Abfuhr erteilt, andererseits lässt es die strategische Fokussierung unerwähnt, die in solchen Partizipationen wirksam ist und aus einem inmitten eines komplexen soziokulturellen Ambientes relativ gesichtslos agierenden Wesen erst eine Person werden lässt, die fähig ist, im gegebenen Rahmen Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen zu fällen, die ein klares Muster aus Loyalität und Distanz erkennen lassen.

Man kann Hybridisierungsvorgänge nach Art der hier verhandelten Beispiele durchaus als ›Integration‹ bezeichnen, solange man des Umstands gegenwärtig ist, dass jede Art von Interaktion, von den sanftesten bis zur brutalsten, auch integrative Funktionen erfüllt. In gewisser Weise bleibt den Autoritäten der Zivilgesellschaft, denen die Wahrung des sozialen Friedens aufgetragen ist, nichts anderes übrig, als diese Sicht der gesellschaftlichen Dinge zu präferieren. Das schließt die – moralische und juristische – Verurteilung von Gewaltanwendung nicht aus: auch sie dient zweifellos integrativen Zwecken. Naiv allerdings – und darüber hinaus fahrlässig – wäre es, zu glauben oder glauben zu machen, eine allein nach diesem Muster integrierte Gesellschaft könne als konfliktneutrale oder sogar (im Sinne gemeinschaftsbildender Organisationsformen) konfliktentschärfende ›Institution‹ verstanden werden – nach dem bekannten Motto: »Wir schaffen das!« Was ›wir‹ schaffen, ob ›wir‹ es schaffen und wer ›wir‹ sind, die da als ›schaffend‹ apostrophiert werden, hängt von strategischen Entscheidungen ab, die von Individuum zu Individuum, von Lebenssituation zu Lebenssituation, von Gruppe zu Gruppe, von Generation zu Generation, von historischer Konstellation zu historischer Konstellation anders ausfallen können. Wissen können wir nur, dass sich in ihnen die rastlosen Spiele der Identität vor dem weitesten Horizont einer unokkupierbaren Zukunft vollziehen. Wir, das heißt virtualiter alle am Prozess Beteiligten, kennen die Akteure, ihre vermeintlichen Stärken und Schwächen, ›wir‹ können auf Risiko spielen oder Risikominimierung betreiben, aber wir sind nicht Meister des Spiels.

7.

Man kann Probleme, die jeden überfordern, der sich ihnen nähert, dadurch zu lösen versuchen, dass man sie in Beton gießt. So entstehen Denkmäler für Uneingeweihte, die vor allem einen Sinn haben: den zu verdecken. Verdeckt werden kann vieles, z.B. ›worum es ursprünglich ging‹, ›worum es wirklich ging‹, was einer oder mehrere der Beteiligten ›wirklich gesagt‹ beziehungsweise ›gemeint‹ haben, und natürlich auch – dies gilt insbesondere für den Bereich offizieller Berichte, mit denen die Tätigkeit von Untersuchungsausschüssen, Wahrheitskommissionen und dergleichen ihren rituellen Abschluss findet –, wer wann und an welcher Ereignisstelle an den untersuchten Vorgängen überhaupt beteiligt war. Fällig sind solche Berichte, wenn das Kind einmal mehr in den Brunnen gefallen ist oder wie die jeweilige Formel für das gerade zu bewältigende Desaster lautet.

›Wahrheitsrituale‹ nenne ich Rituale, die das gesellschaftliche Interesse an ›Aufklärung‹ und ›Tatsachenfeststellung‹ in bestimmte Bahnen lenken und mit Hilfe unterschiedlicher Verfahrensregeln finalisieren. Der soziale Friede steht hier deutlich höher als das unmittelbare Interesse an der Wahrheit. Die Verbindlichkeit des Rituals soll die Verbindlichkeit der Ergebnisse garantieren oder zumindest suggerieren. Die populäre Fassung dieser Meta-Konstruktion lautet bekanntlich: »Das Volk will belogen sein.« Ein heikler Satz, der, genau besehen, die Ur-Lüge aller Volksvertretung artikuliert, nämlich die vom ›Volkswillen‹ als der obersten Quelle aller ›kollektiven‹ Verblendung. Wie die meisten populären Lügenvorwürfe verdankt sich auch dieser einer Aporie bzw. einer aporetischen Konstruktion: ist der Volkswille nichts als eine nützliche oder auch schädliche Fiktion, mit deren Hilfe sich die Macht gegen den Unwillen der Beherrschten absichert, dann lügt zwar, wer sich ihrer bedient, aber er bedient damit auch den realen Willen des Volkes, über den herrschenden Willen zu verfügen – jedenfalls unter der Bedingung des ›gesetzten‹ und als solchen ›gesperrten‹ Gottes, also unter Voraussetzungen, die der Religionswissenschaftler Charles Taylor ›neo-durkheimianisch‹ genannt hat, um damit anzudeuten, dass der moderne Staat in seiner klassisch-liberalen Ausbildung als reale Erfüllung des Freiheitsgedankens kein Heiliges neben und über sich dulden kann, aber seiner ebenso bedarf, um zu überleben: ein Paradox, zweifellos, aber eines, an dem Blut klebt.

Notizen für den schweigenden Leser

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