Aesthetica

Erzählung vom Feinsten

Verum et factum convertuntur.
Giambattista Vico, Scienza nuova

 1

Meine erste Krankheit … ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll: Sie hat mich nicht weiter berührt. Alle Leute, mit denen ich bisher darüber reden konnte, versicherten mir, die erste Krankheit sei ein Erlebnis, das den ganzen Menschen verändere. Für meine Person kann ich das nicht bestätigen. Meine erste Krankheit war kurz, schmerzvoll und überflüssig. Ich habe sogar ihren Namen vergessen, so wenig bedeutete sie mir. Jedenfalls nahm sie keinen Einfluss auf meine weitere Lebensgestaltung. An ihrer Stelle verfestigte sich der Eindruck: Krankheiten sind etwas für Ärzte. Sie kennen sich damit aus, sie drücken, notieren, drücken wieder und verschreiben etwas. Sie drücken wieder, notieren, schielen nach der Uhr und verschreiben etwas anderes. Wie man erfährt, leben sie davon gut. In Venedig zum Beispiel sollen ganze Straßenzüge fest in ihrer Hand sein. Ich weiß nicht, ob es sich dort gesünder lebt als in der Neubausiedlung gleich nebenan. Die Frage beschäftigt mich auch nicht wirklich.

Meine zweite Krankheit … kümmert Sie überhaupt, was ich Ihnen hier erzähle? Es sind intime Geschichten und die gehen nur einen begrenzten Personenkreis etwas an. Meine zweite Krankheit ging nur mich etwas an. Ich hatte mir fest vorgenommen, die Ärzteschaft, übrigens bei vollem Respekt vor ihren Fertigkeiten, in Zukunft draußen zu halten. Nicht, weil die Leistungen meines ersten Arztes mich nicht überzeugt hätten – ich war hingerissen vom Charme seiner Sprechstundenhilfe und hätte nichts dagegen einzuwenden gehabt, ihm ein weiteres Mal zu erliegen. Jetzt werden Sie vermutlich denken: Dieser Mensch ist von Natur aus misstrauisch und liest zu viele Horrorgeschichten über Fehldiagnosen und ihre Folgen. Oder er hat, wie jeder halbwegs gebildete Geist, die einschlägige Literatur über die Machenschaften der Pharma-Industrie konsumiert und dadurch seine Unbefangenheit eingebüßt. Die Wahrheit ist: Ich habe meine zweite Krankheit nicht bemerkt.

Irgendwann habe ich einen Zirkel genommen, einen Kreis um das Thema ›Krankheit‹ gezogen und darüber ein einziges Wort geschrieben: ›Tabu‹. Sie glauben gar nicht, was so ein Wort alles bewirken kann. Was tabu ist, das ist tabu und basta. Reden wir nicht darüber. Wer kein Seelenleben kennt, der braucht keinen Seelenklempner. Wer keinen Schmerz kennt, der rennt auch nicht zum Arzt, um sich ein Schmerzmittel verschreiben zu lassen.

Meine dritte Krankheit… Jetzt fange ich an, Sie zu langweilen, aber hören Sie zu –: aus gutem Grund! Denn nur so kann ich Sie hoffentlich davon überzeugen, dass ich hier keine Faxen erzähle, sondern eine sachliche Information weiterreiche… Meine dritte Krankheit … wie soll ich es sagen? Ich habe sie mental nicht rechtzeitig aufgegriffen. Sie war, wie man so sagt, ein richtiger Schleicher und schmuggelte sich ein. Ich muss dann wohl den Zeitpunkt verpasst haben, zu dem der Arztbesuch von meiner Warte aus sinnvoll gewesen wäre. Ich hatte mich an sie gewöhnt. Ja, ein Teil von mir argwöhnte ängstlich, ich würde sie vermissen, falls es jemandem gelänge, sie mir wegzunehmen (schon der Gedanke, sie mit einem Fachmann teilen zu müssen, schuf mir die eine oder andere unruhige Nacht). Auch die unausweichlich auf mich zukommende Frage, warum ich erst so spät zur Untersuchung erschienen sei und wie lange ich bereits an den Symptomen litte, bereitete mir gewaltiges Kopfzerbrechen. Was hätte ich antworten sollen? Dass ich mich einfach nicht krank gefühlt hätte, obwohl mir das Vorhandensein einer Krankheit oder eines krankhaften Organzustandes durchaus bewusst gewesen sei? Oder dass ich genau so lange nichts gemerkt hätte, bis es mir irgendwann vorteilhaft schien, die plötzlich doch vorhandene Sache auf sich beruhen zu lassen – vor allem, weil sich ja gezeigt hätte, dass mit ihr durchaus zu leben sei, obwohl gerade über diesen Punkt zeitweise gewisse Zweifel aufkamen?

Ich bin einfach nicht der Typ, sich vor anderen ohne Not zum Narren zu machen.

Meine vierte Krankheit … meine fünfte … sechste … siebte … irgendwie glichen sie einander. Jedenfalls kann ich mich an keine Vorkommnisse erinnern, die mich nötigten, mich an dieser Stelle über sie zu verbreiten. Wohl aber kommt ihnen das unschätzbare Verdienst zu, mich in engere Verbindung mit ein paar Ärzten gebracht zu haben. In einem Fall ging es sogar ins Private. Was ich sagen will: Man kommt mit einer Krankheit in die Praxis und lernt etwas über Ärzte. Die Krankheit verfliegt und mit ihr die Erinnerung an ausgestandene Ungemach. Was nicht verfliegt, ist die Erinnerung an den Arzt, sein Besucherzimmer, seine Assistentin, seinen eiligen Gang, seine Wortkargheit, seine Art und Weise, die Spritze oder den Kugelschreiber zu zücken: Das alles vergeht nicht, es wird zum Lebensbegleiter, ganz so wie die gemeinsam durchgestandenen Dispute, in denen sich stets aufs Neue ein unheilbarer Dissens offenbart. Kein Arzt kennt meine Krankheit, stattdessen identifiziert er sie mit etwas, über das er Bescheid zu wissen glaubt und wofür ihm die Zeit zu reichen scheint. Man selbst, von der Krankheit ermattet, nickt am Ende zu seinem Vorgehen, weil man so oder so begriffen hat: Das vorgesehene Kontingent ist aufgebraucht. Überhaupt die Zeit … Ärztinnen, so lautet meine Erfahrung, nehmen sich Zeit, sie nehmen sie sich wie ein Tässchen aromatischen Kaffees, sie saugen ihren Duft ein, stellen sie in eine Ecke und vergessen sie dort.

Wovon sprach ich gerade? Von der zwangsläufigen Abstraktheit der Krankheit. Konkret sind die Leiden, die aber, sobald man darüber zu reden beginnt, sich entweder in Wehwehchen verwandeln oder in Schreckensberichte, von denen sich jeder Zuhörer innerlich schaudernd abwendet, in Langweiler, denen man das Grübeln vieler Nächte anmerkt, in Erzählungen vom nahenden Ende. Aber am Ende … am Ende landest du wieder beim aufgesuchten Arzt, seinen Künsten, Diagnosen, Prognosen, Rechnungen und so fort. Ein Kommunikations-Diagnostiker würde es so ausdrücken: Der Arzt ist die Krankheit. Ohne Arzt bliebe sie ein verkrüppeltes, ein unerkanntes Etwas ohne Zentrum und Peripherie, ohne Hand und Fuß, vor allem aber: ohne Maß.

Wer, außer dem Arzt, kann das Kranksein aus der Perspektive der Krankheit beschreiben? Offensichtlich niemand. Wer, außer dem Arzt, hätte daran ein Interesse? Offensichtlich niemand. Gelegenheit macht Diebe, das wissen Götter so gut wie Menschen, dazu bedarf es keiner besonderen Einweisung.

Wer beschreibt daher mein Erstaunen – das klingt jetzt wie eine billige Phrase, aber Sie begreifen schon, wie es gemeint ist –, als ich aus erster Quelle erfuhr, dass in den vor uns liegenden Jahren jeder potenzielle Patient sich seine Krankheit selbst werde aussuchen können? Es war ein heißer Tag und die Brennnesseln warteten geduldig auf Kundschaft. Das hieß ja, praktisch gedacht … was eigentlich? Es hieß für den Einzelnen, sich auf gut Glück eine Krankheit von der Stange zu kaufen und sie anschließend vom nur noch pro forma behandelnden Arzt sine ira et studio, am besten per Internet, bestätigen zu lassen. Der Ruf der Rohrdommel schlug an mein Ohr. Ein progressives Modell, ohne Zweifel, vor allem unter dem Aspekt des Identitätsbegehrens, das in allen westlichen Ländern grassiert: Mündig ist, wer sich selbst in allen Belangen wählt. Es bleibt aber doch immer ein gewisses Befremden dabei, so ein weiteres Mal in die eigene Freiheit hinausgestoßen zu werden, vor allem angesichts bereits eingetretener oder zu erwartender Nebenwirkungen, vulgo Schmerzen. Ein Zeckenbiss vermag dein Leben mehr zu ändern als tausend Skrupel.

 

2

Hand aufs Herz: Seitdem es wirksame Schmerzmittel gibt, markieren Schmerzen nicht länger den Haupt- und Überlebenspunkt des Krankseins. Hauptsächlich dienen sie zur Ablenkung des Patienten, währenddessen der behandelnde Arzt zum Hochamt schreitet. Das ist der Grund, weshalb böse Zungen behaupten, die Homöopathie habe bloß deswegen zu einer ernsthaften Medizin-Konkurrentin heranwachsen können, weil ein gewisser Prozentsatz der Bevölkerung, vermutlich aus eng mit dem jeweiligen IQ verwobenen Gründen, sich hartnäckig weigert, zwischen Schmerz und Krankheit eine saubere Trennlinie zu ziehen. Natürlich ist das so nicht hinnehmbar und der Kampf gegen die Quacksalber und ihre Mittelchen ein gesamtgesellschaftliches Anliegen erster Güte.

Der selbstbestimmten Krankheit, um auf sie zurückzukommen, könnte das Kunststück gelingen, den notorischen Streit zwischen Schulmedizin und ganzheitlichem Zugang ein für allemal zu schlichten. Dazu ein Gedankenexperiment: Werfen Sie einen Stock ins Wasser und verfolgen Sie seinen Weg! Sie sehen, wie er kreiselt und treibt, wie seine Lage sich langsam den Wirbeln und Strudeln des fließenden Elements anbequemt und wie er langsam Ihrem Gesichtskreis entschwindet. Dies alles sehen Sie … sagen wir, Sie sehen zu, wie sich seine Lage entfaltet, wie er Selbständigkeit und ›Momentum‹ gewinnt, und dennoch vergessen Sie keinen Augenblick, dass Sie es waren, der dies alles durch Ihren Wurf herbeigeführt hat. Sie vergessen es nicht, weil Sie es nicht vergessen können. Zwar können Sie vor den Folgen Ihres Tuns die Augen verschließen, aber aus dem Gedächtnis tilgen können Sie es nicht. Und nun die Anwendung: Indem der Patient, der passiv Leidende, wie der Ausdruck besagt, zum Werfer wird – exakt in dem Augenblick, in dem er die Krankheit als seine bestimmt –, setzt er an die Stelle des animalischen Begehrens nach Linderung einen unwiderruflich sein Leben verändernden Akt der Wahl. Sagen Sie nicht, das sei selbstredend, blablabla – in manchem Blablabla versteckt sich eine Alltagsrevolution, die neue Leiden und neue Formationen des Menschseins herbeiführt, von denen unsereins nicht einmal zu träumen wagt.

 

3

Auch der sein Leid wählende Mensch, geschlagen mit der von ihm georderten Krankheit, ist, schon aus statistischen Gründen, ein ›Fall‹. Warum erwähne ich das? Weil er als solcher, berechnet und durchkalkuliert, unweigerlich den Staat auf den Plan ruft. Jeder, der sich einmal mit dieser Materie beschäftigt hat, weiß: Der moderne Staat beruht auf der Leistungsfähigkeit seiner Bürger. Diese wiederum beruht auf der Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems, dieses wiederum auf der Leistungsbereitschaft der Träger, also praktisch, heruntergerechnet auf die dabei zu leerenden Taschen, der Patienten selbst. Als Datenspender betrachtet, führt der Patient dem vom Staat autorisierten Versicherungsträger die Zahlen und damit die Summen zu, die an ihn als Objekt der individuellen Behandlung zurückfließen. Freie Krankheitswahl bedeutet daher für den Einzelnen, über die Verwendung der für das Gesundheitssystem aufgebrachten Gelder autonom zu verfügen – im Prinzip, wie immer, wie denn sonst?

Hören Sie etwas? Hören Sie das Rauschen der Niagara-Fälle? Noch ist es nicht mehr als ein fernes Geräusch, aber wir kommen der Sache näher. Die freie Krankheitswahl, sie wirft, wie alles im Leben, ein klitzekleines Problem auf, gemeinhin bekannt als Anreizlücke: Angesicht der im Pschyrembel, dem Handbuch der kassenmedizinisch zugelassenen Krankheiten, zur Wahl gestellten Überfülle an Krankheiten ist nichts verständlicher als das Zögern der Patienten, die pathologische Verschleppung der anstehenden Entscheidung, die stumme, allzu leicht in unkontrollierte Gewalt umschlagende Verzweiflung der weitgehend gegen ihren erklärten Willen in Freiheit gesetzten, durch die zweifellos vorhandene Krankheit in Unfreiheit gebannten Entscheidungsträger. Es genügt eben nicht, als Hardcore-Liberaler den Willen zur Freiheit zu entfesseln, man muss ihm, sozialpolitisch gewitzt, Ziele und Wege aufzeigen, will man das gesellschaftlich Schlimmste verhüten.

 

4

Das Netz … was verstehen Sie unter dem Netz? »Wer so fragt«, pflegte mein erster Informatiklehrer ex cathedra zu verkünden, »beweist seine lange Leitung.« Dabei beugte er sich ein wenig vor, als wolle er sicherstellen, dass jeder einzelne seiner Hörer in diesem Augenblick schmachvoll das eigene, zu lang geratene Stück Leitung empfand. Mach etwas draus! Das Netz wartet darauf, von dir in Angriff genommen zu werden. Dieser Strom aus Erfindungen, den wir ›das Netz‹ nennen und der unaufhaltsam alle menschlichen Dinge verschiebt, hat unwiderruflich auch die Beziehungen der Menschen zu ihren Krankheiten verändert, ebenso die Verhältnisse der Krankheiten untereinander, vor allem aber die in all dem schlummernden Verdienst- und Machtverhältnisse. Krankheit bedeutet Macht: Diese Binsenweisheit, lange im Wirken der kleinen Provinz-Landärzte verborgen, hat sich unter den Bedingungen des allgegenwärtigen Netzes drachengleich in die Lüfte erhoben und diktiert die Bedingungen des Krankseins ebenso wie die Zusammensetzung der Akteure mitsamt ihren Spielräumen. Schüre die weltweite Angst vor einer Krankheit, die gestern noch ein verlachtes Nichts war, ein Kümmerling, verglichen mit den wahrhaft bedrohlichen Brocken, einer Krankheit, die fast jeder mit größter Leichtigkeit an sich diagnostizieren kann, und es warten, nebst unermesslichen Gewinnen, die Annehmlichkeiten der Macht auf dich, die das Verfügenkönnen über das Wohl und Wehe der Menschen auf dem Planeten nun einmal mit sich bringt.

Das ist ein langer Satz, zu lang für jemanden, der, bereits von Angst ergriffen, das Wüten der Zahlen auf den digitalen Anzeigetafeln verfolgt, ohne ihnen mehr entnehmen zu können als das Pochen der Totenuhren und die Weisheit des Schlachtfeldes: Die Einschläge kommen näher. Ich habe ihn auch nur eingeflochten, um Ihnen, der künftigen Kundschaft, mein Verkaufsmodell zu entwickeln. Es fußt auf einem virtuellen Produkt, das ich, der leichten Fasslichkeit wegen, ›Koop-het‹ nenne (mein Großonkel mütterlicherseits, aus Maastricht gebürtig, legte noch unter der deutschen Besatzung den Grundstein zu seinem Vermögen, man möge mir daher den sprachlichen Ausritt nachsehen). Auch ich habe meine Zeit der Unschlüssigkeit absolviert, ich habe die Qual der Wahl an meinem eigenen Körper zu spüren bekommen und kann ohne Übertreibung versichern: Fast hätte sie mich ins Grab gebracht.

Erwähnte ich es bereits? Ich betrachte mich als wahrhaft Wiedergeborenen, ich habe die Pforten der Hölle gesehen und mehr als einmal hat sich der Bauplan des Universums vor meinem betrachtenden Auge entrollt. Was mich damals gerettet hat, soll jetzt auch Ihnen zugute kommen, jedem Einzelnen von Ihnen. Nur als Einzelne sind wir imstande, dem Bösen zu widerstehen. Geburt und Wiedergeburt sind nun einmal die beiden Enden unserer Existenz. Wer diese Erfahrung nicht machen durfte, der kann nicht nur, der soll auch dort nicht mitreden, wo die wesentlichen Dinge des Daseins, die sogenannten Essentials, verhandelt und letztlich beschlossen werden. Deshalb fällt es so leicht, in der Sphäre der Entscheider, der Politik, auf Wiedergeborene zu treffen, auf Menschen, die einem bis auf Tag und Stunde genau angeben können, bis wann sie mit geschlossenen Augen durchs Leben gegangen sind, vollgepumpt mit Vertrauen in die öffentlichen Funktionen und ihrer Verwalter, und durch welches Ereignis ihnen dann die Binde von den Augen gerissen wurde, so dass aus ihnen Sehende wurden.

Sehende … ich wäre bereit, zur Psychologie dieser Spezies aus eigener Erfahrung einige Beobachtungen beizusteuern, befände ich mich nicht gerade auf einem anderen Pfad. Wer sieht, der will in aller Regel Sehende um sich sehen, das heißt, er will gesehen und in seinem Innersten begriffen werden, jedoch nicht ganz, so dass ein gewisser Vorsprung bleibt, kurz: Er braucht Anhänger. Ich für meine Person konnte mir eine kleine Gemeinde aufbauen, selbstverständlich im Netz, denn, ehrlich gesagt, es hätte mich doch befremdet, die Menschen, die da, zum Teil unter bunten Decknamen, zusammenkamen, um meinen Küchentisch versammelt zu sehen. Wie Sie sich denken können, geht es unserer Gemeinschaft um sogenannte Krankheiten, von denen einige den Einzelnen, einige die Gesellschaft und wieder andere den Staat und seine Handlanger befallen. Eigentlich um nichts anderes als um Aberrationen, um Verfehlungen gegen das, was recht und teuer ist, jedenfalls der Mehrzahl von uns, unter der wir wiederum eine Minderheit darstellen, die Minderheit der Erwachten.

Sie finden das kompliziert? Sie wünschen sich eine Anleitung, um zu verstehen, was damit gemeint sein könnte? Sehen Sie, so kommen wir der Sache bereits einen Schritt näher. Ich könnte mich jetzt hinstellen und verkünden: »Niemand hat die Absicht, Anleitungen zu geben. Der Mensch ist frei in der Wahrnehmung seiner Welt und weiß, was zu tun ist.« Aber das ist Firlefanz, der nicht der mindesten Betrachtung der Realität standhält. Sie wissen das und ich weiß es auch. Der Mensch braucht Anleitungen. Bereits der Pschyrembel, dieses wunderliche Verzeichnis aller Abirrungen der menschlichen Physis, ist eine Anleitung, die Sie wissen lässt, was als Krankheit in Betracht kommt und was nicht. Man könnte genauso gut von gezielter Anstiftung sprechen, bei der Wahl der eigenen Krankheit nicht zimperlich zu sein, sondern beherzt zuzugreifen, wo immer sich die Gelegenheit bietet. ›Jung gefreit ist nie gereut‹ – bei der Wahl der Lebenspartnerschaften mag diese Bauernweisheit ausgespielt haben, auf dem Feld der Krankheiten hingegen erweist sie sich nach wie vor als konkurrenzlos richtig. Dem Thema entsprechend kommt es dabei weniger auf die äußere als auf die innere Jugend an: Wer sich jung fühlt, der wird den Gegenstand seiner Wahl mit Leidenschaft an sich pressen und sich von seiner Präsenz durchdringen lassen.

Aber das Netz, werden Sie fragen, wo bleibt das Netz…? Mit dieser Frage habe ich gerechnet, ich hatte sie bereits notiert, hier steht sie auf meinem Spickzettel, ich muss bloß noch darauf zu sprechen kommen. Im Netz ist jede Entscheidung, Sie wissen es, nur einen Mausklick entfernt. Das hat Folgen für die Psyche, die nicht mehr zu entscheiden vermag, wie viele Entscheidungen pro Zeiteinheit oder pro Lebensabschnitt oder pro Leben für sie verkraftbar sind, weil die Leichtigkeit des Entscheidens alle anderen Faktoren in den Hintergrund treten lässt. Im augenblicklichen Kontext allerdings spreche ich nicht von der Psyche, sondern von spieltheoretischen Überlegungen, die unser aller Handlungen, soweit sie massenhaft und instantan, das heißt, ohne weitere Überlegungen als die gewohnten, gefällt werden, in bestimmte Raster überführen, die es gewissen Leuten erlauben, sich ohne Ende die Taschen zu füllen… Nein, bleiben Sie, ich habe nicht die Absicht, Sie mit Mathematik oder Logik zu belästigen. Draußen stehen Leute, die genau das mit Ihnen vorhaben, dagegen sind Sie bei mir relativ sicher aufgehoben. Bleiben Sie einfach und ich erkläre Ihnen, warum.

Ich habe mein Produkt nicht entwickelt, um Menschen wie Sie zu provozieren. Irgendwie war mir von Anfang an klar: Ich habe nur einen Schuss. Sehen Sie, so ein Branchenfürst, der in den Gründerjahren des Netzes den Grundstein zu seinem unermesslichem Reichtum legen durfte, kann sich heute praktisch jeden Fehlschuss leisten, weil er weiß, nun ja, dass er am Ende des Gemetzels wieder aufstehen wird – die Taschen in der Regel praller gefüllt denn je. Demgegenüber vergleiche ich meine Lage mit der eines Politikers, der zum großen Karrieresprung ansetzt: Er weiß, diese Riesenchance wird sich nie wieder bieten. Wenn er jetzt ins Leere springt, dann für immer. Also kommt es darauf an, seine Vorbereitungen zum richtigen Zeitpunkt getroffen zu haben, bereit zu sein, um gleichzeitig freie Hand und das passende Angebot im Gepäck zu haben. Bereit sein heißt: Nehmt mich. Einen Besseren kriegt ihr nicht.

Ganz recht, das schmeckt nach einem Politiker minderer Ausstrahlung, den kaum einer wählen will, während einflussreiche Interessenvertreter im Hintergrund an einer Konstellation basteln, die seine Wahl zwingend erscheinen lässt. In gewissen Fällen genügt es jedoch auch, wenn ein Wissenschaftler zur Stelle ist, sofern er aus dem Labor alles mitbringt, was die Augen der sogenannten Entscheider zum Leuchten bringt, selbst wenn es auf einen Ekelnamen wie ›Enzym‹ oder … verzeihen Sie, aber ich musste mir gerade auf die Zunge beißen, gelegentlich rutschen mir Wörter heraus, deren Herkunft ich mir selbst kaum zu erklären vermag, wogegen ich sehr wohl weiß, dass sie, einmal ausgesprochen, die Macht besitzen, jeden vernünftigen Diskurs zu unterbinden. Und vernünftig wollen wir in dieser Runde doch sein, oder? Kommen wir zur Sache.

Mein Produkt, Koop-het®, entstammt keiner spontanen Eingebung. Wir verdanken es einer langen Reihe sorgfältig durchgeführter Untersuchungen, ganz zu schweigen von der im Hintergrund werkelnden Mathematik. Dennoch ist die Grundidee schlagend einfach und ich möchte sie Ihnen nicht vorenthalten. Der Mensch, vor die Qual der Wahl gestellt, die ihm gemäße Krankheit per Netzklick zu ordern, sieht sich genötigt, die ihm in strenger wissenschaftlicher Terminologie, hier und da aufgehübscht durch eine drastische Darstellung, vor Augen gestellten Krankheitsbilder mit seinen Zuständen abzugleichen. Was mag das sein, was mich da bedrängt, zwackt, mit Schwindel- und Schwächezuständen eindeckt, mir den Appetit verdirbt und das Bierholen zu einer lästigen Angelegenheit werden lässt? Was immer es sein mag, es bleibt der unsichtbare Feind, der hinter all diesem Druck, Schwindel, Matt- und Lustlossein steckt. Solange ich seinen Namen nicht kenne, ist er ein Dämon, sobald ich mich entschieden habe, ihn so oder so zu nennen, verwandelt er sich in einen artigen Blindenhund, der mir sanft und sicher den Weg in die nächste Apotheke oder auf die Intensivstation des Bezirkskrankenhauses bahnt.

Er wäre aber kein richtiger Dämon, wenn er mir nicht zuflüstern würde: Die ist’s! Oder der! Oder der oder die! Wer weiß? Nein, sieh mich an: Der ist es, ganz sicher ist er es, nimm den! Und dabei drückt und zwackt er ein wenig an passender Stelle, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, so dass alles seine Richtigkeit zu haben scheint. Sie können also, angenommen, Ihre Zähler laufen hinter den Kulissen mit, mit größter Leichtigkeit und garantiert zuverlässig über einen größeren Zeitraum ermitteln, wo es die meisten Menschen in ihrem Krankheitsgeschehen am häufigsten zwickt und zwackt. Wenn Sie erst so weit gekommen sind, schicken Sie Ihr Computerprogramm auf die Suche nach der Krankheit, die diesem Zwicken und Zwacken aufs Tüpfelchen entspricht, und siehe da: Hätten Sie’s erraten?

Noch ist es Zeit. Ich gebe Ihnen drei Minuten… Abgelaufen! Was immer Sie in der Realität haben mögen, einen unerkannten Tumor, Leberzirrhose, einen Herzklappenfehler, eine Gefäßverengung, einen Gesundheitstick – in der Summe dessen, worüber Sie sich indirekt beklagen, indem Sie klicken, klicken, klicken… haben Sie Grippe. Das kann nicht sein, wehrt sich Ihr Selbstwertgefühl, eine Grippe hätte ich erkannt, wenn ich etwas genau weiß, dann das eine: Es muss etwas anderes sein, weit gefährlicher als jede Grippe es jemals sein könnte. Muss es. Es muss etwas anderes sein, weil Sie es so wollen. Auch gut, sagt der Datenanalyst, der Durchschnittspatient ist Voluntarist. Sein Körper hat etwas, die Datenanalyse zeigt, was es sein könnte, daher mit hoher Wahrscheinlichkeit ist, und er ist überzeugt davon, dass er etwas anderes hat. Wie lässt sich dieses Dilemma lösen? Man könnte ihn als Aufklärungsfeind brandmarken, aber was wäre damit gewonnen? Besser, wir unterbreiten ihm ein Angebot.

 

5

Was ist Koop-het®? Wenn Sie mich fragen: die erste synthetische Krankheit, die diese Bezeichnung verdient. Koop-het® simuliert keine natürlichen Krankheiten, es schafft keine neuen, furchterregenden Krankheitsbilder, es synthetisiert durch einen raffinierten biologischen Mechanismus einfach die Summe der vorhandenen Auslöser, die den Durchschnittsmenschen zu der Aussage verleiten: Heute fühle ich mich krank. – Ein Angebot, das keiner abschlagen kann, höre ich Sie murmeln – welch ein Irrsinn. 7,3 Milliarden Menschen und ein Erreger: Koop-het. Seien Sie vorsichtig! An solchen Flapsigkeiten verbrennt man sich leicht die Zunge und keiner kann wissen, was dann passiert. Natürlich richtet der Erreger sich an die Menschheit als ganze. Das liegt in der Natur der Sache. Hingegen liegt es an Ihrem technischen Equipment, ob Sie das Angebot auch annehmen können. Sie müssen schon dafür gerüstet sein. Es ist alles eine Frage der kulturellen Teilhabe. Die anderen können und wollen mehrheitlich nichts von Koop-het® wissen und das ist vielleicht gut so. Natürlich laufen auch hochmotivierte Koop-het-Leugner herum, aber auf lange Sicht sind nicht sie das Problem.

Bitte jetzt keinen Aufschrei! Ich weiß … Rassismus ist die Parole. Wir alle sind in Rassismen befangen. Das Licht am Ende des Tunnels … sehen Sie das Licht am Ende des Tunnels? Wir haben begabte Führer, sie wissen mehr als unsereins, sie werden den Weg finden, wenn wir uns ihnen nur anvertrauen, da bin ich mir sicher. Sind Sie sich sicher? Ich hoffe, Sie sind es. Da muss jeder in sich gehen, jeder für sich allein. Allen Verleumdern zum Trotz möchte ich darauf hinweisen: Koop-het® ist kein rassistisches Produkt. Was mich da so sicher macht? Genau besehen ist Koop-het® überhaupt kein Produkt, sondern ein Projekt. Als Projekt aber … wissen Sie, was ein Projekt ist? Sie glauben es zu wissen, aber wissen Sie es wirklich? Ein Projekt ist … etwas, das sich entwickelt. Wie es sich entwickelt, hängt davon ab, in welche Umwelt es hineingeworfen wird. Ich sage absichtlich ›hineingeworfen‹, denken Sie zurück an das vorhin erwähnte Stöckchen und all die Wirbel, durch die es seinen Weg finden muss. Doch anders als das Stöckchen verändert sich das Projekt auf diesem Weg auch selbst, soll heißen, es verändert nicht bloß seine Lage. Natürlich hat jedes Projekt seine Kritiker. Aber eigentlich beschäftigt sie nur, wie es gestern war, während es heute bereits eine andere Gestalt und ein neues Herz gefunden hat. Das Herz von Koop-het® schlägt dort, wo es Opfer als Opfer sichtbar macht.

AHA. Ich merke, hier herrscht noch Erklärungsbedarf. Erinnern Sie mich daran, dass ich die nächsten Minuten am Ende anhänge, aber das Thema ist mir wichtig. Diese Stille … hören Sie sie? Wir entfernen uns von den Niagara-Fällen, aber nur akustisch, verstehen Sie, nur akustisch. Einen Dreh weiter und… Was plappert der da vorne, denken Sie jetzt, er sollte lieber den Mund halten und seine inneren Stimmen sortieren. Das ist richtig, das ist teils richtig, das denke ich ja in Teilen selbst, aber doch eben nur teilweise, denn diese Fälle, sie werden uns noch beschäftigen, sie werden uns noch beschäftigen… Was ist Rassismus? Anders gefragt: Was ist Antirassismus? Es ist – Sie können mir jetzt widersprechen – Stimmenhören, das Hören von Stimmen, die, je weiter man sich mit ihnen beschäftigt, in Rauschen übergehen, ganz recht, in Rauschen, in eine Art Tinnitus, wenn Sie verstehen, was ich meine, so dass Sie am Ende nicht unterscheiden können, ob es von außen oder von innen kommt. Sie können es einfach nicht unterscheiden.

Wollen Sie es überhaupt unterscheiden? Das ist hier die Frage. Der Mensch kann, was er will, lautet eine Parole, ich glaube, der Aufklärung, aber das tut hier nichts zur Sache. Wenn Sie es aber nicht wollen, wenn Sie aufgegeben haben, es zu wollen, dann… Lassen Sie mich Ihnen eine Geschichte erzählen. Nein, keine Geschichte, eher das Ende einer Geschichte, einer langen Geschichte mit einem verwickelten Vorlauf, eher ein Bild denn eine Geschichte. Sie sehen einen Menschen, einen Politiker, glaube ich, der eine Maske hochhält, hoch über seine Mitmenschen, und sie schwenkt, als wollte er sagen: Seht her, das ist DAS DING, das Ei des Kolumbus, aber lassen wir Kolumbus, den Erzrassisten, einmal außen vor… Was immer noch von uns kommen mag, ich empfehle: Tragen Sie Maske! So ist das mit dem Rassismus. Sie dürfen sich eine weiße Maske kaufen, falls Ihnen danach ist, Sie dürfen sich auch eine schwarze Maske kaufen, Sie dürfen als Weißer eine schwarze Maske tragen oder eine weiße oder als Schwarzer eine schwarze Maske oder eine weiße oder eine schwarz-weiße, Sie dürfen die schwarze Maske mit einem weißen Aufdruck versehen und die schwarze mit einem weißen, Sie dürfen sich auch dem Schwarzweiß-Muster verweigern und bunt tragen, verstehen Sie, bunt, mendeln Sie Ihre Botschaften gerade so aus, wie sie Ihnen passen, selbstbestimmt, selbsternannt, Hauptsache, Sie tragen DAS DING, bis Sie anfangen, mit Ihrem eigenen Gesicht zu fremdeln, weil ein Tabu darauf liegt und Sie selbst, Sie selbst zum Tabuträger geworden sind.

Wie ich darauf komme? Hören Sie: Das Rauschen, es ist zurückgekommen, es ist angeschwollen, Sie fangen bereits an, in ihm einzelne Stimmen-Cluster zu unterscheiden, aber alle reißen einander mit fort. Koop-het®, wie ich und meine Mitstreiter es einst konzipiert haben, ist eine Maske geworden, DAS DING, das alles andere überdeckt. Seine Existenz hat dazu geführt, dass mittlerweile jeder, Depp oder Professor, einzeln seine Überzeugung vornimmt, sobald ihm ein Mitmensch begegnet, mancher sogar vor sich selbst, sollte er aus Versehen einmal allein sein. Er trägt sie im Gesicht, dort, wo früher ein Mund, eine effektvoll geschwungene Nase, ein paar rosige oder faltige Wangen, eine sprechende Mundfalte und dergleichen das Spiel der Individualitäten, ihrer Neigungen und Abneigungen befeuerten – ist alles fort, macht alles keinen Unterschied im Vergleich zu dem einen, vom Kranksein befeuerten: Maske oder nicht Maske, Menschheitsfeind oder -freund, Pro oder Contra, pro Regierung oder contra Regierung, Rassist oder Antirassist, pro Koop-het® oder … Täter. Wo aber Täter sind, da sind auch Opfer. Und wo kein Tatmotiv existiert, da ist das Opfer noch rein. Verstehen Sie? Massen ohne Zugang zu den sozialen Netzen, Ausgeklinkte, die das Spiel nicht mitspielen, weil es in einer anderen Etage der Gesellschaft, unter einer anderen Hautfarbe, einem anderen Jargon, einer anderen Ethnie, einer anderen sexuellen oder religiösen Orientierung oder einem anderen Himmel gespielt wird, sie sind die reinen Opfer. Wäre ich Papst, ich würde ihnen täglich die Füße abküssen.

Koop-het®, was immer seine Verächter unter die Leute streuen, wäre somit die erste antirassistische Krankheit der Menschheitsgeschichte. Sie, jawohl Sie, die kulturell Begünstigten, übernehmen durch Ihr Verhalten die volle Verantwortung für die Pandemie und entscheiden damit darüber, welchen Verlauf sie unter den weniger Begünstigten nimmt. Wie das geht? Warten Sie’s ab. Warten Sie’s einfach ab. I brought you in, I'll bring you out. Hören Sie zu. Sie können diese Krankheit buchen und damit eine Fülle von Eingriffen in Ihr privilegiertes Gesundheits-, Regierungs- und Sozialsystem auslösen (denn, Sie wissen es bereits, jeder Klick zählt), die, mit ein wenig Glück, in der Summe nicht weniger ergeben könnten als die Abschaffung dieses Systems. Sie können es genauso gut auch lassen und damit jene Fülle von Eingriffen in Ihr privilegiertes Gesundheits-, Regierungs- und Sozialsystem auslösen (denn, Sie wissen es, jeder Klick zählt), die, mit ein wenig Glück, in der Summe nicht weniger ergeben könnten als die Abschaffung dieses Systems. Jedenfalls war das erkennbar die Hoffnung der Macher, denen ich Koop-het® in der Frühphase seiner Entstehung vorstellen durfte. Der eine oder andere Lobbyist mag deutlich naheliegendere Vorstellungen im Hinterkopf gewälzt haben, aber darauf komme ich später. Eigentlich ist mir der ganze Komplex peinlich. Ich bin ein einfaches Gemüt und möchte, was alle gern möchten: verdienen.

 

6

Jeder Erdenbürger kann von sich sagen: Ich habe Koop-het®. Dazu bedarf es keiner Symptome. Im Gegenteil: Gerade die Abwesenheit von Symptomen deutet darauf hin, dass da etwas sein könnte. Idealiter liegt das prozentuale Verhältnis von Nichtsymptomatikern und Symptomatikern bei 80 : 20, kann sich aber bei Bedarf verschieben. Der Vorteil gerade dieser Verteilung liegt auf der Hand: Keiner darf sicher sein, kein Koop-het®-Träger zu sein, keiner bleibt ausgeschlossen aus dem Reigen der schützend zu Beschützenden, keiner kann den rotzigen Part des Nichtbetroffenen mimen. Denn auch die Geheilten – oh ja, es gibt sie, die Geheilten! – sind ein wichtiger Teil des Reigens, sie haben in den aufgerissenen Rachen der Hölle geblickt und wurden gerettet, sie allein sind die wahrhaft Heilen mit einer ganz ganz wichtigen Botschaft, der sich keiner entziehen kann.

Wo, werden Sie angesichts dieser Suada fragen, bleibt der Schutz, der effektive Schutz, ohne den wir weder den Pschyrembel noch irgendwelche angeschleppten Krankheitsdefinitionen bräuchten? DAS DING, wie wir es nennen, die Maske jedenfalls … wissen Sie, die Spatzen pfeifen es von den Dächern, da muss ich als alter Koop-het®-Entwickler nicht auch noch ins Horn der Leugner… Wie krank wäre das denn? Also: Wozu tragen wir sie überhaupt? Wie jedes religiöse Symbol ist auch die Maske durchlässig, geradezu anfällig für Fehldeutungen und krasse Leugnungen. Wie der religiöse Mensch durch die Finger sieht, so atmet der Koop-het-Gläubige durch die Maske. Ein Hersteller schrieb ins Kleingedruckte: Sie verhindert effektiv, sich an die eigene Nase zu fassen. Und das ist die Wahrheit, die reine Wahrheit. Wer mehr Schutz sucht, dem sei verraten: Gerade das macht ihn zum Koop-het-Adepten. Koop-het-Leute sind Schutzsuchende – das ist in diesen kalten und unberechenbaren Zeitläuften eine ganze Menge. Wo sie Schutz finden, wie sie ihn finden, das wird ihnen zwar nicht zur Gänze überlassen, aber es bleibt doch weitgehend in ihre Hände gelegt, so dass die schütteren Zusatzmaßnahmen der Regierung, das rituelle Händewaschen, der Mindestabstand, die Maskenpflicht, die Aus- und Zugangsverbote, die Grenzschließungen und Quarantäne-Anordnungen, das Verbot der einfachsten wie der originellsten Tätigkeiten aufgrund ihrer vermuteten Gefährlichkeit für eine gesunde Allgemeinheit nur wie der berühmte Tropfen auf den heißen Stein wirken, der zwar einerseits nichts (oder fast nichts) bewirkt, aber andererseits dieses unauslöschliche Verlangen nach mehr Maßnahmen erzeugt, dem sich eine dem gesunden Volkskörper verpflichtete Regierung nur unter äußersten Mühen, wenn überhaupt, verschließen kann.

Ich habe vor der Implantierung des Systems mit Politikern geredet und sie bewegte nur eine Frage: Bringt es Wählerstimmen? Wie viele Wählerstimmen bringt es? Wir haben die Firma Digital Vote Research kontaktiert, die solche Aufgaben im Handumdrehen erledigt, und ihre Ergebnisse fielen, vorsichtig gesprochen, sehr ermutigend aus. Stellen Sie die Menschen vor die Entscheidung, was ihnen wichtiger ist – ganz nackt: Sicherheit oder Freiheit? Dann bekommen Sie eine Verteilung von 80 : 20 Prozent. Das Verhältnis sollte Ihnen mittlerweile bekannt vorkommen. Es gibt den Goldenen Schnitt und es gibt den Schnitt, den, Hand aufs Herz, jeder in seinem Leben machen möchte. Man lebt nur einmal. Ganz sicher gilt das für die sterblichen Gottheiten der Moderne, die globalen Konzerne mit ihren unendlich regen, unendlich beweglichen Tentakeln, die in jede Regierungszentrale hineinreichen und vollkommen gegenwartszentriert sind, obwohl die Planungen in die Jahrzehnte gehen. Genauso sicher gilt es für die Halbgötter der Geschäftswelt, die ihren Schnitt bereits gemacht haben und nun auf Verdoppelung oder Verzwanzigfachung ihres Vermögens wetten. Ein Nichts, ein Wicht geradezu wie ich muss versuchen, diese Mächte für sich arbeiten zu lassen, will er in diesem Leben Erfolg haben. Er kommt aber nicht an sie heran. Genau genommen besteht darin sein Dilemma.

Sie fragen nach dem Schutz? Sehen Sie, wenn Sie eine Krankheit verkaufen, dann verkaufen Sie (A) entweder ein Diagnose-Tool, sagen wir einen Test samt zugehöriger Krankheitsbeschreibung, oder Sie (B) verkaufen eine Heilungsperspektive, aus der Sie sorgsam alles entfernen, was den versprochenen Erfolg in Frage stellen oder in ein schiefes Licht rücken könnte. Ich bekenne mich frank und frei zum Typus A, mit den Machenschaften von B habe ich nichts im Sinn. Wenn Sie mich jetzt fragen, wie sicher mein Diagnose-Tool in der Praxis funktioniert, dann bekenne ich ebenso frank und frei: 80 : 20. Woher ich das weiß? Gar nicht, woher sollte ich es wissen? Es bedeutet, wenn Sie so wollen, eine gute Relation, und das genügt mir. Wenn Sie sich vor die Kameras stellen und erklären, ein Viertel der Bevölkerung bevorzuge das und das, dann berufen Sie sich damit auf einen Machtfaktor, an dem keiner vorbeikommt. Wenn Sie aber, und sei es in derselben Sendung, die Bemerkung fallen lassen, zwanzig Prozent der Bevölkerung glaubten dies oder lehnten jenes ab, dann reden Sie von einem Bodensatz, vor dem jeder aparten Moderatorin graust. Zwanzig Prozent zählen nicht, man nimmt sie einfach in Kauf. Zwanzig Prozent Fehldiagnosen sind ein Ärgernis, aber kein Beinbruch. Zwanzig Prozent Fehlerquote bei einem Test, von dessen Wirkungsweise nur ein paar Laborfanatiker etwas verstehen, sind ein Klacks. Egal wie der Test ausfällt: Ihre Aufgabe als Verkäufer besteht darin, sich hinzustellen und zu erklären: Die Fehlerquote liegt unter zwanzig Prozent, vermutlich weit darunter, vermutlich bei einem Prozent, aber das wissen wir derzeit nicht.

Worin besteht das Spiel? Wenn Sie einen Test entwickeln, einen erfolgreichen oder, bleiben wir vorsichtig, erfolgversprechenden Test – ich meine das jetzt unter Marketing-Gesichtspunkten –, dann laufen sich auf der anderen Seite der Bande die Heilungsspezialisten warm. Und wenn die Heilung ins Spiel kommt … Sie wissen schon, Heilung ist Big Business, da gehen Leute ins Rennen, die gar nichts anbrennen lassen, da ist immer viel Luft nach oben drin, das stimmt einfach so. Da kommt dann schnell mal ein Minister vorbei und fragt, wie’s aussieht und wann er seine Medienkonferenz ansetzen kann. Solche Dinge müssen schließlich geplant sein, sie brauchen ein Umfeld.

Ich sehe, Sie nicken, also erzähle ich Ihnen nichts Neues. Ich erwähne es auch eher der Vollständigkeit halber, wir entfernen uns wieder vom Tinnitus-Rauschen, ich beeile mich schon. Am besten macht sich natürlich ein neuer Impfstoff. Mit Impfstoffen kriegen Sie jeden Politiker. Das Kribbeln in den Fingern muss außerordentlich sein. Wie lautet der Anfang eines typischen Bittgebets? Verschone mich… Darin liegt schon das ganze Geschäftsmodell. Impfstoffe lassen sich seriell verabreichen, also bedarf es keiner ärztlichen Bemühung um den einzelnen Patienten: Damit lässt sich Staat machen. Impfstaat und Gesundheitsstaat sind eins. Wenn Sie mich fragen: Der Staat, dieser Staat, unser Staat impft seine Bürger Tag für Tag, er impft sie mit Botschaften, Phrasen, Floskeln, verweigerten und gestreuten Informationen, mit Fingerzeigen, ob ins richtige oder falsche Eck, tut nichts zur Sache, da es hier nicht um richtig oder falsch geht, obwohl alles so dargestellt wird, als gehe es um nichts anderes als um richtig oder falsch, er impft sie, sagt mein Partner, der ein paar Beamte aus dem Regierungsapparat persönlich kennt, damit sie gegen die Floskeln des politischen Gegners resistent werden. Doch den Impfstoff gewinnt er aus Partei-Floskeln, so dass die Bevölkerung als erstes eine Resistenz gegen die aktuell Herrschenden aufbaut. Übertragen Sie das auf das medizinische Impfen, dann bedeutet es: Der Staat zieht sich seine Impfgegner selbst. Am Ende darf niemand, den es angeht, überrascht sein, dem Pharmaberater als zuständigem Minister und dem Minister als Pharmaberater vis-à-vis zu sitzen. Nur so kann die notwendige Kontinuität öffentlichen Handelns sichergestellt werden.

 

7

Wir verstehen uns? Ich denke, wir verstehen uns. Gestern kam mein Flegel von Sohn vorbei und verlangte Kohle, richtig Kohle, wie er sich ausdrückte, denn er sei blank und ich schwämme ja nun in Geld. Mein Sohn, Sie ahnen es schon, ist ein wahrer Taugenichts, als Programmierer … unschlagbar, leider im Leben etwas unstet, eben doch keine Tochter, er kann einfach nichts dafür. Er hat mir geholfen, den Code zu entwickeln, im Grunde ist Koop-het®, so wie es heute im Rampenlicht steht, sein Produkt. Er ist ein Goldiger, ein Wuschelkopf … aber ernsthaft, verstehen Sie, ernsthaft wie nur einer, der früh die Falsche erwischte und seither nicht von ihr loskommt, obwohl sie längst über alle Berge ist. Mein Sohn … sagte ich es? Seltsam, diese Dinge so einfach zur Sprache zu bringen. Gewöhnlich decken wir sie ja voreinander zu. Wie gern sähe ich ihn als Millionär. Ich würde gerührt das obligate Halskettchen drauflegen, bloß um ihn glücklich zu wissen. Gestern allerdings … Die Enttäuschung muss herb ausgefallen sein, herber, als ich es mir vorgestellt hatte. Wortlos stürzte er an mir vorbei aus dem Zimmer, es fehlte nicht viel und er hätte den Türrahmen gerammt, aber diese Gefahr bestand vielleicht doch eher in meiner Einbildung. Wohler wäre mir, er befände sich heute unter uns.

Koop-het® macht alle Welt reich. Blickt man genauer hin, findet man die berühmten Ausnahmen. Etliche Tausend hat es ins Grab gebracht, wenngleich die offiziell herumgereichten Zahlen ein seltsames Gefühl in meiner Magengrube hervorrufen, eine Menge Leute hat es einfach ruiniert, eine ziemliche Menge sogar, wenn man zusammenzählt, aber wer zählt schon zusammen, solange die Leute nicht zählen, um die es geht, – viele Zeitgenossen und -genossinnen, ich betone ausdrücklich: viele bekommen dieses selig-dümmliche Lächeln um die Mundwinkel, das jede weitere Nachfrage überflüssig erscheinen lässt. Aber sehen Sie, eine Krankheit ohne Test, das ist wie ein Tisch ohne Beine, Sie können alles draufpacken, der nächste tritt hinein und fragt mit gedehntem O, als habe er gerade Maulsperre, wo hier der Tisch sei, er für seine Person könne keinen erkennen. Widersprechen Sie ihm und Sie fangen sich einen Maulkorb. Also brauchen Sie ein Institut mit einem Labor und einer Lizenz, am besten ein staatliches, am besten ein stattliches, Sie brauchen … ich will Ihre Phantasie nicht ermüden, aber wenn Sie endlich alles beisammen haben, dann wissen Sie immer noch nicht, ob Sie, was den Institutsleiter angeht, nicht an einen Wolf im Schafspelz, einen reißenden Wolf im Gewand einer Amöbe geraten sind, der mit Ihrer Erfindung, die ohne sein Institut nichts ist, auf und davon geht…

Habe ich etwas gesagt? Haben Sie etwas gehört? Enthalten diese vier Wände ein Geheimnis, größer als das Land, größer als der Kontinent, größer als der Spielplatz nebenan, auf dem die Generation künftiger Steuerzahler von Mundschutz tragenden Müttern vor den irreparablen Schäden des Kindseins bewahrt wird, indem sie ihr alles zufügen, das Bittere, das Böse, das Verletzende und das Verstörende? Nein, sie enthalten nichts, nicht die Spur einer Botschaft. Nur die Wahrheit, die bittere Wahrheit, die spät ans Licht kommt und nur, um in ihm zu verwehen. Sehen Sie, einer hat den Einfall, ein anderer hört ihn und schreibt ihn auf: Wem gehört der Einfall? Ein anderes Beispiel: Sie erfinden einen neuen Typus Krankheit, weil sie etwas vom Netz der Netze verstehen und seinen Auswirkungen auf die menschliche Psyche, und ein anderer, ein führender Virologe, entwickelt den Test dazu und erklärt: Da hast du deine Krankheit. Wem gehört sie, die Krankheit? Anders gefragt: Wer will sie haben? Schon sind Sie in Geschichten verstrickt, die weder Sie noch Ihr Gartenfreund von nebenan überblicken, vielleicht ein paar Leute vom Geheimdienst, solange sie sich untereinander noch nicht ausgetauscht haben und wissen, was man besser für sich behält. Der führende Virologe nimmt seinen Testrahmen, auf den das Virus nun einmal passen muss, ja nicht vom Haken, nachdem er bis vier gezählt hat; er reagiert auf Zuruf, auch er folgt seinem Stern, und wenn der Stern im Osten aufgeht, dann … dann … weiß er, dass er ab jetzt Geschichte schreibt. Und er geht hin und schreibt Geschichte. Manche Geschichten schreibt er nur ab, zum Beispiel die Geschichte der Fledermäuse, die in geheimnisvollen Höhlen am Ende der Zeit, ihrer Weltzeit, den Rohstoff für ein paar der schmutzigsten Menschheitsgeheimnisse liefern, manche erfindet er, um sie gleich wieder zu vergessen, nur so, für den eigenen Hausgebrauch, manche Geschichten passieren einfach und er gibt seinen Kommentar dazu… Er ist ein guter Kommentator, seine Stimme klingt sonor und beruhigend, das wirkt hinauf bis in die Spitzen des Staates, vielmehr, es ist dort seit langem bekannt, aber sicher sein darf er sich dessen nicht.

 

8

Konstruiert ist meine Krankheit, Sie werden es längst bemerkt haben, wie eine Falle, eine Mausefalle, sofern Sie es anschaulich haben wollen: Sie laufen hinein, weil Sie sich etwas davon versprechen, zum Beispiel ein Stück Selbstbestimmung, und sie schnappt zu. Jetzt sind Sie gefangen, aber Sie wissen nicht wie und vor allem nicht warum. Zeigten Sie dieselben Symptome nicht letztes Jahr? Ja, aber damals waren sie harmlos. So harmlos, dass Sie sich einfach kurierten, indem Sie ein handelsübliches Grippemittel einwarfen, wie Sie das vor sich selber nannten. Nein, schnurrt die Katze, die Ihren Käfig umschnürt, nein, so harmlos geht es diesmal nicht ab. Wie geht es dann ab? Es ist anders. Es ist anders, als wir zuerst dachten, wir wissen noch nicht, wie anders es sein wird, wenn wir es erst zur Gänze erforscht haben, wir forschen noch, wir stehen erst am Anfang. Eine komische Katze, denken Sie sich, sie macht doch sonst mit ihrer Klientel nicht so viel Federlesens. Ich komme nicht heraus und sie kommt nicht zu mir herein. Warum? Nun ja, sie ist eine virtuelle Katze, sie wurde ebenfalls konstruiert, sie ist eine raffinierte, aus Algorithmen und Zaubersprüchen zusammengesetzte Rekonstruktion des ältesten Zuchtmittels der Welt: des Gerüchts. Sie soll Sie ängstigen, aber doch nicht – bleiben wir beim Beispiel der Maus – auffressen: Niemand hat die Absicht, eine Falle zu bauen. Das mag richtig sein. Aber ist der Hinweis vonnöten? Die Falle existiert, weil sie funktioniert, sie ist real, weil die Furcht real ist, so real, dass keine Instanz der Welt Sie davon befreien kann, nicht einmal der Regierungsanzeiger oder der medienerfahrene Minister mit dem von umfassender Verlässlichkeit zeugenden Leibesumfang.

Sehen Sie: So weit wollte ich gehen. Ich bekenne mich schuldig: Ich hielt es für eine ausgezeichnete Idee, den Pschyrembel, wie er zu jedermanns Gebrauch nun einmal im Netz steht, durch eine einfache Konstruktion zu ersetzen, eine Passepartout-Krankheit, die jeder x-beliebige Mitmensch an sich selbst diagnostizieren kann und die niemanden unbeglückt lässt – ein Bäumchen-schüttel-dich der Gedankenerkrankung, des möglicherweise Erkranktseins, des Ringens um Körper-Klarheit, die doch immer nur moment- und ausschnittweise eintritt, eines informationellen Infekts, der die Sorge um sich zur staatsbürgerlichen Pflicht erhebt, da jeder unter derselben Bedrohung dahinzuleben gezwungen ist.

Das war meine Idee. Ich wollte den Durchschnittsmenschen als jederzeit melkbaren Patienten: Fast hätte ich es geschafft. Was dann geschah, hat mich ebenso überrascht wie vermutlich die meisten in diesem Raum. Ich könnte auch sagen, es hat mich kalt erwischt. Kalt… Fahren Sie auch manchmal abrupt aus Träumen auf, in denen Sie etwas getan haben, was Sie nie…? Natürlich, allen passiert das, es ist Teil unserer natürlichen Ausstattung, nur geschichtssüchtige Narren erkennen darin bereits einen christlichen Einfluss, dabei ist das Christentum selbst … nur ein Ausfluss, wollte ich sagen, aber dann hätte ich diese Fraktion am Hals und nichts käme mir im Augenblick ungelegener. Nein, ich bin kein Freudianer, mein Dasein ist in mancher Hinsicht weitgehend freudlos verlaufen, ich kann Niederlagen verkraften, selbst solche, die kein anderer sieht. Ich kann auch ins Glied zurücktreten, sobald ich sehe, hier wird das ganz große Rad gedreht.

Das ganz große Rad… Wissen Sie, wo es steht? Ich habe mir diese Frage oft gestellt und keine Antwort erhalten. Dazwischen habe ich gelernt, andere erst gar nicht zu fragen, da sie ohnehin nur Antworten parat haben, die man bereits als zu leicht befunden und verworfen hat, während die Leute ein Gesicht dazu machen, vor dem man am liebsten ausspeien möchte, so wissend-unwissend springt es einem entgegen. Die große Illusion des Bewusstseins, es könne Wege zurück in ein Paradies spannungsfreier, geschenkter, auf ewig seligmachender Wahrheit geben, kommt aus dem Grunde des bewussten Lebens, das nicht von den sanften, meist unmerkbaren Bedingungen des Existierens umhüllt … ist, sondern sogar noch in ihm den Verlust der Unmittelbarkeit hinzunehmen hat. Verlust der Unmittelbarkeit: Wie geht das? Vielleicht so: Sie produzieren etwas, genauer gesagt, Sie haben einen Einfall, Sie beschäftigen sich mit ihm, Sie optimieren ihn, sie beziehen die Leute ein, die es braucht, ihr Produkt (denn es geht immer um ein Produkt) realiter auf die Beine zu stellen, und dann – richtet sich dieses Produkt eines Tages auf, es kommt, schwankend zwar, aber unaufhaltsam, auf die Beine, es zeigt sich Ihnen in seiner Größe, womöglich noch nicht einmal in seiner vollen Größe, denn inzwischen haben Sie bereits den Überblick verloren, nicht Sie haben es auf die Beine gestellt, Sie wissen nicht, wer dahinter steckt, oder ob es sich irgendwann von allein… Könnte so etwas passieren? Könnte so etwas wirklich passieren? ›Blinde Emergenz‹ haben schlaue Leute dergleichen genannt, aber vielleicht waren sie auch nur mit Blindheit geschlagen.

Ein schlaues Kerlchen – ich verwende solche Ausdrücke nur sporadisch, doch in diesem Fall scheint es mir angebracht –, ein schlaues Kerlchen jenseits des Atlantik hat vor ein paar Jahren den Ausdruck ›Schwarzer Schwan‹ in Umlauf gebracht – ob er ihn jetzt, angesichts einer leidenschaftlich geführten Rassismus-Debatte, die ihre Erfolge nach Straßentoten zählt, noch immer benützen würde, wage ich zu bezweifeln, aber er ist nun einmal in der Welt, ebenso wie die weiß gefiederten Schwäne, von denen der schwarze sich durch seine Seltenheit abhebt, eine außerordentliche Seltenheit, die es nicht erlaubt, sein Auftreten zu prognostizieren: Wenn er da ist, ist er da, mehr lässt sich einfach nicht dazu sagen. Der Schwarze Schwan ist das absolut singuläre Ereignis. Wenn Sie mich fragen, ob es dergleichen gibt, muss ich passen. Ich weiß es einfach nicht. In meinem Fall, im Fall von Koop-het®, scheint es sich, meiner bescheidenen Ansicht nach, eher um eine Parallelgeschichte zu handeln: Etwas geschieht und etwas anderes geschieht auch. Und siehe da: beide Ereignisse schießen in eines zusammen. Sie können mir folgen?

Es ist an der Zeit, eine Geschichte zu erzählen.

In einem fernen, bitterreichen und bettelarmen Goldgräber-Land, ich nenne es Chi, um Komplikationen zu vermeiden, die vielleicht mein Leben und das meiner Verwandten gefährden könnten, hebt ein freundlicher Arzt mittleren Alters warnend den Finger, weil eine Serie von Todesfällen bei meist alten Leuten ihm den Eindruck vermittelt, am Anfang einer Epidemie zu stehen –: in jenem fernen, von unserer Wirtschaftselite heiß umworbenen Land hebt jemand nicht einfach den Finger, nicht einmal als Arzt, schon gar nicht als Arzt, jedenfalls nicht ohne Auswirkungen auf das persönliche Wohlbefinden, hierzulande meist verharmlosend als Karriere bezeichnet, obwohl es eher die Vergeblichkeit beschreibt, heil davonzukommen. Dieser mittlerweile an der von ihm bemerkten Krankheit gestorbene Arzt löst etwas aus, das einen entfernt an die vorhin beschriebene Impf-Paradoxie erinnern könnte: Das Regime beginnt seine Leute zu impfen, das heißt mit der Information zu versehen, der Arzt habe seine diagnostischen Kompetenzen überschritten, da sei nichts, und bei den weltweiten Feinden dieses Regimes, nennen wir sie kritische Beobachter, beginnen sich, wie zu erwarten, Antikörper zu bilden. Das Regime beteuert, da sei nichts? Achtung an alle: Da geht etwas vor.

Sie merken, das ist nicht mehr die Krankheit im Auge eines aufmerksamen Arztes, es ist etwas anderes, es ist Politik. Der schnell erzählte Rest ging dann auch durch alle Medien: Das Regime, eigentlich bestens bewandert in den Techniken, scheibchenweise mit dem herauszurücken, was es als Ganzes nicht zugeben kann, fällt um – fällt einfach um wie ein nasser Sack, wie ein zu lange im Regen gestandener Vogelschreck, und schürt die Panik, die es anfangs vielleicht bloß zu verhüten trachtete, so wie es notorisch jeder Bewegung in der Bevölkerung mit Verhütungsmaßnahmen begegnet. Eine Staats-Panik will aber, wenn schon, kalten Blutes geschürt sein, soll sie sich nicht gegen ihre Urheber richten. Das ist gar nicht so einfach … überhaupt nicht einfach, wenn es sich dabei um eine Krankheit handelt, vor allem eine, die vorwiegend alte Menschen dahinzuraffen scheint, Menschen, wie sie nun einmal in Politbüros anzutreffen sind … so eine Panik kann man praktisch nicht schüren, ohne sie in sich selbst anzufachen, da kann man so überlegen tun, wie man will.

 

9

Merken Sie etwas? Ich habe es nicht gewollt. Mein Virus ist ein Informations-Virus, eine Kommunikationsfalle, sauber ausgearbeitet und programmiert, ich habe mir da nichts vorzuwerfen. Was den führenden Virologen angeht, den mir einzubinden gelang, so betrachte ich ihn inzwischen als ein finsteres Loch. Tatsache ist offenbar, dass er seinen Test, unseren Test, in die auf der anderen Seite der Erde sich formierende Panik warf und damit vermutlich eine ganze Serie weiterer Kurzschlüsse auslöste, bis … sich schließlich weltweit in den Köpfen einfacher Leute Bilder von Leichenbergen einstellten, aufgestapelt am Ende der Welt, dort, wo es ihrer einfältigen Ansicht nach in die Tiefe geht, in Plastiksäcke gehüllt auf den Abtransport wartend, um an geheimen Orten kremiert zu werden wie einst die unglücklichen BSE-Rinder, die keiner Fliege etwas zuleide getan hatten, aber aufgrund komplizierter, in klimatisierten Büros durchgeführter Risiko-Berechnungen weggeräumt werden mussten. So sieht es aus. Sehen Sie sich um: So sieht es noch immer aus.

Mein Sohn – ich habe Ihnen meinen Sohn vorgestellt und jetzt tritt er aus der Kulisse –, mein Sohn hat einmal durchgerechnet, wie viel Rechnerleistung es bräuchte, um eine Pandemie vom Format Koop-het® von A bis Z zu orchestrieren. Ich weiß nicht, ob ich dem Ergebnis trauen soll, mein Sohn ist ein Romantiker der Taste, aber wie dem auch sei, er hat mir, das typische verhalten-müde Lächeln im Gesicht, treuherzig versichert, der Aufwand würde locker reichen, um einmal mehr die Versorgungslücke, die berühmte Versorgungslücke der Menschheit zu schließen und damit die Voraussetzung für den Weltstaat zu schaffen, den die Verteilungskämpfe der Menschheit bislang erfolgreich verhindern. In dieser Dimension bin ich nicht zu denken gewöhnt. Mein persönlicher Ehrgeiz weiß nichts vom Weltstaat, er hält ihn für eine fixe Idee und Ideen lehnt er grundsätzlich ab. Damit will ich nicht sagen, dass ich bloß in Leibern denke. Ich möchte Projekte sehen, gut durchdachte, finanziell gepolstert, mit einem gewissen Zukunftshauch, der früh genug verfliegen wird, aber heute seinen motivierenden Zweck erfüllt. Ich bin, wenn Sie so wollen, ein grün angestrichener Projektmacher, aber im Grunde meines Herzens verstehe ich mich unpolitisch.

Mein Sohn hingegen … ach, lassen wir das. Mein Sohn ist ein Fass ohne Boden. Er kassiert mich an meinen ideologisch undichten Stellen ab und um den Rest schert er sich einen feuchten Kehricht. Verstehen Sie, ganz privat, was es heißt, Rest zu sein? Ich bin nicht der römische Papst, der es sich leisten kann, den Rest als theologische Verheißung zu zelebrieren, wie immer er das im Einzelnen meinen mag. Ich frage mich auch, mit welchem Recht der liberale Papst und seine scharlachrote Corona neuerdings dem Vernehmen nach Gesichtsmasken segnen, es sei denn, diese Dinger würden von armen Näherinnen, die sonst elend verhungern müssten, in Heimarbeit hergestellt. Und damit spreche ich noch nicht von all den anderen wunderlichen Maßnahmen, die rund um den Erdball von den Regierenden ersonnen wurden, um der Bewegungsfreiheit ihrer Untertanen einen saisonalen – oder post-saisonalen, da streiten sich die Gelehrten – Dämpfer aufzusetzen. Ich kann sie ja verstehen, alle miteinander, ich verstehe nur nicht, wie sie zu ihren weitgefächerten Maßnahmen kommen. Ich fürchte, da ist auch nichts zu verstehen. Erst die Maßnahme, dann das Verstehen. Dem hinterdrein wieselnden Verständnis wird schon, spätestens vor Gericht, eine Begründung einfallen. Ihm ist noch jedes Mal eine eingefallen. Regierungen schielen auf Regierungen; wenn eine etwas verordnet, dann ziehen die anderen, schon um nichts zu verpassen, nach. Das nennt man, glaube ich mich zu erinnern, Domino-Effekt.

 

10

Wissen Sie, das Schwarze am Schwarzen Schwan ist sein Humor. Jedes Ereignis ist singulär, sonst wäre es keines. Jeden Tag geschieht auf der Erde millionenfach etwas, das niemand voraussah, das ist nichts Besonderes. Und das, worauf angeblich alle warten: Tritt es denn ein? Tritt es jemals ein? Die Menschen warten auf so vieles, das niemals eintritt. Aber jedes Mal, sobald etwas eintritt, hebt jemand den Finger: Hab ich’s nicht gesagt? Und die Person hat recht, jedenfalls in einer Vielzahl von Fällen, auch wenn sich immer wieder Schwindler ins Geschäft mischen. Wo also steckt er, der Schwarze Schwan? Wer hat ihn gepachtet? Hat ihn denn jemand gepachtet? »Kein Problem«, reklamiert das schlaue Kerlchen aus Übersee, »ihr werdet ihn schon erkennen. Das ist das Berückende an ihm, dass ihn jeder erkennen wird. Etwas begibt sich und der angestaute Fluss der Ereignisse bricht sich Bahn – unaufhaltsam, mit der Wucht einer unbekannten Natur, keine Hand, die sich steuernd erhebt, kommt dagegen an.« Einem geschickten Historiker wird es immer gelingen, die Wendepunkte zu markieren, an denen das von ihm darzustellende Geschehen einen neuen und schließlich den entscheidenden Verlauf nimmt, dafür nimmt man gern einen Schwarzen Schwan in Kauf, ein Zufallsereignis, je unscheinbarer desto besser. Aber das sind Stilisierungen post eventum, und nicht nur post eventum, sondern post periodum, nach der großen Zäsur, die eine Ereignisfolge oder gleich eine Epoche von der folgenden trennt.

Ein Schwarzer Schwan ist wesentlich schwieriger zu diagnostizieren als eine revolutionäre Situation. Für letztere gelten gewisse Kriterien, an denen man sie unweigerlich erkennen würde, besäße man nur den Überblick. Der Schwarze Schwan kann dies, er kann jenes sein, woran soll man sich halten? Am besten an nichts, denn er kann alles sein. Er liegt nirgends sonst als im Auge des Betrachters und da liegt er gut. Aber wenn man einer Generation von Bankern, von Investoren, von Politikern einbläut, ihr Wohl und Wehe – und nicht nur ihres, sondern das ganzer Volkswirtschaften und selbst Konzerne – hinge davon ab, dass sie ihn erkennt, und zwar rechtzeitig, möglichst bevor die Konkurrenz ihn entdeckt, dann verwandelt sich, sobald der Druck im Kessel und damit die Erwartung des Kommenden steigt, die Generation in eine kritische Masse Panikgefährdeter, die bereit ist, das Fallen eines Kieselsteins für den Beginn eines Erdbebens zu halten und sich entsprechend zu benehmen.

Benehmen, ich spreche von Benehmen, denn, unter uns, was wir in den vergangenen Wochen und Monaten erleben durften, war eine kunterbunte Abfolge von kindischem, kopf- und planlosem, hinterhältigem und, bei aller zur Schau gestellten Verantwortung, würdelosem Benehmen. Sie wollen mir nicht glauben? Starren Sie nicht auf die Regierenden, blicken Sie in den Spiegel und denken Sie zurück: Werden Sie fündig? Haben Sie nicht etwas vor sich zu verbergen? Eine kleine Panikattacke, einen Wutanfall über die, von denen Sie sich besser geschützt wissen wollten, eine gewisse, Sie im Nachhinein selbst befremdende Leichtgläubigkeit gegenüber den ältesten Tricks der Boulevardpresse, einen aus tiefer Benommenheit herrührenden Unwillen, sich genauer zu informieren, ein ängstliches Laborieren an den Grenzen des physischen Selbst, das Ihnen heute fast leid tut, vor allem wenn Sie daran denken, welchen Eindruck es bei den anderen hinterlassen haben mag … da kann so vieles hochkommen, das besser von Dunkelheit bedeckt bleibt, jedenfalls vorerst. Zum Glück oder Unglück für den forschenden Geist gibt es Facebook, dieses wirre Medium, das brav alle Exuberanzen des angstgescheuchten Mitteleuropäers festgehalten hat und Ihrer Selbstspiegelung auf die Sprünge hilft, wenn Sie es höflichst darum bitten, sollten seine Betreiber Sie nicht aus irgendeinem leicht zu durchschauenden Grund gesperrt haben.

War das der Schwarze Schwan? Ich hoffe nicht – etwas muss eingetreten sein, von dem Sie und ich nichts wissen, von dem wir nichts wissen können, obwohl es sich vielleicht einfach unter all den Informationen versteckt, die wie die Teile eines unbewältigten Puzzles vor uns ausgebreitet sind. Etwas muss eingetreten sein, das die Regierenden in aller Welt plötzlich davon überzeugt hat, es sei besser, den Tiger zu reiten, als von ihm zerfleischt zu werden. Wissen Sie, was ein Hockeystick ist? Natürlich wissen Sie, was ein Hockeystick ist, sonst hockten Sie jetzt nicht hier. Wir haben zugesehen, wie ein abgehalfterter Präsidentschaftskandidat und Hobby-Klimaexperte vor Jahr und Tag eine Leiter emporkletterte, um die lange, allmählich, sehr allmählich ansteigende Fieberkurve des Planeten auf den letzten Zentimetern in kühnem Schwung in die Höhe zu treiben – das war der Hockeystick: eine Kurve, die Angst macht. Wann immer diese Kurve – oder ihr trockenes begriffliches Gegenstück, denn eigentlich steckt hinter ihr nichts weiter als eine geometrische Progression – in Erscheinung tritt, schlägt tief drinnen in der menschlichen Psyche ein Glöckchen an und verkündet: Alarm! Genau besehen zerlegt es die Psyche in einen irrationalen Teil, der mit der Angst geht, und einen rationalen, der, weitgehend wirkungslos, vor sich hinbrabbelt: In der Natur gibt es keine geometrische Progression, alles, was danach aussehen könnte, ist bloß der Ausschnitt einer größeren Wellenbewegung.

Wenn also ein virologisches Institut – nicht irgendeines, sondern das führende Institut eines Landes – zu einem bestimmten Zeitpunkt der anschwellenden Viren-Panik den Hockeystick herausholt und gewissermaßen ins Aufmerksamkeitsfenster stellt, dann könnten wir wissen – oder ahnen –, dass hier jemand sein Handwerk versteht, zumindest weiß, was er tut: Es ähnelt sehr dem aufsteigenden weißen Rauch beim Konklave der Kardinäle in der Sixtinischen Kapelle – Habemus Papam. Der Schwarze Schwan ist gekürt. Wir, die Zuschauer, könnten im Bilde sein, wären unsere Sinne nicht zu diesem Zeitpunkt durch gewisse, dem Urteilsvermögen ungünstige Vorgänge umnebelt, aber darüber später. Der Schwarze Schwan ist gekürt. Was bedeutet das? Spätestens ab jetzt sind alle Akteure im Spiel, alle zumindest, die seit Jahr und Tag auf das Erscheinen des Schwarzen Schwans lauern, weil ihnen nichts Besseres beigebracht wurde. Eine als Politik für die Menschen verkleidete Politik der Massenbeeinflussung sorgt dafür, dass es auf den Straßen ruhig, am besten leer bleibt, während die Akteure ihre für die Stunde X vorbereiteten Programme starten. Das können Umschichtungen im Portefeuille sein oder Massenentlassungen, das Abschneiden riesiger, auf die menschliche Kontaktfreude spekulierender Wirtschaftszweige von Erwerbsmöglichkeiten und Kapital, während die digitalen Player Handel und Produktion an sich ziehen – es kann dies und das und noch viel mehr sein. Denn auch Staaten ergreifen gern die Gelegenheit, neue Allianzen zu schmieden und seit langem schwelende Konflikte auf die Ebene taktischer Manöver zu heben. Der angstumflorte Zivilist erfährt davon wenig, hauptsächlich deshalb, weil er sich selbst den unbefangenen Blick auf die Nachrichtenlage verwehrt, aber die Medien helfen nach … sie lassen einfach nicht locker.

 

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Haben Sie das so erlebt? Haben wir das so erlebt? Natürlich nicht. Das alles ist Theorie. Erlebt haben Sie Ihre Angst, also etwa das, was ich meinen Mitmenschen von Anfang an zumuten wollte, allerdings ohne die durch den Hockeystick hinzugetretene apokalyptische Dimension. Mein Sohn, der die Sache programmiert hatte und naturgemäß weniger infiltriert war, verlor bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal die Bodenhaftung.

»Das ist doch crazy«, schrie er mich eines Nachmittags am Telefon an – er benützt diesen schrecklichen Jargon, als sei er damit zur Schule gegangen, was vermutlich sogar stimmt –, »du musst diesen Wahnsinn stoppen. Es kann nicht sein, dass deine Kumpane uns alle ins Mittelalter zurückbefördern. Du wirst deiner Verantwortung nicht gerecht.«

Was er wohl damit meinte? Im Anschluss an unser Gespräch mailte er mir einen Artikel, den er auf einem italienischen Blog gefunden hatte. Da stand es unmissverständlich: L’invenzione di un’epidemia. Ich kannte den Verfasser nicht, gewisse Internetquellen behaupteten, er sei ein berühmter Philosoph, seine Intervention klang so scharf wie eindeutig: Der postsouveräne Staat habe eine Epidemie erfunden, um sein notorisches Versagen zu übertünchen und die Menschen in eine Art von Babylonischer Gefangenschaft zu führen, indem er seine Gewalt über ihre Körper ausdehnte, wie es zuletzt die totalitären Machthaber und vor ihnen die Gewaltherrscher der Renaissance getan hätten … undsoweiter undsoweiter, Sie kennen den Jargon. Ein anderer Philosoph gab postwendend zu Protokoll, sein Vor-Schreiber habe zu viel dialektisches Feuerwasser getrunken und übersehe deshalb eine Kleinigkeit, nämlich das Virus selbst … ein ewig trunken wirkender, aus dem in Blut und Tränen untergegangenen Jugoslawien gebürtiger Denker mischte sich über eines der New Yorker Star-Blätter ein und unterschied in einer etwas aufgesetzt wirkenden Gedankenfolge zwischen der aktuell gebotenen und einer für die echte Linke gerade nicht gebotenen, obgleich sich geradezu aufnötigenden Kritik des Virus und seiner Sachwalter. Nach und nach klinkten sich auch die berufsmäßigen Dekonstrukteure aus dem wattierten Milieu der Kulturwissenschaften in die Debatte ein und sorgten dafür, dass bald nichts mehr ging – jedenfalls interpretiere ich so die Beobachtung, dass die Zeitungen rasch an diesen Spiegelfechtereien die Lust verloren und wieder zur direkten Angstheizerei mit Zahlen und Kurven übergingen. Hier waren Fachleute gefragt und keine Schwätzer.

Mir kam das alles so irreal vor. Eines hatte die Intervention der Philosophen bewirkt. Eine Formel war geboren: Das Virus ist real. Wer das bestritt – oder vorsichtig in Frage stellte –, galt als Verschwörungstheoretiker, also rechts, also Aluhut-Träger, also Feind der Menschheit, einer, der die gesammelten Anstrengungen von Behörden und Meinungsmachern, des Bösen Herr zu werden, unterminierte. Des Bösen? Aber gewiss doch. Das Böse ist in der Welt, es mutiert in jeder Saison, die Menschheit muss gewappnet sein und es in seiner jeweils neuen Ausprägung erkennen, bevor es zu spät ist und es unsere gewohnte Realität in die Luft sprengt, wie es seine Lust ist und seine Absicht… Ich weiß, wovon ich rede, ich habe das Recht, mich zu beklagen, ich erhebe Anklage, denn ich habe meinen Sohn an diesen Irrwitz verloren, meinen einzigen übrigens.

 

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Die Angst… Habe ich Angst empfunden während all der Zeit? Ich glaube nicht. Doch ich kann mich auch täuschen. Beklemmung schlich sich in mein Herz, als ich meinen Sohn in der psychiatrischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses besuchen wollte und ein übellauniger Pförtner mich mit ein paar inkompetenten Floskeln des Hauses verwies. Ich war nicht rein. Als potenzieller Virenträger war ich nicht befugt, in die Reviere des Krankseins einzudringen. ›Wie krank ist das denn?‹ ging es mir durch den Kopf, wohl wissend, dass ich die Virusformel, den Quell des Unheils, in meinem brain spazieren führte. Nach etlichen Tagen Herumtelefoniererei hatte ich in Erfahrung gebracht, was los war: Sie hatten ihn positiv getestet, er lag auf der Intensivstation, er wartete darauf, dass eines der Intubationsgeräte frei wurde, es ging ihm schlecht. Nein, für mich bestand keine Möglichkeit, ihn zu sehen. In diesem Augenblick löste sich etwas in mir, ein Brocken, ein Klümpchen eher, ein Bewusstseinsklümpchen, und ich sprach mit fester Stimme ins Telefon, als wüsste ich nicht, dass am anderen Ende der Leitung eine überforderte Abwimmlerin Dienst tat, die sich womöglich gerade um ihre bettlägerige Mutter sorgte: »Nehmen Sie mich. Nehmen Sie mich. Wissen Sie, wir hatten einen engen Umgang in der letzten Zeit, gut möglich, dass er das Virus von mir empfangen hat, ich bin mir ganz sicher, dass ich ihn angesteckt habe, ich bin eine Gefahr für meine Umgebung, nehmen Sie mich.«

 

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Immerhin, es waren Psychiater in den Vorgang involviert. Die Sache hätte ins Auge gehen können. Aber in diesem Augenblick war mir verdammt ernst zumute. Verdammt ernst … merkwürdig, welche Kontraktionen wir unser Leben bestimmen lassen. Übrigens bestand wenig Hoffnung, dass sie eines Tages auf mein Angebot zurückkommen würden, denn ich war beileibe kein Einzelfall. Ich war einer von vielen, die in diesen Tagen, bildlich und buchstäblich, an den Eingangstüren der Krankenhäuser kratzten und Einlass begehrten – ohne Aussicht auf Erfolg, während andere, die, wie mein leicht zu beeinflussender Sohn, nicht wussten, wie ihnen geschah, durch seltsame Umstandsverkettungen wie durch einen übermenschlichen Sog ins Innere einer spukhaften Maschinerie gezogen wurden, der die wenigsten Menschen vertrauten, letztere allerdings blind. Es kostete Überwindung, zur Kenntnis zu nehmen, dass hier über Nacht eine Mauer emporgestiegen war. Schließlich handelte es sich um eine narzisstische Kränkung und die wollte verdaut werden.

Paradoxerweise isolierte mich die Einsicht, nicht der Einzige zu sein, von meiner Bekanntschaft. Unter systemtheoretischen Gesichtspunkten war das spannend. Ich verkroch mich in meiner Wohnung und begann, für mich überraschend, zu trinken. Außerdem konsumierte ich YouTube-Videos, drei bis vier pro Abend. Nach wenigen Tagen ›social distancing‹ fing ich damit bereits am Vormittag an. Die regierungsseitig verhängte Abstandskultur zeitigte Wirkung. Auf Kanälen, die ich nicht kannte, entdeckte ich Szenen aus einem Krieg, den ich nicht verstand. Ein jüngerer Mann, seines Zeichens Italiener, saß sichtlich gebrochen auf einem Stuhl neben einem Bett, hielt die Kamera seines Smartphones auf den Körper einer Toten, die in diesem Bett lag, und richtete eine flammende Suada an die Welt dort draußen: Er lebe nun, behauptete die aus dem Gerät quellende Stimme, seit vier Wochen in Quarantäne, hier in diesem Raum, die gehorteten Lebensmittel seien aufgebraucht, gerade habe ihn der Polizeiposten vor seiner Tür in die Wohnung zurückgescheucht – keine Chance auf ein Entkommen. Seine Schwester, Koop-het®-positiv getestet, sei vor vier Tagen gestorben, ihr Körper beginne allmählich … hier wurde die Stimme undeutlich, es konnte sich um ein unterdrücktes Schluchzen oder etwas zur Gänze Unnennbares handeln, überhaupt war ihr ein Klang beigemischt, den ich aus der sicheren Distanz meiner Behausung als nicht-menschlich bezeichnet hätte, so dass ich mich fragte, ob es sich nicht um eine Einspielung aus einem Paralleluniversum oder einem Propaganda-Studio irgendwo in den Weiten eines unermesslich feindseligen Landes handelte… Ich mochte mich da nicht entscheiden. Schwankend, aber letztlich entschieden schlug ich den Hilferuf an die Menschheit, mit dem der Film endete, in den Wind.

Ein Spinner? Ein ›Fake‹? Eine Entsetzlichkeit jenseits meiner Vorstellungskraft? Gleich nebenan, ich war wohl tiefer ins mediterrane Milieu eingetaucht, lief ein Interview mit dem Chef der italienischen Seuchenbehörde … was ich da hörte, verblüffte mich so, dass ich den Verdacht nicht unterdrücken konnte, einer Comedy-Einlage aufzusitzen: Dieser Herr verschaffte seinem Herzen in kräftigen Worten Auslauf, geißelte die Panikmache der Medien und behauptete rundheraus, es existiere keine Notsituation. Die Lage in den Krankenhäusern sei, abgesehen von den wenigen rätselhaften ›Hotspots‹, landauf, landab völlig normal, die seinem Haus vorliegenden Zahlen ließen leider oder doch lieber Gott sei Dank keine andere Deutung zu, selbst wenn der Heilige Vater, aus welchen Gründen auch immer, einer anderen Lesart zuneigte.

Ähnliches hörte ich aus dem Mund eines Parlamentsabgeordneten der hierzulande perhorreszierten Oppositionspartei, der die kriminellen Machenschaften, wie er sich ausdrückte, der Regierung vor den Kadi zu bringen drohte. An dieser Stelle schaltete ich ab. Was immer im Labor des führenden Virologen aus meinem ursprünglichen Auftrag hervorgegangen war, es schien ebenso ungreifbar wie ungeheuerlich, so dass die in allen Diskussionsforen gebetsmühlenartig wiederholte Formel Das Virus ist real mir wie Hohn in den Ohren klang. Hohn über wen? Hohn über was? Ich besaß nicht den geringsten Schimmer.

Meinem Sohn ging es schlecht. Er wurde jetzt intubiert, die Ärzteschaft hatte ihn in ein künstliches Koma versetzt, man verbarg seinen Zustand vor mir, als stecke dahinter ein Staatsgeheimnis. Als Vater besaß ich selbstredend nicht das Recht, auf seine Gesundheitsdaten zuzugreifen, und meine bohrenden, der Sorge geschuldeten Fragen blieben, wen immer ich an den Apparat bekam, in einem Gewebe aus schwachbrüstigen pseudo-rechtlichen Erklärungen hängen. Hören Sie … ich verschone Sie mit den Tiraden eines gequälten Erzeugers, dafür versprechen Sie mir, in den kommenden Minuten auf den Plätzen zu bleiben und sich ruhig zu halten. Denn was ich berichten möchte, das ist … das fällt … das bricht mit dem Informationsmonopol unserer führenden Medien und sollte vermutlich, wenn es nach den führenden Politikern ginge, auf Dauer in die lichtlosen Kellergefilde verbannt bleiben, in denen die alternativen Fakten der Durchgeknallten der ewigen Verdammnis entgegendämmern.

Es gibt sie durchaus noch, die linken Vögel der alten Parteienlandschaft, die einst, unter dem Beifall ihrer nicht wenigen Gesinnungsfreunde aus dem öffentlich-rechtlichen Meinungszirkus, wie David furchtlos dem Goliath der Pharma-Mafia entgegentraten, entschlossen, ihr die Maske der Ehrbarkeit vom Gesicht zu reißen und ihre menschenverachtenden Machenschaften zu dokumentieren. Es gibt sie noch, sage ich, wenngleich sie seit einiger Zeit, außer Dienst gestellt, darauf angewiesen sind, dass einer aus der Schar der auf eigene Faust und Rechnung operierenden Medienmacher vorbeischaut, deren Ein-Mann-Studios in ebenso virtuellem Licht erblühen wie die angeblich von ihnen erwirtschafteten Werbe-Einnahmen. Es gibt sie noch, unterstelle ich, und einer aus ihren Reihen muss sich eines Tagen an die Stirn getippt haben, als es ihm wie Schuppen von den Augen fiel: Das sind doch, das waren doch … dieselben Gesichter, dieselben Pappenheimer, die damals die Strippen gezogen hatten, damals, weißt du noch, als einige Sendeformate und selbst Teile der EU-Kommission sich auf Anti-Korruptionskurs befanden und in den Fakten herumstochern ließen, nachdem Impfmittel gegen … – wie hieß das noch gleich? Schweinegrippe? –, von ein paar Regierungen erst für Millionen Steuergelder geordert und schließlich als Müll entsorgt worden waren… Das ist doch, da soll doch… Und nun zu erleben, wie, nach diesem Déjà-vu, eine Sender-Anfrage nach der anderen erlischt, bis nur noch die Hardcore-Verschwörungs-Kasper mit ihren Haspel-Stimmen und ihrem Wir-wissen-es-doch-längst-Lächeln auf den Lippen übrigbleiben…: Manchen trifft’s hart. Und nichts nur das: Manche trifft’s mehrfach.

 

14

In diesen Tagen, in denen so vieles zu Bruch ging … ein Freund von mir, ein guter Freund, der sonst gerne eine Lippe riskiert, lud mich, nachdem er wochenlang die von der Regierung erlassenen Abstandsregeln – ›Kein Fußbreit für Koop-het®! Wir schaffen das!‹ – nicht nur penibel zur Ausführung gebracht, sondern bis an die Grenze zur Selbststrangulierung gedehnt hatte, zu sich nach Hause ein… Es sollte ein lehrreicher Nachmittag für mich werden … vielleicht nicht nur für mich… Er fing mich im Vorgarten ab, wo er unter einem blühenden Birnbaum Tisch und Stühle arrangiert hatte, so dass sie den vorgeschriebenen Mindestabstand gewährleisteten. Meiner ansichtig geworden, verzichtete er auf die allfällige Mund-Nase-Bedeckung, bald darauf allgemein ›Maske‹ genannt. In diesen Tagen war der Ausdruck noch verpönt, ja, verpönt, man konnte Befremden damit hervorrufen, dass man ihn, wiewohl naheliegend, benutzte, da er Assoziationen mit sich trug, von denen keiner wusste, wohin sie ihn tragen würden, sobald er sich ihnen überließ… Es war nicht der erste Ausdruck, der auf diese Weise allgemein Befremden erzeugte. Kurz vorher hatte es ein leises Schwanken gegeben, ob die verordnete Schließung der Kindergärten, Schulen, Universitäten, Büros, Kirchen, Hotels, Gaststätten, Vergnügungsstätten, Friseursalons und Krankenstationen, dieses Von-der-Wiege-bis-zur-Bahre-Programm nun als ›Lockdown‹ – ein, immerhin, juristisch belastbarer Begriff – oder als ›Shutdown‹ bezeichnet werden musste (›Shut up!‹), wofür sich die Öffentlichkeit dann letztlich entschied. War einer, der es vorzog, weiterhin das Wort ›Lockdown‹ zu benützen – das nun einmal Ausgangssperre bedeutet –, bloß unbedarft oder regte sich da ein Widerspruchsgeist, der signalisierte, dass man es mit einem ›Fall‹ zu tun bekam?

An jenem Nachmittag entschied ich mich für das lockere ›Lockdown‹, insgeheim meinen Freund bewundernd, der den Affront mit ein paar kulturskeptischen Redensarten überspielte und dabei unruhig auf seinem Stuhl zu rutschen begann… Ich muss hinzufügen, mein Freund ist nicht mehr der Jüngste. Er reagiert zwar äußerst sensibel auf die zu jeder Saison fälligen Sprachregelungen (unter dieser Form der Geistigkeit tut er es nicht), aber an dem verfl… Gender-Sternchen versagt seine Zunge. Sie bekommt es einfach nicht gebacken, sie sträubt sich, die Gute, und aus diesem Sträuben spross nach und nach eine Philosophie, ein struppiges Büschel Sarkasmen, wie sie dem Alter leicht von den Lippen gehen, sobald es die beginnende Schwerhörigkeit erst einmal zum Maß aller Bedeutung erhebt.

Kraftlos mokierte er sich über Räuber-Innen und Hundekot-Innen, während die kostbare Zeit verrann, schwadronierte über den Verfall der Bildungsanstalten und das herrliche, ausflugsgeeignete Wetter, über die Wunder der Natur, wie sie auch sein Garten, dieses Schatzkästlein der Evolution, auf eng umgrenztem Raum zu bieten hatte … ich merkte, zu gern hätte er sie mir einzeln vorgeführt, unter Einhaltung des Mindestabstands, aber dazu hätte er wohl sein Tüchlein aufsetzen müssen, den verdammten Lappen, nach dem sich seine Hand dann und wann hinstahl. Doch er traute sich nicht. Unter meinem prüfend-besorgten Blick wäre der Gesichtsverlust wohl zu groß gewesen … apropos Gesichtsverlust: Was, in den wenigen Tagen, die wir uns nicht gesehen hatten, war mit diesen Zügen vor sich gegangen? Hatten sie sich verengt? Vereinfacht? Waren sie flacher geworden, unbestimmter … bittender? Nichts da, sie baten um nichts, schon gar nicht meine Wenigkeit, ihre Bitte hob sich einer unbestimmten Weite entgegen, sie schienen bereit, die untere Atmosphäre zu verlassen, aber nicht gleich, nicht gleich … eine Ängstlichkeit ging von ihnen aus, ein zaghaftes Noch-im-Irdischen-Verharren-wollen: Er hatte Angst, der Gute. Meine unberechenbare körperliche Nähe, die sich nichts aus seinem Regelpark machte, meine tastenden Versuche, wie zwischen uns üblich das Thema anzuschneiden, aktivierten den unsichtbaren elektrischen Zaun, in den er sich eingehegt hatte. Wider alle geltende Physik teilten sie kleine Schocks an ihn aus, während ich, unverständigt, wie ich war, mich mit dem Studium der äußeren Wirkungen begnügen musste.

Nicht bloß die Angst hatte ihn verändert. Der erzwungene Rückzug hatte ihn schrumpfen lassen – etwa wie einen der Äpfel vom Vorjahr, wenn es seiner Frau nicht rechtzeitig gelang, sie einzukochen, so dass sich jetzt feine Risse in unserer Unterhaltung auftaten. Zwar glitt sie leicht darüber hinweg – schließlich parlieren wir seit Jahren miteinander und haben ein Gespür dafür ausgebildet, auf welche Sprüche des anderen es sich einzugehen lohnt und welchen man besser keine Beachtung schenkt –, aber doch nicht folgenlos. Das Gehör jedenfalls wollte etwas vernommen haben und war sich offenbar nicht sicher, ob es bereits eine angemessene Aufnahme durch das sichernde Bewusstsein erfahren hatte, weshalb es hartnäckig auf seine Botschaft zurückkam … nun, vielleicht nicht das Gehör allein, Bewusstsein ist vielgestaltig und macht das Meiste unter seinen minderen Agenten ab. ›Bedenke es wohl!‹ stand da in einer Falte geschrieben, ich verstand den Wink in Freiheit und beugte mich der Weisheit meines Körpers. Im Davongehen – ich blieb nicht allzu lange, denn die Plauderei begann uns beide anzustrengen – sah ich sie für die Dauer eines Blitzes neben ihm stehen: die Figur der Pflegerin, leicht füllig in den Hüften, ansonsten adrett, selbstredend mit Mundschutz.

 

15

Mein Sohn – habe ich Ihnen gesagt…? – wir trafen uns unter etwas kuriosen, ein Krimi-Liebhaber würde sagen, konspirativen Umständen am Savignyplatz unter den dort über leeren Tischen und sparsamem Gestühl aufgespannten Sonnenschirmen, beide ängstlich auf Abstand bedacht, denn innerlich wie äußerlich waren wir uns fremd geworden. Eine wirre Geschichte hatte er mir da am Telefon erzählt … jetzt, nachdem ich ihn gebeten hatte, sie langsam, Schritt für Schritt, zu wiederholen, damit ich ihm folgen könne, erklärte er sie kurzerhand für ›gegessen‹. Auf der Intensivstation sei er, vermutlich durch ein Versehen – durch-ein-Versehen –, aus dem künstlichen Koma erwacht, habe sich den Beatmungsschlauch samt dem restlichen Schlauchgewirr aus dem Körper gerissen und sei getürmt. Möglicherweise werde er verfolgt, er wisse darüber nichts, wolle auch nicht warten, bis er Gewissheit erhalte. Gekommen sei er nur, um mir seine abgrundtiefe Verachtung auszudrücken und die letzten Familienbande zwischen uns de-fini-tiv zu zerreißen, falls ich noch immer an dergleichen Kram glauben sollte.

»Nun mal halblang. Du behauptest also –«

»Was denkst du denn? Du sitzt hier, trinkst deinen Kaffee und bröselst mit deinem Croissant herum … du kotzt mich an. Was hast du denn getan, vielmehr, was hast du nicht getan? Was hast du getan, um mich aus dem Krankenhaus herauszuholen? Nichts. Nichts, nichts, nichts. Und inzwischen? Was hast du getan, um herauszufinden, was gerade um dich herum abgeht? Nichts. Ich nehme an, du hast den erstbesten Lügen geglaubt, weil’s so bequem war. Du … du … kritischer Geist. Du hättest nicht wegsehen dürfen und was hast du getan? Weggesehen natürlich.«

»Jetzt mal halblang. Du warst krank, mein Junge, du hattest Glück. Du warst in exzellenten Händen.«

»Genau. Ich war krank. Ich war elend. Streng dich nicht an, du kannst dir eh nichts darunter vorstellen. Man ist nicht mehr derselbe, wenn man es durchgemacht hat.«

»Erzähl’ mir mal was über die Atemnot. Wie ist das? Ich habe so viel darüber gelesen.«

»Na dann weißt du ja alles. Ich bin dir keine Erklärungen schuldig. Sie benützen die Medizin. Hörst du, sie benützen die Krankheit. Ich bin dir keine Erklärungen schuldig. Ich muss weiter.«

Hallo? Wer da? Du, mein Sohn? Ein Zombie? Eine Dublette? Während das Original leise durch den großen Schlauch, der Leben und Tod bedeutet, weiter mit Sauerstoff versorgt wird, bis es vielleicht nichts mehr zu sorgen gibt? Ein Niemand schrieb, die vorschnelle Intubation bedeute für die Patienten den fast sicheren Tod. Ich habe die wütende Retourkutsche eines Arztes gelesen, der behauptete, solche Zustände könne es hierzulande nicht geben … das gute alte Dass-nicht-sein-kann-was-nicht sein-darf –: Wer hat Recht? Wer Unrecht? Wer ist im Recht? Wieso … wieso sterben am einen Ende ein und desselben Landes die Menschen wie Fliegen, während am anderen, wie man hört, die Klinikbetten leer stehen und ihre übliche Belegschaft, Legionäre aller bösartigen Krankheiten dieser Erde, zu Hause verdämmert, zumindest das Ende der Turbulenzen abwartet? Ortsgewaltigen südlich der Alpen scheint es wesentlich leichter zu fallen, Patienten in einen Nachbarstaat auszufliegen, als sie in ein fünfzig Kilometer entferntes Krankenhaus zu verlegen. Keine Berührung! Eine bleierne Hand hat sich auf unsere Stadt, unseren Staat, den Kontinent, den Erdball gelegt. Achselzuckend bitten Spezialisten Moribunde aller Schattierungen um Geduld. Manche, denen zustandsbedingt bereits jedes Verständnis für den historischen Moment abhanden gekommen ist, bittet man erst gar nicht, sie werden einfach vergessen oder die Behörde schiebt ihnen diskret ein paar Infizierte auf die Pflegestation. Friss und stirb! Währenddessen verbreiten sich zartbesaitete, kulturkritisch eingestellte Gemüter in Apothekerbeilagen über den düsteren Sinn des Wortes ›Triage‹. Es fehlt an Atemgeräten. Russische Konvois mit Hilfsgütern rollen durch die Städte des Nato-Landes Italien. Das belustigt die schreibende Kamarilla. In Spanien sollen Pfleger aus den Pflegeanstalten geflohen, ihre Schutzbefohlenen verdurstet sein: ein paar Koop-het®-Tote mehr für die Statistik. Wer mag hier wen benützen? Wozu?

»Weißt du was? Du mietest einen Hubschrauber, du lässt ihn über einer südwestdeutschen Kleinstadt kreisen – warum müssen es immer südwestdeutsche Kleinstädte sein? Egal! – und ein paar Sack Mehl in der Luft ausstreuen. Dann lässt du Lautsprecherwagen in den Straßen patrouillieren und bekanntgeben, derzeit verschmutze eine unbekannte klebrige Substanz im Freien die Atemwege und könne im Einzelfall zum Erstickungstod führen. Die Leute sollten gefälligst die Türen schließen und zu Hause bleiben. Derweil stehen die Aufnahme-Teams aller Sendeanstalten vor dem Krankenhaus Spalier … da geht was ab! Aber hallo. Du weißt, was passiert? Du weißt es, ich weiß es, der Kellner, der einfach nicht kommen will, wahrscheinlich, weil er sich fürchtet, weiß es auch, alle wissen es, aber zu wissen ist nicht genug. Die Ärzte, die auch nicht mehr wissen als ihre hysterisierte Patientenschar, geben ihr Bestes … doch was ist das Beste … was ist in solchen Zeiten das Beste? Was ist dieses Beste?«

Auch das hatte ich schon gehört. Wer sich durchklickt, hat alles schon gehört. Der junge Mann hat Recht, werden Sie vielleicht sagen. Solche Fragen müssen gestellt werden. Leider sind auch die Antworten gestellt. Damit verschiebt sich die Angelegenheit. Doch davon wusste ich, zumindest zu diesem Zeitpunkt, nichts. Er dauerte mich zutiefst, dieser arme Mensch mit der trotzig vorgeschobenen Unterlippe, der seine Unterarme gegen die Tischkante drückte, als müsse er unbedingt einen Widerstand spüren, bloß um dieses eine Mal noch davonzukommen.

 

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Ich hasse den Ausdruck, aber hier stimmt er: Wir alle haben jene Tage durchmachen müssen. Weder mein Sohn noch ich besitzen ein Monopol auf das Erlebte. Um auf den Schwarzen Schwan zurückzukommen, die Aufforderung an alle Akteure, sich nach Kräften zu bedienen, so darf ich anmerken, dass wir seit Monaten unter einem Ausnahme-Regiment leben, gegen das sich langsam, mitunter selbst bei den Gerichten, hier und da leiser Widerstand regt. Doch solange eine Mehrheit in der Bevölkerung mehr und härtere Maßnahmen von ihr verlangt, befindet sich jede Regierung in einer komfortablen Lage.

Privatleute auf Lauerposten halten ganze Straßenzüge in Atem, kontrollieren die Zugänge zu den U-Bahnen und führen Buch darüber, wer wen besucht und wann wieder verlässt. Übrigens hat die Regierung selbst das Denunziantentum ermuntert, als sie die Parole ausgab, die einzuhaltenden Maßnahmen dienten nicht dem Selbstschutz, sondern dem Schutz der Mitmenschen: Besser kann man die Leute nicht aufeinander hetzen. Eine stille Wut glimmt in den Augen gewisser Maskenträger, sobald sie eines offenen Antlitzes ansichtig werden. Andere hingegen wirken verschämt, aber das kann täuschen. Ich benütze das Wort ›Antlitz‹ mit Absicht, denn etwas Heiliges geht in diesen Tagen vom unverhüllten menschlichen Gesicht aus. Leider scheint es nicht auf die Geistlichkeit unseres Landes auszustrahlen. Der beschämte Mensch ist der lenkbare: Das wusste schon der Apostel Paulus. Dabei bleibt die Botschaft der Kirche in diesem Punkt bis auf den heutigen Tag zwiespältig.

Warum das Ganze? Masken behindern entweder das Atmen oder sie sind nutzlos. Vermutlich sind sie überhaupt nutzlos. Aber gegen eine derart naheliegende Annahme lassen sich immer Studien in Auftrag geben. Die Regierung hat sich das Recht genehmigt, den Zweifel an der Zweckmäßigkeit ihrer Maßnahmen unter Kuratel zu stellen. Doch bei der Durchsetzung tritt sie nicht selbst in Erscheinung. Überhaupt sind die Ausnahme-Kompetenzen so weit gestreut, dass es zwecklos ist, dahinter einen politischen Willen erkennen zu wollen. Der Kampf gegen die Epidemie folgt den Verbreitungsregeln der Epidemie. Sagte ich Epidemie? Es soll nicht wieder vorkommen. Eine Pandemie ist eine Pandemie ist eine Pandemie – vorzugsweise dann, wenn im Weltzentrum der Bürokratie vor dem Ausbruch unauffällig die Definition geändert wurde, so dass jede banale Infektionskrankheit, hat sie erst einmal ein paar Ländergrenzen überquert, seit kurzem als Pandemie gilt. Wer schlägt denn Definitionen nach? Kümmern Sie sich um Definitionen, wenn man Ihnen gerade Berufsverbot erteilt, weil Sie zur neu ausgerufenen Risikogruppe zählen? Sie fühlen sich kerngesund? Nanana. Da fehlt es Ihnen wohl an sozialer Empathie.

Eine Krankheit ist ausgebrochen und verwüstet die Kernländer der westlichen Zivilisation: die Krankheit der Inkompetenz. Denken Sie vielleicht, ich wäre, dank Koop-het®, heute ein gemachter Mann? Glauben Sie, ich könnte mir die nächste Plauderrunde der Republik aussuchen, um darin Mittel und Wege aus der nachweislich von mir leichtfertig heraufbeschworenen Krise zu diskutieren? Nada. Dabei habe ich es getan, ich kann beweisen, dass ich hinter der ganzen Sache stecke. Im Grunde bin ich ein Fall für die Staatsanwaltschaft. Es kümmert sich nur niemand darum. Ich habe Selbstanzeige erstattet und die Mitteilung erhalten, der zuständige Referent sei in Quarantäne, ich möge mich zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal melden. Ich hab’s versucht… Seither überlege ich mir … wissen Sie was? Ich hab’s mir überlegt. Ich habe die perfekte selbstbestimmte Krankheit erfunden und andere haben daraus die perfekte Krankheit für die anderen gemacht. Mit dieser Erfindung habe ich wirklich nichts zu tun. Ich dränge mich nur sinnlos ins Geschäft.

 

17

Nehmen wir einmal an – ich weiß, es ist eine abstruse Idee, aber abstruse Ideen stecken manchmal die passenden Lichter auf –, nehmen wir an, Koop-het® wäre eine Frau, eine gesunde, hübsche, warmherzige, begehrenswerte Frau, und keiner wollte sie haben (man ›hat‹ keine Frau, aber Sie wissen schon, wie ich es meine). Warum? Weil, zumindest in dieser Saison, niemand eine Frau haben möchte, nicht in der Blüte ihrer Jahre und auch danach nicht, weder Mann noch Frau noch Sonstige: Dumm gelaufen, werden Sie sagen, aber das ist unfair, Ihr Gerechtigkeitsgefühl, gleichgültig, ob dominant männlich oder weiblich, beginnt sich zu empören, diese Frau ist für die Liebe geschaffen, vielleicht weiß sie nichts davon, aber sie begehrt nun einmal – eine Schande, werden Sie sagen, so tief ist unsere Kultur gesunken, tut denn keiner etwas? – Sie hegen also bereits Kupplergedanken, schlimmer, Sie sind überzeugt davon, in dieser Sache müsse etwas passieren, ein kleiner Stromausfall, ein winziges Ausgehverbot, nur zum Anwärmen, ein allgemeines, nur für ganz spezielle Fälle ausgesetztes Kontaktverbot, Sie wünschen so sehr, in diesem speziellen Fall möge etwas unternommen werden, dass Sie, aufgeklärter Mensch, der Sie sind, zu pöbeln beginnen, wenn Ihnen durch Zufall ein knutschendes Männer-Pärchen begegnet, Sie werden ganz wild darauf, dass endlich etwas Durchgreifendes geschieht.

Und eines Tages geschieht etwas. Die Lichter gehen aus, Vorhänge senken sich, das Maßnahmenbündel beginnt zu greifen… Unvermittelt stehen Sie vor der Frage: Wo steckt diese Frau? Hat sie sich vielleicht vor allen am tiefsten verkrochen? Oder greift sie ab? Wo greift sie ab? Wen greift sie ab? Was wird den Mit-Betroffenen angetan, die sie niemals zu sehen bekommen, weder heute noch morgen noch übermorgen? Die Frau ist von der Bildfläche verschwunden – im Bauch der Menge, falls Ihnen das Bild zusagt –, aber das Mitgefühl mit ihr ist über Nacht … allgemein geworden, hunds-allgemein, wenn Sie so wollen. Noch immer will keiner sie haben, aber jeder will sie verkuppeln: denn jeder hat noch viel vor in seinem kostbaren Leben, das er mit niemandem, schon gar nicht mit der entzückenden Nachbarin links zu teilen wünscht, er brennt darauf, all diese unnatürlichen Sperren wieder aufgehoben zu sehen, am besten über Nacht, aber das wird nicht so einfach sein, nicht so einfach, solange diese Frau dort draußen … Freiwild, sagten Sie? Hörte ich Freiwild? Verschärftes Ausgehverbot! Quarantäne! Mundschutz! Abstand! Polizei!

Ich höre Sie schon: Was ist mit der Frau? Wo steckt sie überhaupt? Das ist doch lächerlich. Existiert sie überhaupt? Will sie denn überhaupt jemanden? Sehen Sie, so schnell wird man zum Frauenleugner.

 

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Jemand schaltet seinen Kopf ein und beginnt zu denken. Was immer Koop-het® sein, wer immer, Mensch oder Fledermaus, es im fernen Chi ausgebrütet haben mag, welche Verwüstungen es im menschlichen Körper auch anrichtet – die Verlaufskurven der gemeldeten Infektionen, der diagnostizierten Erkrankungen und der Todesfälle, sie alle besagen: aufs Gesamtwohl der Gesellschaft bezogen benimmt es sich unwesentlich anders als eine Grippe. Erfinderstolz würde korrigieren: wie eine leicht optimierte Grippe – immerhin lautete so mein Auftrag an den führenden Virologen. Eine Krankheit, die alle Erkrankungsbedürfnisse der Einzelperson abdeckt, ohne der Gesellschaft zusätzlichen Schaden zu bescheren. Und dieses perfekte Model zieht, wie Helena einst die von ihrem Anblick berauschten Troer, die potentesten Gesellschaften der Geschichte in den Untergang: zunächst den politischen, denn das Splittern, Knacken und Krachen der Freiheitsrechte, fein abgestimmt auf die Verfassungs- und Bewusstseinslagen der betreffenden Länder, schert vielleicht Hinz und Kunz nicht, denen der Zugang zu ihrem Wochenendhaus am Herzen liegt, aber vernehmbar bleibt es trotzdem, gleich dahinter den ökonomischen, der allerdings, um mich vorsichtig auszudrücken, differenziert betrachtet gehört, denn dort, wo sie anfallen, werden die Gewinne ungeheuer sein. Und ich denke dabei nur im Vorbeigehen an die Pharmabranche, die sich am erhofften Impfstoff eine goldene Nase verdienen möchte.

Wie kann das sein? Sind denn Selbstbestimmung und Bevormundung nur zwei Seiten derselben Medaille? Setze den Menschen in Freiheit und er nimmt sie seinen Mitmenschen weg. Das ist im Prinzip richtig, aber in diesem Fall… Der führende Virologe hat, vielleicht auf eigene Rechnung, vielleicht im Auftrag Dritter, etwas getan, was ich lange Zeit nicht verstand. Er hat die Unbekanntheit des Virus, unseres Virus, auf der Vertrautheitsskala der Virologen willkürlich angehoben, er hat einen Fremden aus ihm gemacht, die unbekannte Gefahr: Wir wissen nicht, was es macht. Dieser liederliche Einfall hat die Kanäle der Furcht geöffnet, er hat den Regierungen den Spielraum verschafft, den sie benötigten, um auf ihre je spezielle Weise das Pandemie-Programm der Weltorganisation in Gang zu setzen, die große Entmündigung… Und wenn es nicht bloß ein Einfall war? Wenn ihn selbst die Furcht befallen hatte? Wovor? Hatte er sich auf Kräfte eingelassen, von deren Mitwirkung nichts in unserem Vertrag stand?

Koop-het® ist real. Wann immer einer der wenigen Forscher, die weiterhin ihren Sachverstand in die Öffentlichkeit zu tragen wagen, die Gefährlichkeit des Virus herunterzuspielen versucht, schallt ihm aus den Medien, vor allem den sozialen, in denen ausnehmend viele verbriefte Kenner der Materie unterwegs zu sein scheinen, der eine Satz entgegen: Koop-het® ist real. Wie Sie ganz richtig bemerken, wird damit jeder halbwegs Besonnene, der anmerkt: »Dieses Virus ist so schlimm wie ein anderes, lasst die Ärzte ihre Arbeit tun und beendet die Zerreißprobe für unsere Institutionen sowie die Kleingewerbetreibenden im Lande, ganz abgesehen von Künstlern und ähnlichen Nichtsnutzen«, zum Koop-het®-Leugner erklärt.

Was ist real? Das heiße Wasser, an dem ich mich verbrühe, wenn ich unvorsichtigerweise meine Hand hineinstecke? Gott? Die Strafe, die man mir androht, wenn ich auszusprechen wage, was mir angesichts einer Datenreihe durch den Kopf geht? Was an Koop-het® ist real? Koop-het® ist Information: eine Verbindung von Molekülen mit der auf Information beruhenden Fähigkeit, sich zu vermehren und die in Körperzellen gehortete Information zu deformieren, aufgespürt durch Verfahren, die geeignet sind, das Vorhandensein von Bruchstücken dieser Informationsträger in körpereigenem Gewebe nachzuweisen, soll heißen, durch lückenhafte Information, die in wissenschaftliche Berichte und behördliche Statistiken einfließt, also zu neuen und andersartigen Informationen verarbeitet wird. Informationen sind ihrer Herkunft nach interpretierbar, jedenfalls innerhalb bestimmter, nicht immer klar definierter Grenzen. Jenseits der Grenzen beginnt dann das Geschwätz, in dem alles und jedes als ›real‹ gehandelt wird. Kein Wunder, dass der führende Virologe, nachdem erste Morddrohungen gegen ihn aufgetaucht waren, die Schwätzer mit den Worten beiseiteschob: Ich habe geliefert. Wenn ihr wissen wollt, was jetzt geschieht, fragt die da.

 

19

Sogar einem eingefleischten Zivilisten mir war die kriegerische Diktion aufgefallen, in die einige an der innenpolitischen Front nicht allzu glücklich operierenden Staatenlenker ihre Shutdown-Verordnungen kleideten. Man hört dergleichen und denkt sich nichts dabei. Wenn allerdings … lassen Sie mich meine Worte mit Bedacht wählen, geben Sie mir Zeit … ich muss gestehen, dass ich in dieser Art von Überlegungen nicht fit bin … wenn die noch immer führende Weltmacht eine Armada ans andere Ende der Welt ins Manöver schickt und dies mit der Begründung, sie beabsichtige auf diese originelle Weise, ihre Soldaten der Gefahr, durch Zivilisten angesteckt zu werden, zu entziehen, dann fragt sich ein unbescholtener Zeitungsleser doch, um welches Ende der Welt es sich dabei handelt und ob dort nicht am Ende … sagen wir, Chi liegt, das Land des Lächelns, dessen Tote das Rad der Maßnahmen in Gang gesetzt haben und dessen Gebietsansprüche seit Jahren die Region in Unruhe halten – dasselbe Land, dessen, sagen wir: rigoroses Vorgehen gegen die Seuche die Lieferketten der Weltwirtschaft unterbrochen und damit just im Wahljahr unter den Anhängern des Präsidenten Arbeitslosigkeit ohne Ende gesät hat, die anschließend von den Provinzstatthaltern der führenden Weltmacht, soweit sie der oppositionellen Partei angehören, durch die von ihnen ergriffenen Maßnahmen … manche Kritiker behaupten: künstlich … ich merke, ich muss vorsichtig sein, theoretisch könnte jedes Wort, das hier fällt, bereits als Einmischung in den dort tobenden Wahlkampf … zwar handelt es sich bei mir, wie Sie unschwer bezeugen können, um keine auswärtige Macht, aber in Zeiten von Big Data… Zieht irgendwo Krieg auf, dann verfärbt sich der Hintergrund der allgegenwärtigen Phrasen und die Schatten der Großen Konfrontation fallen auf die kleinen Begebenheiten des Alltags, so unscheinbar sie im Einzelnen sein mögen. Wenn Chi nicht liefern kann, stockt die Welt. Wenn die Welt stockt…

Wie gesagt, Vorsicht, gepaart mit Um-, Rück- und Nahsicht, ergänzt um Insiderwissen, über das ich mitnichten verfüge, ist nicht nur diesen Vorgängen gegenüber am Platz, die wenig zusammenhängenden Raum in der Berichterstattung unserer Medien finden, sondern auch in Bezug auf andere mehr oder weniger rätselhaften Ereignisse, so den von unserem führenden Virologen umgehend als ›Quatsch‹ zurückgewiesene Vorstoß eines französischen Provinz- …Nobelpreisträgers, der Beweise vorzulegen behauptete…

– Sie verfügen über eine eigene Art, meine Mitmenschen, einen der ihren, der gerade beschlossen hat, den Mund aufzumachen, weil ihn ein Gedanke juckt, ein Verdacht vielleicht, ›eine Information zu viel‹, wie der passende Ausdruck lautet, zum Schweigen zu bringen: diesen wässrigen Blick, der weder Nah- noch Fernsicht zu kennen scheint, die Atempause, das Scharren der Füße… So auch mein Sohn, mit dem ich diese Dinge besprechen wollte. Auch du, Brutus! Was blieb mir anderes übrig, als ihn laufen zu lassen, wohin es ihn trieb, vorerst hinaus auf die Plätze, auf denen gerade eine Weltneuheit Premiere feierte: die Marabu-Demonstration für Freiheit, Menschenrechte und gesunde Ernährung. Einige unter Ihnen lachen bereits. Demnach wissen Sie also Bescheid. Ferienunternehmer haben an Nord- und Ostsee Marabu-Strände abgesteckt und durch Kreise markiert: ein Kreis pro Urlauber, mit hinreichend Meditationsraum in alle Himmelsrichtungen. Abends betrachtete ich meinen Sohn im Fernsehen, ein Polizist hatte ihn auf dem Boden liegend fixiert und legte ihm Handschellen an, anschließend schwenkte die Kamera auf eine schwarz gekleidete, resolut in ihrer Zerbrechlichkeit wirkende alte Frau, halb gedrängt, halb gezogen von zwei Gesetzeshütern … wohin?

… Beweise, dass dieses Virus ›mit hoher Wahrscheinlichkeit‹ künstlich in einem Labor scharf gemacht worden war – er hatte also wohl unser kleines Geheimnis entdeckt –, allerdings (da wurde ich hellwach) in einem Labor, das, wie er ausführte, der biologischen Kriegführung jenes fernen Landes zuarbeitete – eine Information, die der Präsident der führenden Weltmacht zum lebhaften Missfallen aller Demokraten bereits Tage zuvor ›unbelegt ausposaunt‹ hatte. Ich fischte mir den Bericht aus dem Netz und fand ihn, soweit mein Laienverstand ihn durchdringen konnte, keineswegs unplausibel. Was war daran Quatsch? Es war nur … besorgniserregend. Kurze Zeit später entdeckte ich, diesmal auf der Publikationsseite einer asiatischen Universität, eine weitere Studie, angefertigt von einer Forschergruppe, die niemand aus meiner Umgebung kannte und die den ›Quatsch‹ bestätigte, allerdings mit einer Ergänzung, angesichts derer ich den Mund aufsperrte wie ein Neugeborenes: Ihr zufolge hatte das Virus bereits eine mehrjährige Mutationsreise durch den menschlichen Organismus hinter sich, war also für ihn ein alter Bekannter – was die relative Harmlosigkeit erklären konnte, aber für mich die Frage aufwarf…

– Wo war mein Sohn? Wohin hatte ihn die Staatsmacht gebracht? Verzeihen Sie die Unruhe eines Vaters. Die Frage war wichtig, sie duldete keinerlei Aufschub. Ich beschloss – Sie können sich denken, was ich beschloss, aber ich sag’s Ihnen trotzdem –, ich beschloss, den führenden Virologen aufzusuchen. Ich beschloss, sage ich, denn zwischen Beschluss und Ausführung liegen gelegentlich … Durststrecken, wollte ich sagen. In der Anstalt hieß es, er sei abgetaucht und wünsche nicht, dass ihm jemand folge. Ich fand ihn … ja, ich fand ihn … wie damals in seiner Villa, seine Hand fuhr klimpernd, wie damals, über eine Gitarre, er sagte auch nicht »Was wollen Sie?« oder dergleichen, sondern: »Nimm einen Schluck.« Dann redete er so, wie er immer geredet hatte: frisch von der Leber weg.

Verschwörung? Quatsch. Es war gelaufen wie immer. Die Kollegen aus Chi hatten ein neues Virus hereingereicht, nicht in corpore, sondern in effigie, als Datensatz, er habe ins Regal gegriffen und eine vorhandene Test-Schablone herausgeholt, sie anzupassen sei eine Sache von Tagen gewesen, im Grunde reine Routine, doch habe er dabei immer an unsere Abmachung denken müssen, denn dieses Virus … dieses Virus … verdammt nah sei es an dem dran gewesen, was ich mir vermutlich in meinem munteren Laien-Gemüt vorgestellt hätte, näher jedenfalls als alles, was ihm bis dahin untergekommen sei. Also habe er das Projekt mit einem roten Ausrufezeichen markiert und seine Kontakte zur Politik spielen lassen. Es sei auch zu einem ersten Austausch über die Sache gekommen, auf Sachbearbeiter-Ebene, nichts Aufregendes, doch plötzlich sei Feuer im Busch gewesen, der Test sei weggegangen wie… So etwas, nein, habe er zuvor nie erlebt, eine wirklich innovative Situation. In jenen Tagen sei sein Gesicht populär geworden, heute kenne es ja jedes Kind, um nicht zu sagen, jeder Hund, zuvor habe er gar nicht gewusst, wie gut sich sein Gesicht für diesen Job eigne, richtig Spaß habe es gemacht, den Leuten aus dem Aufnahmestudio heraus zu verklickern, wie sie sich solch eine Epidemie – anfangs sprach noch niemand von einer Pandemie – vorstellen sollten und was sie tun könnten, um sich dagegen zu schützen. Um ein Haar hätte er darüber den Kontakt zur Wissenschaft verloren, in der das große Rennen bereits begonnen hatte.

Aber das wusste ich doch alles –

Dann habe jemand, ein Kollege in England, aber das könne ein Strohmann gewesen sein, zu hoch gepokert –

Na endlich. Die Sache mit den Millionen zu erwartender Toter … wo kam das eigentlich her?

Keine Ahnung. Er jedenfalls habe dem Ball flach halten wollen, doch seine Gesprächspartner in der Politik hätten von ihm verlangt, er solle den Tiger reiten. Also habe er Du Bois-Reymonds nachgerade klassisches Ignoramus herausgeholt: Wir wissen noch gar nicht, wie dieses Virus wirklich beschaffen ist und was es auslösen kann – einen Satz, der immer berechtigt sei und im Grunde eine schiere Selbstverständlichkeit, leider nicht für seine politischen Freunde, denn in der Politik, in der Politik … bezeichne dieser Satz, das habe er in jenen Tagen schmerzhaft lernen müssen, den Feind, gegen den jedes Mittel in Erwägung zu ziehen sei. Das sei schon eine andere Ebene gewesen – Ausnahmezustand, Seuchenrecht, Bundespolizei, Aussetzung von Verfassungsartikeln, richtig die Muffe sei ihm dabei gegangen, vor allem, als er merkte, dass alles, psychologisch und irgendwie dann auch rechtlich, an ihm hängenbleiben würde, weil irgendjemand die Angemessenheit der ergriffenen und zu ergreifenden Maßnahmen verbürgen sollte … und zwar … von Tag zu Tag –

Ja, mein Sohn, die Ratte, sei zwischendurch bei ihm aufgetaucht und habe ihm Vorstellungen gemacht, eigentlich, so weit er sich erinnere, weniger finanzieller als moralischer Art, er sei erregt und schwer zu verstehen gewesen, vielleicht habe er selbst dann der ihm neuerdings zugeteilten Security eine Spur zu deutlich zu verstehen gegeben, er werde von einem Psychopathen verfolgt, keine Ahnung, er fühle sich jetzt auch nicht schuldig, die Situation sei schließlich sehr angespannt gewesen und belastend für alle Beteiligten.

 

20

Was unterscheidet den Menschen von der Tapete, vor deren Hintergrund er sich abzeichnet? Ich frage Sie ernsthaft, nicht etwa aus einer Laune heraus. Ich habe lange über diesen Punkt nachgedacht und stelle fest, dass ich den Knoten allein nicht lösen kann. Ich denke mir, irgendworin muss sie doch bestehen, die Menschheitsaufgabe, die bloß alle zusammen lösen können, alle Individuen zusammengenommen, jeder Einzelne, und hier, hier ist sie: Helfen Sie mir, ich bitte Sie, helfen Sie sich selbst, denn das müssen Sie doch, ich kann Ihnen da gar nicht behilflich sein, jedenfalls nicht ohne Ihre Beihilfe. So sieht’s aus.

Dieses Fremde, dieses ganz und gar Fremde – das interessiert mich. Das Virus hat es aus uns herausgekitzelt, aus Ihnen, aus mir, der führende Virologe hat es mir bestätigt, es kann jetzt nicht mehr zurück in die Versenkung, aus der es kam. Können Sie mir folgen? Versenken Sie sich in Ihr Inneres und Sie finden unser Virus. Ich will gar keine Eigentumsrechte anmelden, es tut mir leid, dass ich eingangs den Eindruck erwecken musste, es handle sich um meine Erfindung. Das ist nicht der Fall. Versenken Sie sich! Ich gebe Ihnen ein, zwei Minuten Zeit, vielleicht auch drei, aber das ist dann … wo wollen Sie hin? Freunde, wo wollen Sie hin? Wir haben Zeit, hören Sie, alle Zeit der Welt, diese Sache muss einmal ausdiskutiert werden, heute wäre ein guter Tag dafür … bleiben Sie … bleiben Sie…

 

Notizen für den schweigenden Leser

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