Die Straße des Exzesses führt zum Palast der Weisheit.
William Blake

1.

Ein Impuls, sich mit Thomas Körners S oder Die Geschichte eines Steines1 zu befassen, könnte jener Ästhetik des Exzesses gelten, die bisher eher intuitiv gesichtet wurde und dabei regelmäßig als eine Anwendung der Ökonomie der Verschwendung auftaucht. Dem mag ein Irrtum zugrunde liegen oder, wie in einem solchen Fall gern gesagt wird, eine gewollte Kategorienvertauschung. Dass Kunst, darunter auch Literatur, ›Luxus‹ sei, also Verschwendung, diese Auffassung hat vermutlich mehr mit moralischen als mit ökonomischen Kategorien zu tun. Das gilt auch dann, wenn im einen oder anderen Fall die Arbeit eines Künstlers, eines Literaten oder ›Schriftstellers‹ in Anbetracht der erzielten Summen übel investiert zu sein scheint, jedenfalls dann, wenn man sie an dem ökonomischen Erfolg misst, den ein ähnlicher Aufwand ihm in einer anderen Branche vermutlich beschert hätte.

Ausschließen lässt sich dergleichen nicht, auch wenn alles in allem der Eindruck überwiegt, dass sich ein eingeborener Geschäftssinn auch durch das Metier Literatur nicht beirren lässt. Doch die relative Marktferne der Art von Literatur, um die es hier geht, lässt den Gedanken eher überflüssig erscheinen. Bei einigem Wohlwollen könnte man es als eine erste Verschwendung ansehen, sich über die ökonomische Ertragsseite von Literatur den Kopf zu zerbrechen – auch wenn sie zweifellos nicht übersehen werden sollte. Faktisch wird vom Schriftsteller verlangt, sie als privat von der Art der Produktivität zu trennen, an deren Ergebnissen er gemessen werden möchte. Man kann das befremdlich finden, aber es geschieht nicht gänzlich ohne Grund.

Der Exzess, um diesen Ausdruck aufzunehmen, besteht ja zunächst in dem Impuls, aus der Sphäre des Kapitalerwerbs oder des ökonomischen Funktionierens auszubrechen, um etwas zu schaffen, das außerhalb jener Sphäre einen ›Wert‹ besitzt. Dieses Etwas muss keineswegs ein ›Werk‹ in der trivialen Bedeutung eines hergestellten sinnlichen Objekts sein. Es wird sogar immer eher Züge dessen tragen, was ein Schriftsteller als ›Ich‹ bezeichnen würde: ein hergestelltes, jedenfalls in und aus Prozessen sich ergebendes Produkt seiner Tätigkeit, das vom eigenen Leben schlechterdings nicht abgelöst werden kann und sich doch von ihm abgelöst betrachten lassen muss, damit es als gegeben angesehen werden kann. Die Einladung an die Leser, das Gegebene zu besichtigen, ihm durch Lektüre zu begegnen oder wie die Vokabeln lauten mögen, ergeht in Form der Zurschaustellung von etwas, das zweifellos als ein durch Anschauung, Lektüre etc. ›konsumierbares‹ Objekt zu verstehen ist, aber wohl nicht nur.

Man versteht eine solche Einladung nicht oder nur sehr partiell dadurch, dass man sie annimmt. Allenfalls stattet man sie mit jener zweifelhaften Dignität aus, die sie als real ergangen kenntlich macht. Eine Einladung, an der, auf die Masse möglicher Konsumenten bezogen, fast jeder vorbeigeht, vielleicht sogar, aus zu erörternden Gründen, mit einer gewissen Zwangsläufigkeit vorbeigehen muss, kann nicht ganz ernst gemeint sein, genauso übrigens wie eine, die sich ostentativ an alle richtet – wer immer damit angesprochen sein mag. Das mögen Extreme sein, doch exakt zwischen diesen Extremen spannt sich die Erwartung des Schriftstellers, es möge einen Leser geben – am besten einen in allen –, der das allgegenwärtige Rezeptionsgewebe zerreißt und bereit ist, ihm in dieses spezielle Jenseits zu folgen, als das man das sich im Text objektivierende und im Text bereits wieder untergegangene Ich ansprechen könnte. In gewisser Weise zitiert sein Verhältnis zum Leser die mit dem Argument auftrumpfende Wette Pascals, dass die mit dem Glauben an Gott verbundene Erwartung die des Unglaubens aussticht. Und diese Ähnlichkeit besteht keineswegs nur äußerlich, insofern die Sicht des Schriftstellers den Leser automatisch zum Gott erhebt oder in eine gottähnliche Position verschiebt. Dass kein empirischer Leser diese Stelle ausfüllen kann, ist evident (und führt dazu, dass das Gros der empirischen Schriftsteller von einer solchen Vorstellung nichts wissen will). Auch dass es sich um ein exzessives Grundverhältnis handelt, um eines, das aus den Kommunikationsgegebenheiten heraustritt und eine Art Meta-Kommunikation postuliert, die es wiederum durch die Art der Erwartungs-Vergewisserung zerstört, ist leicht einzusehen.

2.

Auf der Suche nach dem Exzess stoßen wir unweigerlich auf die Klassiker.

Jedes Kunstwerk steht um so höher, je mehr es zugleich den Eindruck einer gewissen Notwendigkeit seiner Existenz erweckt, aber nur der ewige und notwendige Inhalt hebt auch gewissermaßen die Zufälligkeit des Kunstwerks auf. Je mehr die an sich poetischen Gegenstände verschwinden, desto zufälliger wird auch die Poesie selbst; keiner Notwendigkeit sich bewußt, hat sie um so mehr das Bestreben, durch endloses Produzieren ihre Zufälligkeit zu verbergen, sich den Schein von Notwendigkeit zu geben. Den Eindruck der Zufälligkeit können wir auch bei den anspruchsvollsten Werken unserer Zeit nicht überwinden, während in den Werken des griechischen Altertums nicht bloß die Notwendigkeit, Wahrheit und Realität des Gegenstandes, sondern ebenso die Notwendigkeit, also die Wahrheit und Realität der Produktion sich ausspricht. Man kann bei diesen nicht, wie bei so manchen Werken einer späteren Kunst fragen: Warum, wozu ist es da? Das bloße Vervielfältigen der Hervorbringung kann ein bloßes Scheinleben nicht zum wirklichen erheben. Auch braucht man in einer solchen Zeit die Hervorbringung nicht noch eben besonders zu befördern, denn das Zufällige hat, wie gesagt, von selbst die Tendenz, als ein Notwendiges zu erscheinen, und darum die Neigung, sich ins Ungemessene und Grenzenlose zu vermehren, wie wir denn heutzutage in der Poesie, die von niemand gefördert wird, ein solches wahrhaft end- und zielloses Produzieren wahrnehmen können.2

Soweit Schelling in den Vorlesungen zur Philosophie der Mythologie. Vom Mythos – Schellings ›Mythologie‹ – her betrachtet trägt das Kunstwerk den Makel der Zufälligkeit, den es zu verbergen trachtet. Vielleicht verbietet sich auch der Ausdruck ›Makel‹ an dieser Stelle, doch fragt man sich dann vergeblich, was es wohl zu verbergen gebe. Schelling setzt hier ausdrücklich ›Kunstwerk‹ und ›Poesie‹ ineins, so dass sich kein Gefälle konstruieren läßt, das die Poesie in eine größere Nähe zum Mythos brächte. Demnach trägt die Poesie eine Zufälligkeit in sich, die sie durch ›endloses Produzieren‹ zu verbergen trachtet, aber natürlich nicht zur Gänze verbergen kann, es sei denn vor einer naiven Leserschaft, der man die jeweils neueste Produktion als die verkauft, die zwingend an der Zeit ist und so und nicht anders geschrieben werden musste. Das Scheinleben, das Schelling der Kunst der prolongierten Hervorbringung attestiert, steht in Kontrast zum wirklichen Leben, wie es offenbar dem Mythos eignet. Die Mythologie, so Schelling, ist überall dort lebendig, wo sie wirkliche, nicht nachgeäffte Mythologie ist, also: natürliche Religion.

Sicher liegt darin eine Wertung, die man, wie andere, auch umkehren kann: so gesehen wäre die Poesie schlecht beraten, wenn es ihr beifiele, den Mythos zu imitieren oder zu prolongieren, um damit der Kontingenz zu entgehen, die ihr, wie es scheint, notwendig eignet, weil sie nicht mit dem Mythos identisch ist, sondern überall von ihm fortgeht. Wenn die Mythologie die Kraft zur Wiederherstellung besitzt, weil sie natürliche Religion ist, also diejenige Religion, auf welche Menschen, unter welchen Bedingungen auch immer, zurückzukommen pflegen, wenn ihnen nichts anderes einfällt oder die Not der Selbstauslegung zu groß wird, um durch begriffliche Distinktionen beruhigt zu werden, dann erscheint die Literatur als eine Gegeninstanz, in der die Kraft fortzugehen virulent und sogar übermächtig erscheint.

Dieses ›Fortgehen‹ – Kants ›Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit‹ –, im Sprachgebrauch der Philosophie ein wenig voreilig auf das Argumentieren (und Hantieren) mit Begriffen festgelegt, findet, folgt man Schellings Argument, in der Literatur ein unübertroffenes Medium. Der Grund läge darin, dass sie genau dies ist: Artikulation von Kontingenz – und zwar, wie die Stelle nicht ohne Süffisanz anzudeuten scheint, ohne Ausnahme. Die Trennung von Mythos und Poesie, einmal vollzogen, ist unhintergehbar. Gäbe es nur den Mythos und keine Poesie, dann wäre alle einschlägige Rede notwendig und die ›Sprecher‹ bewegten sich in einem dichten Netz erzählter Bedeutungen, aus dem es an keiner Stelle ein Entrinnen gäbe, kein ›Nein, so war es nicht – auf alle Fälle könnte es anders gewesen sein, vielleicht so‹. Der Mythos als Mittler zwischen der unbewussten Produktivität der Natur und der bewussten Produktivität des Geistes, um in Schellings Sprache zu bleiben, schließt das ›excedere‹ aus. So leicht ist ihm nicht zu entkommen – schon gar nicht mit den ihm eigenen Mitteln.

Das klingt eigenartig, wenn man bedenkt, dass Schellings ›Mythologie‹ ein Sammelausdruck ist, der die unterschiedlichsten Mythologien und Mythen unter sich fasst. Wie Creutzer vor und neben ihm, wie den hermeneutischen ›Übersetzern‹ des Mythos nach ihm von Bachofen bis Girard ist Schelling an diesem Gewimmel wenig gelegen, es sei denn als Beleg für die These, hier müsse etwas Prinzipielles zu Grunde liegen. Die Klammer – vorsichtig ausgedrückt – um den Mythos wird ein ums andere Mal unterschiedlich gesetzt. Nur in einem kommen die Modelle weitgehend überein: dass wir – ein ominöses, sehr ominöses ›wir‹ – uns auf wundersame Weise von ihm entfernt haben, dass wir außerhalb seiner Kreise stehen und deshalb auf ihn zurückblicken.

In gewisser Weise ist die Klammer, in die jene modernen Hermeneuten den Mythos setzen, um zu demonstrieren, dass ›wir‹ nicht länger in ihm befangen sind, sogar notwendig, um zu begreifen, was der Mythos ist, nämlich dasjenige Denken, das sich selbst nicht begreiflich wird und es nicht werden kann. Schelling nennt die Mythologie »die unvordenkliche, insofern auch allem Denken zuvorkommende Religion des Menschengeschlechts, nur begreiflich [...] aus dem natürlich Gott-Setzenden des Bewußtseins, das aus diesem Verhältnis nicht heraustreten kann, ohne einem notwendigen Prozeß anheimzufallen, durch den es in die ursprüngliche Stellung zurückgeführt wird.« Der ›moderne Mensch‹ ist demzufolge einer, dem der Mythos, den er hinter sich gelassen hat, noch bevorsteht, und zwar ›notwendig‹, was man hier durchaus etwas wörtlicher lesen darf, nämlich als not-wendig, eine Not wendend, die offenbar weder durch die Offenbarungsreligionen noch durch den Vernunftglauben zur Gänze eliminiert wird.

Für die Literatur hieße das: auch sie kann sich dem Prozess des immer erneuten Anheimfallens an den Mythos keineswegs entziehen. An der Mythenproduktion ist sie dann und nur dann beteiligt, wenn diese wirkliche Produktion ist, das heißt nicht nur eine vorgetäuschte und leicht durch Eliminierung der Eigennamen etc. zu enttarnende Pluralität der Erzählungen einschließt. Selbst dass stets die gleichen alten Geschichten erzählt werden, bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie nicht stets auf spezifisch andere Weise erzählt werden, wie Hans Blumenbergs Titel Arbeit am Mythos einst sinnfällig demonstriert hat. Und wer sagt denn, es müssten immer die gleichen alten Geschichten sein? Diese Rückwendung des Erzählens auf den Mythos, sein Einbezogensein in den Mythos im Modus des Fortgehens, besitzt nun tatsächlich die beiden Momente des Schellingschen Produzierens: es ist bewusste Rückwendung überall dort, wo es ›den Mythos‹ erzählt, um ihn noch einmal zu erzählen, und es ist unbewusste Rückwendung überall dort, wo es ihn anders zu erzählen trachtet und damit zwangsläufig davon absieht, dass die ›natürliche‹, sprich gegebene Bandbreite des Mythos das Spiel der Varianten mit Leichtigkeit verträgt, ohne dass er in seinem Kern davon tangiert würde. ›Unbewusst‹ wiederum bedeutet, dass die Rückwendung sich weder begreiflich ist noch völlig begreiflich wird – und zwar gerade im Prozess der Aufklärung über die Ursprünge, der sich in ihrem Fortgang vollzieht.

Man muss also nicht auf die Wunderwelt der griechischen Antike zurückblicken, um sich genötigt zu sehen, hinter die Kontingenz des literarischen Produzierens ein Fragezeichen zu setzen. Mit oder gegen Schelling kann ein Interpret im Zwang zum Fortgehen selbst den Mythos oder das mythische Denken, schärfer noch die anthropogene Konstellation ›am Werk‹ sehen, die den Gott, der verlassen wurde, immer auch bevorstehen lässt. Absolute Kontingenz, sprich Gleich-Gültigkeit der Literatur gegen den Mythos, die Aufkündigung des Einbezogenseins in den Mythos, ist ohne die Aufkündigung der anthropogenen Konstellation nicht zu haben. Da letztere die Exzentrizität, das sich selbst nicht Haben des Bewusstseins im Mythos, bereits einschließt, enthält jeder Versuch einer Aufkündigung zwangsläufig eine Art Vorlauf, eine blanke Fläche oder ein Stück Auskunftsverweigerung über das, was anstelle des mythischen Gottes bevorsteht. Schon der Offenbarungsreligion ist diese Tendenz nicht fremd, insofern sie den Gedanken der Fremdheit ihres Gottes über jeden Auskunftsrahmen hinaustreibt, auch wenn sie ihn letztlich wieder in mythischen Vorstellungen auffängt – was immer das heißen mag.

Völlige Kontingenz erreicht die Literatur demnach dort, wo sie die Auskunftsverweigerung, die ihr seit ihren ersten Versuchen, sich vom Mythos abzusetzen, innewohnt – also die Weigerung, sich zu bekennen, sei es zum geglaubten So war’s, sei es zum nicht-tentativen Anders war’s –, auf den Punkt treibt, an dem sie sich selbst als Mythos konzipiert. Das geschieht spätestens, sobald sie sich als eine stringente Folge von Vereitelungsschritten inszeniert, das heißt, sich konsequent von ihren mythischen Erzähl-Anteilen trennt, wissend, dass sie schon immer im mitvollziehenden Bewusstsein des Lesers am Werk sind, der Bescheid weiß, weil die alten Geschichten in ihm virulent sind und nur einer Projektionsfläche bedürfen, um hervorzutreten und ihr imaginatives Spiel zu beginnen.

Nicht zufällig erinnert das Wort Projektionsfläche an die Kinoleinwand. Das Kino hat solche Effekte von Anfang an systematisch ausgebeutet, mit dem Erfolg, dass praktisch niemand sich bei der Paradoxie aufhält, die dem Begriff einer Filmhandlung innewohnt: sie gilt praktisch uneingeschränkt als das Zugrundeliegende, das zu erraten bleibt, weshalb jeder Zuschauer mit seiner Version der Geschichte nach Hause geht.

Wer setzt die Grenze fest, die man ziehen müsste, um einen gesicherten Mythenbestand zu erhalten? Das ist zunächst keine Frage an die Geschichte oder die Ethnographie, eher schon eine nach der Funktion dieser Disziplinen, deren Bestände man durchaus als komplexe Antworten oder Antwortversuche auf diese Frage begreifen könnte, als, nach dem Ausdruck Theodor Lessings, Sinngebung des Sinnlosen, als Substitution des Mythos durch ›Sinn‹ als sekundäre Produktion. Die Sinnlosigkeit des Mythos, hervorgerufen durch ein Sich-außerhalb-Begeben, das sich ebenso unvordenklich bleibt wie der Mythos selbst, also durch Arbeit, bildet die Folie aller Sinngebungsprozesse, deren rüstiges Fortschreiten die Lebenswelt der Zivilisierten auf die Oberfläche des Planeten zeichnet. ›Arbeit am Mythos‹ ist ohne den Begriff der Grenzziehung – der Abgrenzung des Mythos gegen den Nicht-Mythos oder das Nicht-Mythische – nicht zu denken. Der Literatur kommt in diesem Spektakel die Rolle des Abgewiesenen zu, des Herstellers von Varianten, die aus dem einen oder anderen Grund außer Betracht bleiben. ›Nicht gesichert!‹ könnte man über die Erzählungen schreiben, mit denen sich die Literatur ungefragt am Spiel der Deutungen beteiligt. Kein Wunder, dass sie hier und da ins Sichere strebt, dass sie bereit wirkt, das Erzählen zugunsten von Mutmaßungen aufzugeben und, da in den meisten Fällen das Mutmaßen wenig hilft, sich mancherorts damit begnügt, Materialien bereitzustellen, mit denen dann andere etwas anfangen sollen. In der Regel sind diese anderen viel zu beschäftigt, um zu sehen, was ihnen da in die Hände gespielt wird. Einige der allzu abhängig Beschäftigten gehen allerdings hin und wieder ins Theater und einige verraten sich gegenüber ihresgleichen durch ›Bildung‹.

3.

Kontingenz, das wissen Historiker, wird nicht nur konstatiert, sie wird erfahren. Wie schmerzlich Kontingenz-Erfahrungen sein können, musste der westdeutsche Filmemacher Hans-Jürgen Syberberg im Jahre 1977 zur Kenntnis nehmen, als sein 442-Minuten-Opus Hitler – ein Film aus Deutschland in den Strudel der öffentlichen Erregungen des ›Deutschen Herbstes‹ geriet. Der Zusammenhang wurde selten gesehen und noch seltener verstanden. Der Film fiel beim deutschen Publikum und, was damals stärker wog, bei der deutschen Kritik vollständig durch. Syberberg verlor sein Publikum nicht etwa, weil das knappe Gut Aufmerksamkeit nicht für ihn gereicht hätte oder das kulturelle Ausland angesichts des heiklen Themas die Daumen gesenkt hätte. Das Gegenteil war der Fall. Er verlor, weil in jenem Jahr ein ästhetisches Programm in aller Hast außer Dienst gestellt wurde, das fast zwei Jahrzehnte hindurch seinen Protagonisten gute Dienste geleistet hatte. Dieses Programm bestand darin, das, was dem bürgerlichen Kulturbetrieb ›Kunst‹ hieß, in eine Praxis permanenter ›Bewusstmachung‹ zu überführen.

Den Autoren, den Künstlern, den Theater- und Filmemachern diente das Bewusstmachen als ästhetische Praxis – nicht zu verwechseln mit dem traditionellen Sich-Bewusstmachen – keineswegs dazu, psychologisches Faktenwissen oder sich daraus ergebende Konsequenzen unters Volk zu bringen. Seine Aufgabe war es, inmitten einer propagierten Aufbruchsituation im Einzelnen gesellschaftliches Bewusstsein zu erzeugen – und zwar, weil es davon immer mehrere zu geben pflegt, das richtige. Die damals aktuelle politische Aktionsästhetik verfügte über die nicht zu unterschlagende Komponente der Auto-Aggression: Nur wenn es gelingt, diese wirklich schwierigen Dinge, den Anteil einer gewordenen, in jedem Einzelnen virulenten Psyche an einer verkehrten Praxis, an einer verheerten Vergangenheit und einer kaum minder verheerenden Gegenwart in eine Folge destruktiver, aber sehens- und nachahmenswerter Akte zu überführen, kann gesellschaftlicher Fortschritt, sprich: der Übergang in eine humane Praxis, gelingen: so etwa lautete der zugrundeliegende Gedanke. Die wirkliche Geschichte läuft im Kopf des Zuschauers ab, dessen Eigenaktivität mit allen verfügbaren Mitteln stimuliert wird. Eine Spur der Gewaltsamkeit zieht sich von den frühen, polit-ästhetisch motivierten Happenings zu den Selbstmorden von Stammheim, die von offen geübter Gewalt im rechtlichen Sinn unterschieden werden muss. Sie lässt sich an den rituell geschlachteten Hühnchen der Aktionskünstler ebenso ablesen wie an der provokativen Entblößung und Verletzung des menschlichen Körpers und der Gewalt gegen sich selbst, die im subversiven Alltag allenthalben sicht- und fühlbar wird. Der Film als auto-aggressives Medium, das den Raum für diese ›schwierigen Dinge‹ im Zuschauer öffnet, ihn hinzuhören und hinzusehen zwingt, wie es hieß, und zwar so, dass der Zuschauer selbst oder, um es halbwegs objektivierend zu sagen, seine Psyche als Tat-Ort erscheint und der Film eher von ihr auszugehen scheint als dass er auf sie zielte: dieses Konzept hielt Syberberg, nicht ganz allein und nicht ganz zu unrecht, für ›demokratisch‹, es war aber auch eine Zeitbombe, die in dem Augenblick explodierte, als die vom RAF-Terror heimgesuchte bundesdeutsche Gesellschaft hastig nach Sündenböcken für ihre überdeutlich gewordene Entgleisung suchte.

4.

Syberberg wurde erwähnt, weil er zu den exzessiv Ausgeschlossenen des Kulturbetriebs zählt. Man kennt seine Filme, auch ohne sie je gesehen zu haben. Über den Hitler-Film ließe sich sagen, sein Maß sei die Maßlosigkeit, und Syberberg selbst würde ihn darin vermutlich, schon rein äußerlich, Wagners Ring vergleichen. Das bleibt, bei aller gefühlten Nähe des ›Filmemachers‹ zu Wagner, ein Missverständnis, weil das Maß des Films der verschleppte Mythos, genauer: der verschleppte Mythen-Einstieg ist. Syberbergs Film handelt – falls der Ausdruck dem Leinwandgeschehen überhaupt gerecht wird – von jenem unsichtbaren, aber stets anwesenden und sehr fühlbaren Widerstand, gegen den seine historischen Figuren ›mit allen Mitteln‹ angehen, und der sich im Zuschauer in dem Maße aufbaut, in dem sie zu Wort kommen oder mit den Worten des ehemaligen Dienstpersonals umkleidet werden wie mit Hermelin. Dieser Widerstand findet in der Sanftheit der Sprecher-Stimme André Hellers einen entschiedenen Fürsprecher und ein verführerisches Widerspiel: Was wäre, wenn... Wie wäre es, wenn der gewollte und nicht erreichte Mythos wirklich und nicht nur im platten Devotionalien-Sinn in der Gegenwartskultur ankäme, seine ›Macher‹ also, gegen das Branden der Scham und des Entsetzens, es geschafft hätten? Nicht viel anders, so scheint der Film mit allen Mitteln zu suggerieren, nicht anders, vielmehr genau so, wie es ist. Auf diese verstörende Botschaft, die gestern noch die ihre war, konnten – und durften – die Symbol-Konstrukteure des Deutschen Herbstes mit gespieltem Entsetzen und dem Vorwurf der Schamlosigkeit reagieren. Und wirklich fehlt hier die Botschaft vom Anderssein und damit die Botschaft schlechthin, die es den Erzeugnissen der Kulturbranche erlaubt, für einen Moment zu zählen, bevor die Gleichgültigkeit des Erzeugten wie des Erzeugens sie wieder verschlingt.

5.

Thomas Körners nur wenige Jahre später entstandenes Sisyphos-Panorama S oder Die Geschichte eines Steines präsentiert den Mythos vom Anderssein, vielmehr vom Anders-Werden, und es bedarf kaum des Hinweises, dass es auch hier um einen verschleppten Mythos geht, um einen Mythos, dessen Erzählung noch aussteht, ungeachtet der Ausführungen des Autors, die den Leser zugleich unterfordern und überfordern: unterfordern, weil ersterer auf die Bereitschaft des Lesers, die Stimme des Mythos zu vernehmen, das heißt, sich irgendetwas erzählen zu lassen, koste es, was es wolle, nirgendwo eingeht, überfordern, weil dieses Nicht-Eingehen auf das Bedürfnis dem Nicht-Eingehen des ›Systems‹ der realsozialistischen Fünfjahrespläne, dessen Konturen überall durch das Projekt hindurchschimmern, auf die Bedürfnisse der ihm ausgelieferten Bevölkerung spiegelbildlich entspricht.

Hier wie dort dominiert der Plan das Geschehen und hier wie dort erweist sich der Plan als das Undurchführbare, in diesem Fall gleich zu Beginn kenntlich gemacht durch den Untertitel des Werks: Beitrag zur theoretischen Literatur. ›S‹ gleich ›Stein‹ gleich ›Sys‹ gleich ›Sys[ifoß]‹ (!) gleich ›Sys[tem]‹ gleich ›Störung‹: diese Gleichung, die nicht (ganz) aufgehen kann, aber stark genug ausfällt, um jeden Versuch zu vereiteln, sie zu sprengen oder ad absurdum zu führen, verhindert zuverlässig, dass sich das Vorhaben und die Durchführung anders als in der Sprache des Vorhabens, des sich materialisierenden Projekts, also des ›Plans‹, miteinander verbinden. Der Plan ent-deckt die Sprachlosigkeit des Geschehens, er nimmt sie in sich auf und produziert sie, genau betrachtet, da es anders als Modus des Planens nicht zur Verfügung steht. Nur als verfügtes steht das Geschehen zu Verfügung. Seine Wirklichkeit entfaltet es im Kopf des Lesers, dieses anderen Sisyphos, dem sich der erste im Modus der verweigerten Erzählung mitteilt, als Wirkung. Sie ist einerseits leicht vorhersehbar, andererseits unabsehbar, weil der Wunsch, es besser zu machen, während der Lektüre auf der Stelle tritt. Insofern ist die Geschichte eines Steines auch die Geschichte einer (versuchten) ›Ent-Steinung‹. Den Stein loszuwerden, der Götter und Menschen verbindet, ist eine Aufgabe, die nur im Leser möglich erscheint. Und wirklich zerbricht am (geplanten) Ende der Stein und verlangt nach dem Zweiten, der ihn aufnimmt und das Werk ein weiteres Mal ›schultert‹.

S oder Die Geschichte eines Steines erzählt die Geschichte des zum Sys[ifoß] gewendeten Sisyphos, ohne sie zu erzählen. Die Vorüberlegungen treiben den immer möglichen Anfang des Erzählens in einen nicht endenden Rezess. Das liegt in diesem Fall an keiner überströmenden Erzählfülle, die das eigentliche Erzählen zum Appendix verkümmern ließe, sondern daran, dass von den Vorüberlegungen kein Weg zum ›eigentlichen‹ Erzählen führt. Die Konstruktion der Erzählung demonstriert die Defizienz jeder denkbaren Erzählung. Entfernt vergleichbar Brechts Figur des Herrn Keuner, der erbleicht, als ihm ein Bekannter attestiert, ganz derselbe zu sein, erbleicht die Veränderung unter dem Wunsch, von ihr zu erzählen, und flüchtet sich in die Tageshelle des entwerfenden Bewusstseins, als sei sie ein anderes Dunkel, das sie ebenso zuverlässig verbirgt wie die Unwissenheit selbst. Nicht anders als im Film ist die Erzählung das, was sich der Leser nach einer gewissen Gewöhnungszeit ohnehin denken kann oder besser: was zu denken er nicht umhinkommt. Der Mythos entsteht als begleitende Vorstellung im Kopf des Lesers – sofern er entsteht, denn gewiss ist das keineswegs. Vorsichtiger ließe sich sagen: irgendein Mythos entsteht immer im Kopf dessen, der sich dem Plan unterwirft. Irgendein Mythos, soll heißen, jene an sich gleichgültige Fülle denkbarer Erzählungen, die Schelling der modernen Literatur attestiert, ohne dass sie sich, wie gesehen, auf das Moderne daran beschränken ließe.

Man könnte sich fragen, gegen welchen Widerstand diese ›geplante‹ Erzählung angeht, und würde gleich zu Beginn fündig: das Urteil der Götter, dem sich Sisyphos, listig, wie er zeitweise annimmt, beugt, um es durch Arbeit in den Ausgangspunkt für etwas anderes zu verwandeln und durch diese Verwandlung sich zu produzieren, bleibt, allen Anstrengungen zum Trotz, bis ans Ende über den Protagonisten verhängt. Keine Macht der Geschichte ist zur Stelle, es irgendwo oder irgendwann aufzuheben. Dem entspräche das Urteil des Lesers, der ›seinen‹ Sisyphos kennt und von der hier vorgelegten Variante ›Glaubwürdigkeit‹, das heißt Wiedererkennbarkeit verlangt. Wenn also Verwandlung angestrebt ist, so muss diese die verhängte Kenntnis des Endes einkalkulieren. Ermöglicht wird das durch eine Ambivalenz, nicht unähnlich der, an der Syberberg scheiterte: nur im Leser kann das Werk des Sys[ifoß] getan werden, alles andere wäre ›Literatur‹. Der Leser aber verfügt über die Freiheit des Sich-Verhaltens zu dieser Anmutung in weit höherem Maße als der Kinogänger. Stärker als dieser ist er inner- wie außerhalb der Fiktion engagiert. Nicht Bewusstmachung ist der Weg, sondern Bewusst-Sein, inter-esse.

Das Urteil der Götter, einmal vom Protagonisten akzeptiert, verwandelt sich in eine intrinsische Größe: sie konstituiert diesen Sys[ifoß] als Sys, als das kleine System, das dem großen durch Gehorsam Paroli bietet. Das Sklavensystem der Götter dient der Produktion von Macht durch Arbeit. Jedes Mehr an Macht wird konsumiert durch den Aufwand, das System ›am Laufen‹ zu halten. Auch das Urteil, das die Götter über den Aussteiger Sys verhängen, dient der Machtakkumulation: jede produktive Antwort auf eine Störung des Systems lässt die Macht vollständiger erscheinen als zuvor. Sie komplettiert sie auf jener nach oben offenen Skala ihrer Entfaltungen, bei denen es darum geht, Lösungen zu finden, deren Umsetzung dann der Arbeit der Sklaven überlassen bleibt.

6.

Fragt man nach der Natur dieser Götter und ihres Sklavensystems, so bieten sich die bekannten drei Lösungen an: erstens das mythische Regime der Götter, wie der Leser es kennt und erwartet, zweitens die, marxistisch gesprochen, entfremdete Gesellschaft des Kapitals, in der die Eigner über die Arbeiter herrschen, drittens die bürokratische oder Nomenklatura-Herrschaft, in der das Ziel der auf revolutionärem Wege erfolgten Befreiung, der zu sich selbst befreite Mensch, in eine unabsehbare Zukunft verschoben und zum Produkt gesellschaftlicher Arbeit umdeklariert wurde, an der die Nomenklatura sich notabene nicht selbst beteiligt. Rasch erkennt der Leser, dass die dritte Variante gemeint ist. Bald erkennt er indessen auch, dass die anstehende Befreiung nicht den üblichen gesellschaftlichen Kategorien gehorcht. Die vom Erzähler ins Auge gefasste Verwandlung ergibt weder einen ›objektiven‹, ›systemrelevanten‹ oder ›kollektiven‹ noch einen ›subjektiven‹, geschweige denn ›subjektivistischen‹ Sinn. Da sie sich im Leser vollzieht oder gar nicht, sieht sich der Leser von vornherein in die Rolle des Interpreten versetzt, dem sein wichtigstes Material, das Lektüreerlebnis, abhanden gekommen ist.

Der Weg, den Sys[ifoß] nimmt, wird in einer Folge von ›Schaltbildern‹ festgehalten, neun an der Zahl. Schaltbilder sind Ausdruck der Macht des Plans über das Erzählen. Sie sind ›Erfindungen‹ ganz im Sinne der er-fundenen Göttersprüche, die sich in juristische Formen, sprich Anordnungen kleiden und in dieser Form ans Volk, sprich an die Sklaven ergehen. Der Leser ist also als Sklave konzipiert, als einer, dem die Zwecklosigkeit der von ihm zu leistenden Arbeit sub specie des verordneten Ziels der Menschwerdung aufgeht, und zwar im doppelten Sinn der verhängten Sinnlosigkeit sowie des zwecklosen Spiels, das seine Situation rekapituliert, als entrolle sie sich zum ersten Mal. Dieses zwecklose Ziel ist sinn=los in der Weise, dass der einzig produzierte Sinn, die Akkumulation von Macht auf Seiten der Götter, durch die Freiheit des Spiels verschwindet. Für das Sklavensystem besitzt das, was Sys[ifoß] als Tun aufgetragen ist – und von ihm bereitwillig angenommen wird –, keinen Sinn. Darin liegt seine Bedeutung als Bestrafung und darin trifft es sich ironischerweise mit der im System zu leistenden ›sinnvollen‹ Arbeit sub specie der verordneten Menschwerdung. Insofern kommt das Urteil, das ihn zu sinnloser, das heißt gemäß der herrschenden Ideologie nicht der Menschwerdung der Gattung dienender Arbeit verpflichtet, seiner Entfesselung gleich. Es enthebt ihn der falschen Bürde, nicht um ihm die richtige aufzuladen, sondern um ihn die beliebige und daher innerhalb des Systems als sinnlos deklarierte Bürde selbst als Ausfluss des Systems – in der drastischen Sprache des Erzählers als ›Götterscheiße‹ – begreifen zu lassen. Das Wälzen des Steines lässt sich also als ein fortwährendes ›Begreifen‹ des von den Göttern ausgeschiedenen Stoffs verstehen, mit der Pointe, dass das, was von ihnen ausgeschieden wurde, durch sie hindurchgegangen ist und daher ebensosehr von ihnen herkommt, wie es sie hinter sich lässt. Das prozedurale, begreifende Bewegen des Steins als abrollende Selbsterkenntnis ist eins mit der allein in Form dynamischer Prozesse zu realisierenden Erkenntnis, die Götter sowohl hinter sich als auch – in der von ihnen ›geschiedenen‹ Gestalt – vor sich zu haben. Man versteht ganz gut, was der Erzähler meint, wenn er deklariert:

– es geht um Sprucherfüllung heißt: einen bestimmten Weg finden, aus dem der Stein geräumt werden kann; der Weg, der hier ›erfunden‹ wird, heißt ›VERIDEOLOGISIERUNG‹; dass es dieser Weg ist, hat verschiedene Ursachen – die liegen im Sys[ifoß] (Selbständigkeit im Sein) und dem Stein (Gö[tter]sch[ei]ße Historie) und im Gö[tter]System (Vakuole); also: Verideologisierung als Weg der Sprucherfüllung;

– d.h.: eine Abfolge von ›Verhältnissen‹ (Haltungen) von Sys[ifoß], St[ein], Weg […] bis zum End-ergebnis: St[ein] getrennt von Weg durch Sys[ifoß] (Atlas-Pose); die verschiedenen Verhältnisse Sys[ifoß], St[ein], W[eg] sind verschiedene Phasen der Verideologisierung; d.h. der Weg, aus dem Sys[ifoß] den Stein räumen soll, existiert ›eigentlich‹ gar nicht; Weg also Errichtung eines Punktes – zu deutsch Ziel, diesen Weg geht man nicht, sondern steht man; (durch);

Sicher nicht ohne Grund erinnert Körners Version des Sisyphos-Mythos an Hegels Dialektik von Herr und Knecht. Die Differenz liegt im Ausgang: die Götter bleiben die Götter und für jeden Sys findet sich (mindestens) ein anderer. Der Mythos bleibt ausweglos, aber er markiert nicht das Ende. Schon gar nicht ist die Errichtung des ›Punktes‹ in der von Sys eingenommenen ›Atlas-Pose‹ gleichbedeutend mit dem Schlussbild des ganzen Wegs. Der Versuch, es den Göttern gleich zu tun, festgehalten im vierten Schaltbild, markiert die Hälfte des Weges und er scheitert kläglich. Man muss wissen, was es mit der ›Verideologisierung‹ auf sich hat. »IDEOLOGIE«, notiert der Erzähler,

IST ALSO GANZ ALLGEMEIN EINE DIE PRAXIS DER MACHTPRODUKTION UMGEBENDE STRUKTUR (mit eigener Praktik), MIT DER BEWUSSTSEIN AUF DIE WIRTSCHAFTLICHKEIT DIESER PRAXIS AUSGERICHTET WIRD.

Sys[ifoß], der sich den Göttern in Atlas-Pose gleichstellt, hat also das volle Bewusstsein der Wirtschaftlichkeit der Praxis der Machtproduktion erreicht, der Alternativlosigkeit der geltenden Praxis, den Punkt der »idealen Statik«. Dieser ›Punkt‹ wiederum erweist sich als different in sich selbst, als Labyrinth, in dem Sys seinen Weg sucht:

VERIDEOLOGISIERUNG=WEG=IRRGANG=ERRICHTUNG EINES LABYRINTHS=ERLANGUNG EINES PUNKTES VON IDEALER STATIK (MITTELPUNKT) […] = VOLLZUG EINES RITUALS.

Die Errichtung des Labyrinths im Bewusstsein ist praktisch, das heißt auf der Ebene des Erzählten, gleichursprünglich mit der Suche nach irgendeinem Ausweg aus dem sich abzeichnenden Labyrinth. Der endlich erreichte Punkt idealer Statik entbehrt jeglicher Statik – schon der nächste Moment gibt den Stein zurück an die Tiefe, aus der der Aufstieg begann. Das Märchen von einem, der aufstieg, die Götter das Fürchten zu lehren, endet also in einem Miss-Griff: die Götter, wenn sie hier denn anwesend gedacht werden sollen, begegnen dem neuen Atlas mit jener abgefeimten Gleichgültigkeit, die den Platz, an dem er jetzt steht, als unbedingt falsch, das heißt als unter keinen Bedingungen zureichend markiert. Die Figur dieser Gleichgültigkeit ist das Ritual, der siebenfache ›Singsang‹, in dem sich der ›Irrgang‹ im Labyrinth für den Leser darstellen soll.

7.

Quod iuris? Welches historische Recht weiß der Erzähler von S oder die Geschichte eines Steines auf seiner Seite? Um dieser Frage nachzugehen, ist es an der Zeit, einen Schritt hinter den Gegenstand zurücktreten und die Frage aufzuwerfen, die bereits am Anfang dieser Überlegungen hätte stehen können: Was ist ein Exzess? Nun denn: Gemeint ist kein privates Über-die-Stränge-Schlagen, keine ›anstößige‹ Orgie, vielmehr etwas, was dem ideologischen Patt in Körners viertem Schaltbild bedenklich nahekommt.

  1. Exzesse sind Überschreitungen.
  2. Exzesse rufen nicht-diskursive Gegeninstanzen auf den Plan.
  3. Exzesse sind nicht zustimmungsfähig, es sei denn, es existiert eine ideologische Verschwörung (coniuratio), die jeden denkbaren Einspruch blockiert.

8.

Man kann bei einigem Wohlwollen den Sys der ersten vier Schaltbilder als Dissidenten begreifen, der sich der verordneten Arbeit im Kollektiv verweigert, weil er sie als nicht zielführend ansieht. Darin liegt, aus der Sicht der Systemvertreter, ein Exzess, mit dem Bann des Linksabweichlertums belegt und bei gehöriger Renitenz entsprechend bestraft. Wichtiger: bereits der seitens der Systemvertreter ergangene Spruch ist Exzess, da er den bestraft, der den systemimmanenten Widerspruch zwischen Ideologie und Praxis durch seine Verweigerungshaltung hervorkehrt. Dieses doppelte Exzedieren schafft die Zwillingskonkurrenz, die in der Atlas-Pose des Dissidenten eine Art Denkmal erhält.

Im fünften Bild wendet sich das Blatt: mit dem Höllensturz der selbsterarbeiteten Ideologie steigt aus dem zwar bescholtenen, aber nach wie vor unbedarften Subjekt der Geschichte, als das man Sys nach seiner bisherigen Statur auch begreifen könnte, ein Feind der Götter, soll heißen, ein Kritiker des Systems von außen, ein Renegat. Sys wirft auf die Götter den (ersten?) Stein, der natürlich, soll heißen der Ordnung nach nicht trifft, sondern in die Tiefe zurückfällt. Damit nimmt Sys nicht fraglos Partei für die Sklaven, also für ›die da unten‹ gegen ›die da oben‹. Vielmehr wird er Partei in einem Spiel, in dem gegen Veränderung, in der Terminologie des Erzählers, ›Veraenderung‹ steht, das Sich-Verändern des Einzelnen gegen eine Praxis, in der ›gesellschaftliche Veränderung‹, sprich: die Einerleiheit des gesellschaftlichen Fortschreitens zur fixen Idee, zum Bewusstseinsfetisch oder wie die Vokabeln hier lauten mögen, geronnen ist. Der primäre Sinn der ›Veraenderung‹ liegt im Wurf selbst, und der Erzähler verwendet einige Energie darauf, den Leser, in dessen Kopf der Mythos sich realiter zusammenfügt, der also in diesem Augenblick ›verideologisiert‹ erscheint, als den eigentlichen Adressaten des Wurfs herauszustellen: Wurf = Erkenntnis = Veraenderung, wobei der Wurf als Ereignis zusammen mit dem Getroffensein als Erkenntnisakt einen Vorgang bildet. Der Exzess auf seiten des Sys liegt daher in der Wiedergewinnung jener primären Dimension des Denkens, in der es wenig mehr beinhaltet als die Freiheitsregung des Einzelnen, der sich der von außen auferlegten und unwillentlich gehorsam im Bewusstsein angeeigneten Bürde in genau diesem Moment entledigt. Die Bezeichnung ›Exzess‹ ist gerechtfertigt, weil der Wurf Anerkennung und Nichtanerkennung des Bewusstseins davon, auf verlorenem Posten zu stehen, in einer Geste zusammenfasst. Wenn es eine Logik des entfesselten Plans in Körners Erzählung gibt, dann an dieser Stelle, wo sie die Bürde der Realisierung vollständig dem Leser überträgt und von ihm wirkliche Erkenntnis fordert, das heißt, das Zerschlagen des Plans, der ihn in seinem Bann hält.

Dies wäre nun, als Modell betrachtet, kein Geschichts-, sondern ein Reflexionsgeschehen, welches die Nichtreduzierbarkeit von Gedanken auf ›Wiederspiegelung‹ und dergleichen – nach dem Muster eines Bühnengeschehens, das gleichermaßen abläuft und gezeigt wird – als unwiderstehliche ›Schwellung‹ präsentiert. Diese performative Gedankenführung, die den Leser zum Komplizen weniger des Erzählers als der Erzählung macht, die ja ›nur‹ in seinem Kopf entsteht, beendet nun zwar die Phase der sekundären Aneignung von Ideologie durch eigenes, der historischen Situation geschuldetes, also nach wie vor auferlegtes Nach-Denken, allerdings nicht durch ein unverbundenes und daher unverbindliches sapere aude, das irrtümlich frei zu haben glaubt. Das Gegenteil ist der Fall: der niederstürzende Stein zwingt Sys mit sich in die Tiefe kraft jener Dynamik, die Hegel einst als List der Vernunft in der Geschichte bezeichnete und die hier als List des Sys[ifoß] notiert wird. Anstelle des Ziels erscheint das wechselnde Auf und Ab, die Abfolge von Kosmos- und Chaoszuständen als seine Weise, die Aufgabe und damit das auferlegte Dasein erträglich zu gestalten. In diesem Sinn ist er ein anderer geworden, genauer gesagt ein Aenderer, dem das Hindernis auf dem Weg zum Menschsein, der Stein, aus einer Ahnung seiner selbst zum Selbst gerät, das erst der Tod aus dem Weg räumen wird.

9.

Der Exzess, so wurde gesagt, ist die Überschreitung des Entwurfs im eigenen Medium durch konsequente Nichtanerkennung der Möglichkeit des Scheiterns. Der Entwurf, als Götter-Auswurf ins Spiel gerollt, verändert das Leben des Sys, er verändert ihn selbst, er verändert sich, indem er Sys[ifoß] wird, mit ihm verschmilzt, das heißt eins wird. In diesem Einswerden wiederum wird er zwei, er zerbricht im Bewusstsein des Lesers, das für das Entstehen der Erzählung verantwortlich zeichnet. Dieses Schlussbild bleibt, es bleibt haften, und der freigewordene Stein ruft nach seinem Beweger, dem neuen Sisyphos. Darin steckt keine Erweckungsgeschichte. Der Prozess des Gleichgültigwerdens der Erzählungen bei wachsender Entfernung vom Mythos, von dem bei Schelling die Rede war, erfasst mit der Zeit den Mythos selbst. Über die Geschichte als Sinngeberin und -enthüllerin schiebt sich als Sinnvernichterin die Zeit. Wer die Götter hinter sich hat, der wird sie weder bekämpfen noch vergessen. Er wird sich auch hüten, die alten Geschichten als sinnlos abzufertigen. Er weiß, dass sie ihn gemacht haben. Er kann aber nicht umhin zu konstatieren, dass sie ihn nicht mehr einzunehmen imstande sind. Der Platz, den sie in seinem Bewusstsein beanspruchen, wirkt unbedeutend angesichts der Fülle dessen, was, unterbrochen allenfalls durch Phasen der Nachdenklichkeit, getan werden muss. So tritt er den Traditionswächtern, die von ihm verlangen, sich zu entscheiden, mit leeren Händen gegenüber.

Wir haben sodann ferner dargetan, daß die Mythologie, als die unvordenkliche, insofern auch allem Denken zuvorkommende Religion des Menschengeschlechts, nur begreiflich ist aus dem natürlich Gott-Setzenden des Bewußtseins, das aus diesem Verhältnis nicht heraustreten kann, ohne einem notwendigen Prozeß anheimzufallen, durch den es in die ursprüngliche Stellung zurückgeführt wird

schreibt Schelling. Vielleicht ist es gestattet, den ästhetischen Exzess als diesen notwendigen Prozess zu betrachten. Plausibel wäre es schon: auf jeden Exzess folgt so etwas wie Erschöpfung. Nur sollte man sich nicht dem immerhin denkbaren Irrglauben hingeben, die ›ursprüngliche Stellung‹ sei selbst so etwas ein Telos der Geschichte.

Im ästhetischen Exzess gewinnt die Kunst Projektcharakter. Das ist insofern bemerkenswert, als im gesellschaftlichen Raum das Projekt dem Exzess vorausgeht. Der ästhetische Exzess der Moderne geht dem von Großdenkern inaugurierten Projekt der Moderne voraus. Sys[ifoß], wie ihn das Körnersche Schlussbild vorsieht, ist eher Künstler als Renegat. Der Stein, der das Werk hervortreibt, der Stein des Anstoßes und der verhängten Lebensform, mutiert selbst zum Werk in dem Maß, in dem sich das Selbst mit ihm identifiziert. Im Raum der Identifikationen ist Kunst, was einer aus dem macht, was ihm widersteht. Manch einem widersteht auch die Kunst und er macht sie nieder. In diesem Sinn erscheint in der verräterischen Parole, derzufolge immer der Mensch im Mittelpunkt steht, das Schicksal der Kunst – verhängt.

1 Thomas Körner, S oder die Geschichte eines Steines. Fragment von der Arbeit, entstanden 1976-94 (Typoskript). Eine Kopie des Typoskripts befindet sich im ›Archiv unterdrückter Literatur in der DDR‹ der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur [http://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de]. S oder die Geschichte eines Steines ist Teil des ›Fragmentromans‹ Das Land aller Übel (https://daslandalleruebel.iablis.de).

2 Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, Philosophie der Mythologie, 10. Vorlesung. Werke, Band 3, Leipzig 1907, S. 597.

Notizen für den schweigenden Leser

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