Das Ungelebte

Studie

Die versiegelte Welt Teil 1

Das Ungelebte... was ist das Ungelebte? Nun, es wäre das nicht Gelebte, das, was übrig blieb vom vollen Leben, der große oder kleine Rest, weil der Tod ihn abschnitt oder die Moral oder eine kranke Gesellschaft oder das Leben selbst, das leider anders verlief, als es fühlte, um den Widerspruch einmal auf diese Ebene zu legen. So denken die Leute, so denken die Ratgeber, so denken die Therapeuten, so denken alle, deren Geschäft darin besteht, Leuten nach dem Munde zu reden, die sie im Grunde ihres Herzens nichts angehen. Die Moral des Verändere dich! erzeugt all die ungelebten Leben, die zwischen den Lebenden herumgeistern und sich im Wunschtakt vermehren.

›Es gibt kein richtiges Leben im falschen‹ – mit diesem Spruch, der nie wegging, schiebt sich das Grundbeleidigtsein zwischen die Lebenden und verlangt mehr: das historische, menschliche, private, intime Surplus, das Leben, das jedes Verlangen nach einem Leben danach auslöscht, weil es in sich voll, strahlend und ohne Differenz dahinzieht. Im Grunde also ein postchristlicher Versuch, das christliche Versprechen hier und jetzt eingelöst zu bekommen. Dafür drückt man sich gern an den Schaltern dieser Welt herum, voller Zuversicht, doch einmal dran zu kommen, also voll des Glaubens, der Unglaube müsse sich am Ende als Schlüssel zu dem Tresor erweisen, in dem die Jenseitshoffnung ihre Schätze verwahrt.

Das hört sich, bei aller Melancholie, die es verströmt, ein wenig lächerlich an, was die robusten Praktiker, die sich wirklich verändern, von allen am besten wissen. Das Ungelebte kommt mit, bei allen Aus-, Um- und Einzügen ist es dabei, es nimmt weder ab noch zu, denn es ist die Summe dessen, was in einem Leben nicht realisiert werden kann, und das geht immer gegen unendlich. Warum also nicht das Unendlichkeitsspiel spielen, statt die eigene Kraft an immer neue Versuche zu verschwenden, ein Spiel zu wenden, das so offenkundig gezinkt ist? So denkt Rennertz, der romanhaft Abwesende im Zentrum der Tast- und Denkverläufe, die das Unzugängliche erkunden sollen, und schafft sich eine zweite, existenzlose Existenz. Nur der Erzähler fremdelt mit dem Gedanken, er denkt an Vollendung, wenn schon nicht des eigenen, so wenigstens des fremden Wurfs. Er ergreift seine Chance, ich nenne diesen Teil: Versuch (1).

Ulrich Schödlbauer: Das Ungelebte. Studie, Manutius Verlag Heidelberg (Edition Zeno) 2007, gebunden, 304 Seiten. ISBN 978-3-934877-54-2
Bibliotheken: WorldCat, Open Library
Verlagsinformation

 

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Notizen für den schweigenden Leser

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