©lg 2020

Verstreute Notizen

 

Diese Aufzeichnungen wollen nichts preisgeben, schon gar nicht die eigene ›Person‹. Ich meint hier nicht die Schriftstellermaske, sondern das, was einen gemacht hat, also lauter Äußerlichkeiten, die das Zeug dazu hatten, zu Innerlichkeiten zu werden, das Innenaußen, in dem sich einer bewegt und manchmal auch aneckt, ohne recht unterscheiden zu können, mit wem der Konflikt (so es denn einer ist) ausgekämpft werden muss. Und ausgekämpft werden muss: da sind sich Innen und Außen in der Regel völlig einig.

 

Skiunfall

Eben noch in voller Fahrt, berauscht von kindischen Genüssen, die eine abgesteckte und zurecht planierte Piste be­reithält, im nächsten Moment gekrümmt auf dem Boden, von niemandem ernst genommen, da das Stürzen nun einmal dazu gehört, schon wissend, dass etwas entzweiging – Bänder, Meniskus, ein Stück Muskulatur oder, einfachster Fall, ein Knochen, von dem man weiß, dass er wieder zusammenheilt. Einer weiß es und wundert sich still über die Mühe, die es kostet, sich einer Umgebung verständlich zu machen, die auf dem Menschenrecht beharrt, sich nichts Arges zu den­ken. Arglosigkeit, vielleicht das auffälligste Kennzeichen einer in völliger Sekurität aufgewachse­nen ›Alterskohorte‹, der die Geschichte etwas wirklich Neues hat angedeihen lassen: Förderung. Sie umfasst Hygiene, Gesundheit, Schule, Studium, berufliche Orientierung, ferner das Verhältnis der Generationen und Geschlechter untereinander. »Nur zu!« steht mit keineswegs unsichtbarer Tinte über den Lebensläufen. Dieses »Nur zu!« ist die Kurzfassung dessen, was in und von diesen Jahr­gängen geschrieben, gedacht und ausgeführt wurde.

Zweimalgeboren

Eine subtile Differenz trennt die ›Nur zu‹- von den voraus gegangenen ›Weiter so‹-Jahrgängen: die Erfahrung der Differenz als Verneinung. Was immer diese Generation von Nachrückern sich vor­nehmen mochte, sie verstand es als Negation des von den Vorgängern Gewollten und verstand es nur so – bis in die Zeit der rätselhaften Unfälle hinein und darüber hinaus. Man darf ihr also, wie vermutlich jeder Generation, eine gewisse Besinnungslosigkeit attestieren. Fragt sich nur, worin. Aber wer so fragt, ist ein Einzelner, und bloß einzeln, das heißt auf das eigene Leben eingehend, findet er die Möglichkeit einer Antwort. Warum so vorsichtig? Weil es auch hier darauf hinausläuft, Besinnung zu reklamieren, das Spiel weiter zu spielen, das doch am Anfang steht und vielleicht den Motor einer wirklichen, sich vorzugsweise in Taten und Lebensläufen bekundenden Besinnungslo­sigkeit darstellt. Wer immer sich hier zu Wort meldet, ist ein Zweimalgeborener. Etwas hat ihn aus der Bahn geworfen, dieses Etwas beschäftigt ihn, vielleicht nur leise, vielleicht nur anflugweise, aber es ist da, es geht nicht weg. Er muss es ›verarbeiten‹, so lautet die Vokabel, die er bereitwillig akzeptiert, weil es die Sprache seiner Generation ist, die nachfolgende drückt das anders aus, aber es kommt wahrscheinlich auf das Gleiche heraus. Sie musste ›es‹ immer verarbeiten, gleichgültig, worum es sich handelte, dieses gleichgültige ›es‹ hat sie geprägt, vielleicht veranlasst, er weiß we­nig darüber, warum es ihn gibt. Gut möglich also, dass ›es‹ sich in ihm besinnt (oder so tut), so wie es in ihm die Augen aufschlägt, seit es ihn gibt.

Heidelberg

Nächtlicher Fluss. Der automobile Scheinwerfer-Korso und der träge Zug der Lastschiffe zwischen lichtgesprenkelten Hängen, aus denen hier und da ein angestrahltes Gemäuer hervorglüht: ein Som­mer-Bild. Ich wohnte nicht durchgehend in Heidelberg, ich ›pendelte‹, wie das heißt. Aber das Wort schwächelt vor der Wand einer Erinnerung, die meine Ankunft immer aufs Neue zelebriert. Auf derselben, diesmal herbstlichen Route feuerte die RAF 1981 eine Panzerabwehrrakete auf die ge­panzerte Limousine eines amerikanischen Generals. Der General überlebte, ermordet wurden ande­re. Was in jenen Jahren starb, war das unbefangene Verhältnis einer Generation zu sich, zu ihren Zielen, zu ihrem Staat.
Im Sommer 1974 zog ich nach Heidelberg. Im Mai sah ich die Stadt das erste Mal, der Himmel blaute und die Gräser des Schlossparks sandten ihre Düfte aus. Ich durchquerte ihn Seite an Seite mit dem Philosophen Wolfgang Marx, den ich als Assistenten vom Erlanger Seminar her kannte. Wir erörterten die Frage Berlin oder Heidelberg, die sich gerade in meinem Kopf entschieden hatte. Der Dozent, soviel ist sicher, pries das reiche Kulturleben Berlins, das ihm schnuppe schien, und schmeichelte Heidelberg, indem er es ein wenig heruntermachte, als einem Zentrum der zeitge­nössischen Philosophie. Ich hatte noch nicht die Kantbüste in der Seminarbibliothek zu Gesicht be­kommen, es war auch nicht Kant, der mich bewog, es war der Charme des Ortes, der mir ›richtig‹ zu sein schien, so wie mir die Orte, an denen ich bisher gelebt hatte, falsch vorkamen, soll heißen hässlich, verlogen, abseits und auf eine perfide Weise versiegelt. Versiegelt und als Freilichtbühne aufbereitet wurde auch diese Stadt, aber später. Zum Zeitpunkt meiner Ankunft schmuddelte sie noch und die Hauptstraße, auf der man im Laufe einiger Stunden jeden traf, wirkte mit ihrem Durcheinander von Autos, Straßenbahnen, Fußgängern und Radfahrern wie das lichte Innere eines Jahrmarkt-Panoptikums.

Die Straße

Zweite Ankunft: Ich klopfe an und mir wird aufgetan. Genauer, ich höre eine Stimme, die sagt: »Kommen Sie herein, ich kann mich nicht bewegen.« Der junge Mann, Student wie ich, sitzt, hinter sich das Bett, an einem Tisch. Er kann sich wirklich nicht bewegen, das Zimmer ist so eng, dass er über den Tisch klettern muss, um mich zu begrüßen. Über dem Bett ein Dachfenster mit Blick auf den Neuenheimer Markt. Das ist mein Zimmer in den folgenden Jahren. Das erste Gespräch mit dem Vermieter, einem Fahrradhändler im Rentneralter, demonstriert einen gemütlichen Hass auf die Studenten, den ich in dieser Form noch nicht kenne: »An die Wand mit ihnen!« Später, bei De­monstrationen, sah ich hin und wieder Polizei ihre Wasserwerfer auf Fassaden richten, in deren Fenstern Trauben von Schaulustigen hingen. Sie wollte, schon klar, bei ihrer Arbeit nicht gefilmt werden, aber eine verschwiegene Solidarität mit dem jugendlichen Klassenfeind schien mir aus dem stummen Spiel hervorzuleuchten. Auch diese Demonstrationen, an Wucht nicht mit den Ereignissen von ’68 zu verwechseln, sind ein Stück Generationsbewusstsein geworden. Um sie herum gruppie­ren sich andere Geschehnisse, private und öffentliche. Sie kommen einem gelegentlich ratlos vor, als wüssten sie nicht, wie sie sich dazu verhalten sollen, was nötig zu sein scheint. Sich verhalten – die zwei Wörter enthalten konzentriert den ethischen Imperativ einer Zeit, die niemand Epoche nen­nen möchte. Offensichtlich handelt es sich um eine Zwischenzeit, der die epochalen Ereignisse feh­len, es sei denn, man wollte sie die Epoche des Terrorismus nennen, was offenkundig übertrieben ist und die etwas farblose Ruhe völlig verzeichnen würde, von deren Hintergrund sich das, was man heuchlerisch den ›Deutschen Herbst‹ nannte, mit seiner Vor- und Nachgeschichte effektvoll abhebt. Man könnte sie die Epoche der Gesellschaft nennen, aber dazu muss man genauer ausführen, was man meint, und der Vorschlag erübrigt sich von selbst.

Dozenten

Einiges muss zusammenkommen, ehe jemand beginnt, die Gleichaltrigen etwas rüde in Pöbel, Feig­linge und Verbrecher zu unterteilen, vor allem dann, wenn diese Rubriken bereits von langer Hand besetzt sind. Wer immer den linken Traum vom Marsch durch die Institutionen geträumt hatte, er war unterwegs und, so oder so, für die Nachströmenden unerreichbar geworden. Geprägt durch glei­che Lektüren, hier und da aus Naherfahrung nüchterner geworden, gilt für sie das Zu spät – da­mals und später und im Grunde noch immer, gleichgültig, wie sich ihr Leben organisiert und sie es ›in den Griff‹ nehmen. Aufgeworfen sind die Aktivisten, vor allem diejenigen, die wegen Lappalien ins Gefängnis wandern, weil man ihr Abgleiten in den Untergrund fürchtet oder ein Exempel statu­ieren will. Gleichmütig geht die Mehrzahl darüber hinweg, ohne sich in ihrer Grundgesinnung beir­ren zu lassen. Man muss den Konformismus der weltanschaulich miteinander verbundenen Gruppen schmecken, will man die geschmeidigen Lebensläufe, die daraus hervorgingen, mit den stereotypen Beschwörungsformeln vom Tod des Subjekts, von der Inexistenz des Autors und der Allgegenwart der Diskurse in Einklang bringen, unter denen nach dem Herztod der Soziologie das geisteswissen­schaftliche ›Paradigma‹ in den entsprechenden Kreisen zu Grabe getragen wurde. Die Philosophie, vorausgesetzt, man ließ sich auf sie ein, erlaubte es in jenen Jahren, eine Position am Rande einzunehmen und dem absehbaren Ende der ›Kritik‹, der konformistischen Denkform derer, die im Windschatten einer verjährten Revolte im Kulturbetrieb auf Postenjagd gingen, mit einer Mi­schung aus Gleichgültigkeit und Geringschätzung entgegenzusehen. Gadamers angejahrter philoso­phische Hermeneutik, von seinem Hauptschüler in ein Instrument verwandelt, das eine Re-Lektüre der Grundtexte des Deutschen Idealismus ermöglichen sollte, als habe ihre Rezeption noch gar nicht stattgefunden, begegneten ein paar jüngere Dozenten, darunter mein Bekannter aus dem Schloss­park, mit Spott und tätiger Destruktion: ihnen sollte gelingen, etwas wie Proselyten-Eifer in den klügeren Studenten zu entfachen, die sich in ihren Seminaren zusammentaten. Weniger gut gelang ihnen in der Folge die Eroberung der Lehrstühle, und die Geschichte reißt ab, wie sie begann: als Sturz in den Abgrund einer provinzialisierten, marginalisierten Lehr- und Forschertätigkeit, die man am besten mit der Floskel vom Offenhalten der Bestände beschreibt – der übliche Dornröschen­schlaf der Philosophie, an den nur rühren darf, wer zur rechten Zeit das passende Zauberwort auszu­sprechen weiß.

Dichter

Solange ich zurückdenken kann, sehe ich mich als Dichter. Dieses heute verpönte Wort ist unersetz­bar: ich wüsste nicht, wie man sich ohne es verständlich machen sollte. Was bedeutet dieses »ich sehe mich«? Es bedeutet: eine kontinuierliche Erinnerung (oder das, was man dafür hält) existiert erst ab dem Zeitpunkt, zu dem das Dichten als Lebenstätigkeit von der Person, die das Wort ›ich‹ umreißen soll, Besitz ergriffen hat. Die Rede vom Zeitpunkt ist problematisch, denn ein solcher Punkt existiert in meinem Gedächtnis nicht. Sollte er darin wider Erwarten existieren, so ist er mir jedenfalls nicht zugänglich. Gut erinnere ich mich der ersten Berührung mit Kleist-Sätzen. Mir scheint, das Brennen, das sie auslösten, hat niemals aufgehört. Noch heute, sollte mich jemand nach einem vollendeten Stück Sprache fragen, würde ich ohne zu zögern die Penthesilea nennen. Was an dem Stück vollendet ist, weiß ich nicht zu sagen. Mir scheint aber, es gibt bei seiner Entstehung einen Kristallisationspunkt, über den hinaus dem überraschten Autor nichts weiter zu sagen (und zu schreiben) blieb. Jemand wie Kafka scheint es fertig zu bringen, schreibend von diesem Punkt aus­zugehen und bei passender Gelegenheit dorthin zurückzukehren, als könne er dazwischen Beliebi­ges hinschreiben, aber natürlich ist das eine perspektivische Täuschung. Ich kann nicht sagen, dass mir Brecht nichts bedeutet hat, aber er gehört nicht in diese Linie. Die Dreigroschenoper ist pfiffig.

 Schriftkultur

Baudelaire, Whitman, Pound haben mir die Idee des Buches eingegeben, Kleist, Hölderlin, Rilke mich darüber in Kenntnis gesetzt, was ein Vers ist. Man lernt von diesen in eine im Grunde unbe­greifliche historische Distanz entrückten Autoren nicht, wie man’s macht, sondern dass es derglei­chen gibt. Wie man es macht, lernt sich in Maßen und nur durch Schreiben. Entscheidend ist das nicht, solange man nicht eine soziale Existenz darauf gründet und eine solide Technik benötigt, um über die Runden zu kommen. Insofern gehört die rapide Existenz zu Dichtern, die sich weigern, als Schriftsteller zu enden, oder denen man dieses Los verweigert hat. Es gibt Zwischenexistenzen wie Grabbe oder Poe, deren Geschäft die Demonstration ist. Sie wissen, wie es geht, und brennen dar­auf, es zu zeigen.

Berufsschriftsteller interessieren mich nicht. Es gehört zum Konformismus meiner Generation, dass ihre – nicht sehr große – literarische Aufmerksamkeit ausschließlich der Produktion dieser Leute gilt. Die sonderbare Karrierewelt, die sie bewohnt, lässt nichts anderes zu als die Vorstellung von Verträgen, Preistreppchen und Erfolgsserien ohne Ende. Das ist lächerlich, aber es ist nicht zu än­dern. Berufsschriftsteller sind Spezialisten, denen jeder Gedanke zuviel einen Großteil ihrer Kund­schaft raubt. Entsprechend hüten sie sich, ihn zu denken oder, falls das Unglück geschehen ist, ihn anderen mitzuteilen. Aus ihren Büchern erfährt man nichts, was man nicht schon wüsste oder sich in einem spontanen Akt des Nachdenkens erschließen könnte. Jedes Schreiben beginnt als Mi­mesis. Als ich zu schreiben begann, fand ich den Gedanken, erfundene Menschen sprechen zu las­sen, so umwerfend, dass sich die Frage ›Wozu?‹ überhaupt nicht stellte. Mir erschien es selbstver­ständlich, dass, was meine Mitmenschen in der Realität absonderten, als Rede nicht in Betracht kam. Leicht zu verstehen ist das nicht, man kann darin einen unerwarteten Erfolg der Schriftkultur im Leben des jungen Menschen erkennen oder zu erkennen vorgeben, für den das Geschriebene als Unterpfand einer kostbareren Kommunikation gilt, bis er im fortgeschrittenen Alter durch die Orali­tätsforschung oder einen wütenden Vorgesetzten eines Besseren belehrt wird. Doch verstellt man damit den Blick darauf, dass in der Gedankenwelt eines jungen Menschen sich an einer solchen Stelle ein Spalt öffnet, dass hier ein kleiner oder größerer Abstand, eine intensiv gefühlte Distanz entsteht, etwas, das sich nicht mehr mit Worten ausfüllen lässt, es sei denn mit solchen, die wie aus einer unsichtbaren Quelle aus ihm selbst hervorkommen und so befremdlich auf ihn selbst wirken, dass er sich hütet, ihnen vor anderen freien Lauf zu lassen.

Frei sein

Immer habe ich Menschen bewundert, die in ihre Zeit hinein sprechen, als hätten sie frei: frei in sich, mit wenig oder keinem Gepäck geschlagen, bereit, eine Aufgabe zu übernehmen oder zu kon­statieren, was getan werden muss. Der Mensch im Einsatz ist eine komplexe Größe und er ist groß­artig. Denkmälern von Schriftstellern sieht man an, dass sie inwendig hohl sind. Die innere Leere erobert bei ihnen sozusagen die Oberfläche. Die Reiterstatue des Marc Aurel enthält alle Denkmä­ler: als Standbild des Philosophen läppisch, aber völlig überzeugend im Hinblick auf die Person des Kaisers, der seine Pflichten ernst nimmt und die innere Freiheit besitzt, sich ihrer anzunehmen. Kein Wunder, dass die napoleonische Ära dergleichen wieder hervorholt. Chateaubriands Mémoires d’outre-tombe, aus gediegener Distanz betrachtet, lassen, zwischen zwei Buchdeckeln, das Reiter­standbild eines Schriftstellers erstehen, der frei hat, die großen Fragen seiner Zeit zu betrachten und bei sich bietender Gelegenheit in sie einzugreifen. Es überzeugt nicht, aber der Anblick ist pracht­voll. Der Chateaubriand des zwanzigsten Jahrhunderts heißt Trotzki.

Für einen kurzen Lebensabschnitt sah ich mich frei, das zu tun, was der Augenblick an mich heran­trug, solange es sich innerhalb der Grenzen einer schreibenden Existenz bewegte. Diese einschrän­kende Bedingung zeigt vielleicht schon die Selbsttäuschung an, obwohl es viele gibt, die ihr Schriftstellerdasein nicht anders verstehen und vielleicht nicht anders verstehen können. Dass sie sich in den Dienst einer Sache stellen könnten, erscheint ihnen viel, vielleicht zu viel, als dass sie sich ernsthaft darauf einließen. Sie kehren aber gern von dem, was der Augenblick ihrer ›Feder‹ ab­verlangt, zur Vorstellung zurück, dass sie, menschheitlich gesehen, auf der richtigen Seite zu fin­den sind. Der Gedanke, dergleichen könnte wenig sein im Vergleich zum Genötigtsein eines Schrift­stellers, der nicht frei hat, gehört für sie zu einer verblasenen Literaten-Metaphysik, einer altertümli­chen, leicht zu durchschauenden Rhetorik, und hat in ihren Augen mit wirklicher Disposition nichts zu tun. Hier wie überall gilt: was einer nicht erfahren hat, existiert für ihn nicht, es sei denn, es be­sitzt ausreichend Prestige, um unbedingt angeeignet werden zu müssen – auch dann, wenn es sich einer Aneignung, die diese Bezeichnung verdient, konsequent verschließt.

 Folklore

Ein typischer Schriftsteller der siebziger oder achtziger Jahre fand keine ernsthafte Schwierigkeit darin, sich auf einer der obligaten, gut ausgeleuchteten Reiserouten mit archaischen Sakralpraktiken zu befassen und damit, wie er annahm, ernsthaft in eine andere Menschheit, in eine andere Seins­weise einzutauchen. Zweifellos war ihm dabei feierlich zumute, zumindest befand er sich in aufge­kratzter Stimmung, sobald er Einschlägiges erleben durfte oder darüber intensiver nachdachte. Die etwas strenge, sexuell grundierte Feierlichkeit verlieh seinen Büchern das Überaufgeklärte, für das es immer ein dankbares Publikum gibt. Jeder, der es darauf anlegte, fand seine traurigen Tro­pen, nachdem sie einmal entdeckt waren – wenn’s sein musste, gleich vor der Haustür. Sinnvoll er­schien es daher, das Verfahren mit dem Prestige des Fernreisenden anzureichern, solange es vor­hielt. Doch schrumpfte, lange vor der Ankunft der Billigflieger, mit der Ausbreitung der Selbsterfah­rungsgruppen und ‑praxen der damit verbundene Vorsprung an einer anderen Front und der touristi­sche Seinswechsel wurde für fade befunden, bevor er massenhaft erprobt werden konnte.

Wer Sinner­fahrungen sammelt, kommt um die Feststellung nicht herum, dass man zwar willkürlich Praktiken lernen, nicht aber die Dispositionen aneignen kann, auf die sie antworten und die sie steigern oder abführen. Den Schriftsteller als Mittler begreifen, als ›Medium‹ fremder Kulturen, stellt ihn in einen Raum aus Trümmern: jeder wissend intonierte Satz zerschlägt ein Stück gegriffener Fremde und verteilt Souvenirs. So erklärt sich der Erfolg derer, die es vorziehen, die nationale Karte zu ziehen, weil sie so schändlich ist: auf diesem Gelände sind die Trümmer allgegenwärtig und warten darauf, besprochen zu werden.

Das lässt sich ausnützen.

Privat sein

Ich hörte es als junger Mensch mit eigenen Ohren aus dem Mund eines Professors, der soeben seinem zweiten ›Ruf‹ gefolgt war: in der Philosophie könne es keinen Kant mehr geben, weil es ›jetzt‹ den Tourismus gebe. Er meinte damit nicht die zeitverhafteten Züge einer historischen Person, er meinte nicht den kantischen Theoriezuschnitt, was sich von selbst verstanden hätte, er meinte die simple Tatsache, dass sich einer hinsetzt und ein Lebenswerk schreibt, das heißt, sein Leben in ein Werk des Denkens und Schreibens verwandelt. So bizarr der Gedanke, so unerbittlich seine Durchsetzung: dies war und ist die erste Generation ohne Philosophen, der seinen Namen verdient, es sei denn im Verborgenen. Vor dem Werk steht der Urlaub, er steht dort wie ein Zeiger, auf dem geschrieben steht: ›Geschlossen. Eingang links‹.

Der Urlaub schiebt die ernsthafte Lebenszeit zu jenen Klumpen zusammen, die man als ›Job‹ bezeichnet. Was damit gemeint ist, geht weit übers rationale Beschäftigungsverhältnis hinaus. Wer seinen Job tut, der will sich frei nehmen – vorher und hinterher und zwischendurch, wann immer sich Gelegenheit bietet. Das ist ganz natürlich und wird vom Partner gewünscht. Urlaub ist Beziehungspflege, also das Gegenteil von Freisein: es ist privat sein, abgeriegelt sein gegen die Anforderungen der Person und der Arbeit am Werk. Man kann daraus eine Ideologie stricken, die Horden von Foucault-Jüngern in den Kulturwissenschaften sprachen und sprechen in dieser Hinsicht eine deutliche Sprache. Was daran billig ist, wird durch die Figur des Meisters verdeckt, der die Absolution erteilt, ohne sie zu teilen. Ein solcher Theoretiker besitzt klassische Züge einer Christus-Figur, seine Jünger denken nicht daran, sich ans Kreuz nageln zu lassen, dafür wurden sie nicht erlöst.

Man kann die Privaten relativ leicht erkennen: sie sind auf Leitfiguren fixiert, deren Leben scheinbar lückenlos im Dienst einer fixen Idee steht und eine starke sexuelle Markierung trägt. Die darin liegende Zumutung lässt sich besser parieren, weiß man den Preis fürs Anderssein zu benennen, den man nicht zu entrichten bereit ist. Also kommt es darauf an, wo man ihn vermutet. In dieser Hinsicht bieten die Präferenzen meiner Generation ein verwirrendes Bild: die Abirrung liegt weitgehend im Alter selbst. Wie jede vor und nach ihr trägt auch diese Generation ihr Norm-Alter durch die Zeiten, aber sie kann nur anerkennen, was vor ihr lag oder hinterdrein kommt. Diese Tendenz zur Selbstauslöschung verdient untersucht zu werden, umso mehr, als sie darauf hinausläuft, das Material unauffällig verschwinden zu lassen, das untersucht werden müsste.

Menschen, deren eigentümliches Lebensgefühl darin ankert, dass sie nicht zum Zug gekommen sind, besitzen die Tendenz zu verbergen, wer sie sind und welchen Motivationen sie folgen. Seltsamerweise wird diese Tendenz übermächtig, sobald der Widerstand wegfällt und die freie Bahn vor ihnen liegt, die sie immer vermisst haben. Als müssten sie beweisen, dass es nie einen Grund gab, sie dort zuzulassen, wo die Entscheidungen fallen, verwandeln sie sich in Repetiermaschinen, deren ›Perspektivlosigkeit‹ allgemein Staunen und Abwehr erzeugt. Sie bleiben mit Überzeugung, was sie ein Leben lang waren: Leute, die ausführen, was andere sich ausgedacht haben und wofür andere irgendwie die Verantwortung tragen. Auch so ergeben sich Karrieren und Erwartungen an Karrieristen, die regelmäßig, wie vornehmlich in der Politik zu sehen, in Enttäuschungen münden.

Geschlechterkrieg

Man versteht keine Lebensläufe, bevor man nicht verstanden hat, wie sich das Verhältnis der Geschlechter innerhalb einer Generation regelt. Die sexuelle Revolution der sechziger Jahre wurde von denen, die sie erfanden oder ablehnten, anders empfunden – und anders gelebt – als von den Nachrückern, denen die undankbare Aufgabe blieb, ein weitgehend leeres, noch unerprobtes Modell des Zusammenlebens zu praktizieren und Erfahrungen damit zu sammeln. Jung sein, gutwillig sein hieß, mit verklebten Augen und Ohren ein Dasein als Versuchskaninchen zu beginnen und die jugendliche Solidarität der Geschlechter als Beweis für die Richtigkeit des eigenen Weges zu nehmen, der ›eigen‹ nur darin war, dass er ein Milieu schuf und erhielt, das diese Generation bis in die neunziger Jahre hinein umhüllte und dann plötzlich, als habe jemand ein Fenster geöffnet, diffundierte. Dieses oft beschriebene Beziehungsmilieu, dessen Kinder sich heute mit Ausfällen plagen, hat einen Großteil der Lebensenergien geschluckt und dafür mit wenig anderem als kurzfristigen Illusionen entschädigt. Ohne die Erweckungseuphorie der Anfänge zeigte sich die ›Beziehung‹ rasch als das, was sie war: als Kampfplatz der Erwartungen ohne Regeln, die dem Kampf wenigstens strecken- und ansatzweise einen spielerischen oder chevaleresken Charakter verliehen hätten. In solchen, von Staat und Justiz in Akten experimenteller Gesetzgebung und Rechtsprechung allmählich eroberten Freiräumen haben gewisse Jahrgänge absonderliche Erfahrungen gesammelt und schreckliche Blessuren davongetragen – im Tun und Leiden gedeckt durch die Formeln des Emanzipiert‑ und Erwachsenseins, am Ende verstrickt in den gnadenlosen Krieg um die Kinder, der oft eher ein Krieg unter Einsatz der Kinder genannt werden sollte. Man kann ein solches Leben als aufregend empfinden, man kann ihm Suchtcharakter verleihen und man kann die tiefe Befriedigung atmen, eine historische Umwälzung von solchem Ausmaß gelebt und im winzigen Rahmen der eigenen Existenz mit gestaltet zu haben. Wer das Theater der Illusionen früh durchschaut und an ihm aus Gründen leidet, die sich nicht einfach abstellen lassen, hat dabei schlechte Karten.

Pendeln

Ein Nebenprodukt des berufsförmigen Lebens ist das Pendeln: die über Jahre und Jahrzehnte praktizierte tage- oder wochenlange Abwesenheit einer Partei – in der Regel der männlichen – von der als gemeinsames Zuhause begriffenen Wohnung, eine Asymmetrie mit Folgen, von Millionen Menschen ›am eigenen Leibe‹ erfahren, meist, ohne sie anders als in Streit und Resignation auszudrücken. Dabei sind die verschwiegenen Vorteile der Kern des entstehenden Übels: was sich als Wochenendbeziehung endlos hinziehen kann, stünde als gelebtes Zusammensein über kurz oder lang vor dem dramatischen Finale. Auch das ist nicht gewiss, wenn man annimmt, dass die Spaltung durch die Notwendigkeit, die Abwesenheit des Anderen als ein zweites Leben – in Wahrheit das erste – zu organisieren, wenn nicht entsteht, so doch einen mächtigen Antrieb erfährt. Wer die Abläufe bereits aus dem Elternhaus kannte, die Entfremdung vom Vater inbegriffen, der erschrickt vor dem, was er sich und den Kindern antut – in der Regel, ohne es verhindern zu können. Im Gegenteil: das Erschrecken wird Teil des Systems, das auf Diskontinuierung hinausläuft. Die fragmentierte Person lebt mit der Vorstellung, ihr Lebensmittelpunkt – eine Floskel aus der Verwaltungssprache mit Tiefgang – befinde sich jeweils am anderen Ende der Fahrstrecke, die es zu bewältigen gelte, um ›wieder zu sich zu kommen‹. Entfällt die Fahrt, so kollabieren die Systeme. Und zwar auf beiden Seiten.

Kinder

Viele aus meiner Generation haben auf Kinder verzichtet. Aus gutem Grund, wie sich im Lauf der Jahre herausgestellt hat. Das Wort Beziehungsdrama, das neugierig machen könnte, verheißt in solchen Regionen nichts Gutes. Das gut gelüftete Geheimnis der Beziehung ist die Trennung: der Schrecken aller Kinder, soweit die Beziehung selbst nicht bereits ganze Arbeit geleistet hat. In der Beziehung wirft die Trennung ihren Schatten voraus. Sie ist mitanwesend im Recht auf Trennung, auf dem sie gründet. Dieses Recht geht den Kindern ab. Weder ist ihre Stimme darin gefragt noch – besäßen sie ein ernsthaftes Recht auf Mitsprache – hätten sie eine, es sei denn eine klägliche. Viele Eltern-›teile‹ haben das begriffen, ohne es ändern zu können. Die Dynamik der Beziehung, einmal in Gang gesetzt, ist stärker als die Stimme des Gewissens, diese religiöse oder quasi-religiöse Instanz, die ohnehin suspendiert ist, sobald Beziehungsmodelle den Alltag zu regeln beginnen. Wer in einer Beziehung ausharrt, deren Zeit abgelaufen ist, besitzt schlechte Karten. Das gilt vielleicht stärker für die männliche Seite, doch finden sich Beispiele auf beiden Seiten. Ein Vater, der sich weigert, die Beziehung rechtzeitig zu verlassen, weil er glaubt, die Familie erhalten zu müssen, wird in seinen Kindern getötet, langsam, bei lebendigem Leibe und sehenden Auges, es sei denn, eine gnädige Form des grauen Stars legt sich für ihn über das Geschehen. Geht er irgendwann doch, so findet er in den Kindern seine erbittertsten Feinde: vielleicht nicht gleich – nein, nicht gleich –, aber schneller als gedacht. Da er dies nicht will, da er es nicht wollen kann, erniedrigt er sich, macht sich zum Spielball ihres Hochmuts, ihrer Vorwürfe und Launen, zelebriert das pater peccavi in allen Spielarten gegenüber der eigenen Brut, als gelte es, das verrufene Patriarchat aus ihnen wieder hervorzukitzeln und gegen den verweigerten Patriarchen siegreich in Stellung zu bringen. Wer sich dem verweigert, dessen Optionen schrumpfen rasch.

 

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