Man hat sich angewöhnt, die kulturelle Moderne als eine groß angelegte Erkundung der wissenschaftlich-technisch-industriellen Welt zu betrachten, die zunächst in den Staaten Westeuropas und Nordamerikas Gestalt gewann, um schließlich, sprunghaft und von Katastrophen unterschiedlichen Ausmaßes begleitet, den Planeten zu überziehen. Dabei wird leicht übersehen, dass diese Erkundung eine Anpassungsleistung erster Güte einschließt. Die überlieferten Instrumente der Selbst- und Weltvergewisserung wurden einer gründlichen Revision unterzogen, deren Ergebnisse weitgehend davon abhingen, ob und wieweit jene Instrumente sich als tauglich erwiesen, den Gegebenheiten einer künstlichen, gewissen Strategien des kalkulierenden Intellekts entsprungenen Welt und den in ihr sich entwickelnden Lebensformen Rechnung zu tragen. Diese Welt war artifiziell, aber nicht rational. Sie erschien nicht als Resultat eines ausgeklügelten Planes, sondern als Ergebnis einer Vielzahl einander widersprechender und durchkreuzender Ambitionen, die offenbar eines gemeinsam hatten: das sich in ihnen bekundende, zutiefst defizitäre Verständnis der Natur des Menschen und seiner natürlichen Lebensgrundlagen. Die Folge war, dass die Akkomodierung der subtileren Geistesgewohnheiten an die moderne Welt nicht zu weit getrieben werden durfte, sollte sie nicht ihr Ziel entschieden verfehlen, dem einzelnen seine Welt in den ihn betreffenden Aspekten auf suggestive Weise zu übereignen, wenn sie sie ihm schon nicht durchsichtig machen konnte.

Um 1850 sind die neuen Lebensformen in Ländern wie England und Frankreich so weit ausgeprägt, dass bis dahin denkbare Zweifel an der insgesamt kritischen Tendenz der in den Künsten und einer politisch-ästhetisch-philosophischen Publizistik sich formenden kulturellen Moderne beiseitegelegt werden können. Das Leiden an den neuen Lebenswelten gilt seither als ihre Geschäftsgrundlage. Man könnte daraus folgern, die erstrebte Anpassung sei bereits im Ansatz gescheitert. Eine solche Einschätzung wäre nicht nur ungerecht, sie wäre auch voreilig. Denn so, wie sich die kulturelle Moderne als eine Agentur des modernen Bewusstseins verstehen lässt, das sich in der selbstgeschaffenen Welt einzurichten wünscht, ist sie von Anfang an unterschwellig mit den primären Motiven der ›lebensweltlichen‹ Moderne im Bunde. Wie könnte es anders sein? Schließlich fallen beide unter ein und dieselbe Kulturentwicklung, die sich in Denken, Handeln und Fühlen als zwar different, aber nicht völlig diskret zu erkennen gibt. Das verleiht auch dem Einspruch gegen den Geist der Moderne, wie er von den Wortführern des unglücklichen Bewusstseins vorgetragen wird, seine besondere Note. Er ist – im lebensweltlichen Zusammenhang – immer schon angenommen und abgelehnt. Er gilt als legitimer Ausdruck des unglücklichen Bewusstseins, das sich so und nicht anders als das moderne Bewusstsein erfährt und erfahren will. Es darf nicht einverstanden sein, sonst wäre es nicht es selbst. Es darf zwar seine Selbsterlösung betreiben, aber nicht zu weit; das Koordinatensystem muss intakt bleiben. Dass das ›einfache Leben‹ keinen wirklichen Ausweg bietet, diese Überzeugung nistet so tief in den Idiosynkrasien des modernen Bewusstseins, dass sie sich am Ende nur durch das Bedürfnis nach Selbsterhaltung, nach Wahrung der überkommenen Identität erklären lässt. Die Flucht in die Ideen, soweit sie zum Grundbestand der Moderne gehören, ist die Flucht des modernen Bewusstseins vor sich selbst, getrieben von der panischen Furcht, sich abhanden zu kommen.

 

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