Aesthetica

I

 

Du bist das Kind nicht, das du weggenommen.
Du bist das Kind nicht, das dir ausgekommen.
Du bist das Kind nicht, das du in dir trägst
und das kein Kind ist.
Du bist das nicht, was in dir steckt
und jetzt herauswill, eine Nachgeburt.
Du bist das nicht, was du hier denkst und schreibst,
und wenns dein Leben gilt, warum dann deins?
Der sich herausnahm aus dem Spiel, er wars,
der deins fixierte über lange Zeit.
Die Zeit, die um ist, steht dir jetzt bevor
als das, was war und sein wird, ohne Zorn und Angst.
Du bist der Bote nicht, du bist der Bote.

 

II

 

Reisende soll man nicht aufhalten, heißt es, diesen hätte ich gern ein wenig beschäftigt, teils, um ihn festzuhalten, teils, um ihn aufzuhellen, denn hell schien er mir, als ich ihn kannte, und Schatten lagen auf ihm, als er mich nicht mehr erkannte.

 

Mehr als ein Reisender schien er mir anfangs, als ich ihn wusch, eine erste Handreichung, der andere folgten. Später, inmitten der Schrecken, schlug mich der Blick und das Vertrauen, das mir überall folgte.

 

Ja, ich habe mein Leben früh an seines gebunden, das jetzt nicht mehr ist, ausgelöscht von einem Durst nach Erwachen, der das Gefäß zerbrach, als es danach verlangte, gefüllt zu werden.

 

War es so schwach? War die Hand so stark, die es brach? Wenn sie das konnte, warum nicht, was einfacher, wenn auch schwieriger ist: sich beizeiten entziehen, nicht zur Unzeit, für immer.

 

Wo blieb der Kopf? Ein blinder Hochmut, aufgezäumt vom Geschlecht, leicht gelenkt, die billige Lesart ausgebildet zur teuren, schwer zu durchdringen und schwer auf die noch jungen Schultern drückend – mehr nicht?

 

Schuld? Nein. Doch wenn es Schuld gibt, dann, dass ich einst nachgab, dass ich zu Willen war der chaotischen Kraft, die ihn gebar, um ihn zu zerstören.

 

III

 

Wenn ich, der Mörder meines Sohns, kein Ende find,
dann weil, ich, Kind, den Anfang nicht
und nicht die Mitte fand, die mit dem Anfang
paktiert, als seis der ihre, Heuchlerin.
Den Faden nicht, das Band zwar, doch den Faden,
den nicht. Die Strippen zogen andre. Jetzt
laufe ich umher im kalten Regen
und finde dich im Ansatz eines Nackens
an jeder Straßenecke. Jedesmal,
wenn du dich umdrehst, dreht ein anderer sich
aus dir heraus, das kannte ich schon länger.
Hab ich dich umgebracht, so wars,
weil ich dir helfen wollte zu bestehen.
War ich der Helfer nur, so würd ichs ungeschehen
gleich machen, hier, im Aufstehn, wüsste ich,
wo es geschah und wann. Aber ich weiß nichts.
Weiß nichts. Nur dass ich überflüssig war am Ende,
das sitzt in mir und will nicht mehr heraus.
Es will nicht mehr heraus. Die Kränkung,
wenn du sie wünschtest, sie ist dir gelungen.
War es nicht so gedacht, so trifft es tiefer.

 

Ist überflüssig, wer ein Leben schützt,
das erst sich formt? Der es bewahrt
vor der Gebärerin, das eigene
so darum stellt, dass es darüber reißt?
Ist überflüssig, wer dir Freiheit gab
dich zu entscheiden, als er selber ging
und dich zurückließ, weil du es so wolltest?
Ist überflüssig, wer dir sagte, jetzt
bist du am Zug, es ist dein Leben, lass es dir
nicht stehlen oder biegen, lebe es?

 

Das ist ein Überfluss, von dem mir träumte.
Ich tat an dir, was an mir keiner tat.
Es war das Falsche und ich war es mit.
Jetzt bin ich keiner und du bist die Tat.
Wie schön von dir. Darüber sollten
wir uns aussprechen, wenn du magst, wie öfter,
dass du nicht mochtest, war dabei beschlossen.
Das trifft sich gut, dass du jetzt tot bist, da
kommt kein Termin mehr, den du platzen lässt.
Auch ist nicht länger nötig, Abwehr dem
zu zeigen, der entgegenkam. Es ist nicht nötig, wie
der ganze Rest, den du in einen Arm
nahmst, um ihn fallenlassend zu vergessen.
Dass der Vergessliche vergessen wollte,
das merke ich, als wär es mein Vergessen,
das sich nicht einstellt. Unvergessen also
bleibt der Vergessliche. Unvergessen auch,
wer sonst im Spiel. Doch doch,
es will heraus, was nicht herauswill, aber anders.
Wer dir das Leben gab, er war dein Mörder.
Das ist der Gang der Dinge. Keiner will
das sehen. Eher geht, wer weiß, als zuzusehen, wie
es sich vollzieht. Der Schmerz, er löst
sich nicht. Man muss bewahren, was
nicht zu bewahren ist, was schon verschwand.


Die versiegelte Welt: Der Schmerz